Das sind Leute, die Derrida, Foucault und ihre „postkolonialen“ Epigonen studiert haben, aber nicht wahrnehmen können, wo gerade die „Dispositive der Macht“ liegen – nämlich bei ihnen selbst.
Soeben beende ich einen Beitrag für die Druckausgabe der Sezession, in dem ich das fünfzigjährige Erscheinen der beiden großen linken Theoriebücher Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord und Jacques Derridas Grammatologie 1967 in ihrer Wirkung auf die Neue Rechte ein wenig würdige.
Da spült mir der Zeitgeist einen Text aus der ZEIT und ein Stern-Interview mit der Schriftstellerin Juli Zeh zu. Das trifft sich günstig, werde ich doch in dem 1967-Beitrag konstatieren, daß die Lektüre der linken französischen Poststrukturalisten sowohl bestes Material zur Metaphysikkritik des ihrerseits heute hegemonial gewordenen linken Diskurses bereithält, als auch die interventionistischen Aktionsformen der „Konservativ-subversiven Aktion“ und der Identitären Bewegung theoretisch begründet.
Vielleicht klappt das, was Derrida die „Dekonstruktion“ nannte, nämlich Texte dabei zu beobachten, wie sie sich zerbröseln, auch mit Texten, die selber aus dem akademischen Poststrukturalismus kommen.
Auf den Versuch kommt es an. Der Berliner Soziologieprofessor Sérgio Costa hat sich in der ZEIT das „kulturelle Argument“ der AfD vorgenommen (9. November 2017), auf das ja jetzt alle einstiegen. Das „kulturelle Argument“ besagt in etwa das, was man im angelsächsischen Raum Identity politics nennt, mithin daß partikulare „Kulturen“ ein Anrecht auf Bewahrung und Erhalt haben, so eben auch die deutsche Kultur.
Der Kulturbegriff von Alain de Benoist geht von einem neuen „Nomos der Erde“ aus, in dem multipolare Kulturen
die alten (lokalen, stammesspezifischen, regionalen und nationalen) Verwurzelungen nicht abschaffen: Sie werden sich dagegen als die letzte kollektive Form durchsetzen, mit der sich die Menschen diesseits ihres gemeinsamen Menschentums lieber identifizieren werden. (Manifest: Die Nouvelle Droite des Jahres 2000).
Dies muß ich voranschicken, weil im Verlauf des Textes Costa inhaltlich nichts sagt über den Kulturbegriff, den er für gefährlich hält. Ich vermute also bloß, daß Benoist und ein nicht näher bestimmter Partikularismus des „je Eigenen der Kulturen“ vorausgesetzt werden.
Soweit also das der AfD zugeschriebene substantielle Kulturargument. Schon beginnt der Text, gegen sich selber zu arbeiten, denn der erste Streich ist der Klassiker, die AfD würde „die Spaltung der deutschen Gesellschaft vorantreiben“ (inzwischen ärgerlicherweise auch noch parteienfinanziert). Seltsam, wenn sie einen identitären Kulturbegriff hat, der von „den Deutschen (über Abstammung definiert, versteht sich)“ ausgeht, daß ausgerechnet sie die Spaltung der Deutschen betriebe.
Lichtmesz-Sommerfeld’s law besagt, daß Linke immer und ausnahmslos ihre eigenen Denkstrukturen, Muster und Modi operandi auf ihre Gegner projizieren. Legt man unser unumstößlich gültiges Gesetz auch an diesen Text an, keimt der Verdacht, wer hier der Spalter ist. Sehen wir weiter.
Nächstes Kulturargument: es gibt empirisch eh keine.
In Sachsen, sowie in Regionen, in denen die AfD gut abschnitt, haben wir es meistens mit ausländischen und deutschen Familien zu tun, die im selben Haus leben, im selben Discounter einkaufen, ähnliche YouTube-Videos liken und sich abends die gleichen Serien bei Netflix oder die gleichen Reality Shows auf ProSieben anschauen. Nennenswerte kulturelle Unterschiede existieren hier einfach nicht.
Am Nullpunkt der Dekadenz gibt es in der Tat keine Kultur. Ergo auch keine Unterschiede, ergo auch keinen Grund, irgendeine Kultur auch nur erkennen zu wollen, geschweige denn erhalten oder retten. Womit die AfD erledigt wäre und mit ihr ihr „kulturelles Argument“. Doch der Text fräst sich noch weiter in seine eigenen Voraussetzungen hinein.
Die patriotischen ‘kulturellen’ Motive der AfD haben mit Kultur, wie der Begriff in den Kultur- und Sozialwissenschaften heute verstanden wird, kaum etwas gemeinsam.
Na, dann kann die AfD ja einpacken, weil sie es nicht auf die Höhe der poststrukturalistischen Theorie gebracht hat, derzufolge „die Konstruktion eines ‘Wir’ Fremdzuschreibungen, also die gleichgeschaltete Konstruktion eines (in der Regel unterlegenen) Anderen voraussetzt.“ Ein solcher Kulturbegriff hat eine rein destruktive Funktion: zu entlarven, wie die (willkürlichen und daher latent gewaltförmigen) Ausschließungsmuster einer Gruppe funktionieren.
Auch bei der AfD funktioniere es so, daß durch Ausschließungen der „Anderen“ das „Wir“ in einer „symbolischen Machthierarchie aufsteigen“ könne. Es ist nichts als fremdzugeschriebenes, konstruiertes, symbolisches Othering zum Zwecke des Machtgewinns, was wir früher mal stolz Kultur zu nennen wagten.
Halten wir fest: erstens steht und fällt die AfD mit dem Kulturargument, zweitens gibt es gar keine Kultur (nur noch One-world-Konsumgleichheit), und drittens ist Kultur ein bloß konstruierter Machtdiskurs.
Projizieren wir mal zurück: erstens steht und fällt die postkoloniale und poststrukturalistische Soziologie mit dem „Kultur“argument, zweitens produziert der linke Machtdiskurs selber die Aushöhlung und Zerstörung der Kultur und macht sich drittens dann über die darniederliegenden Überreste her und triumphiert: Haben wir’s doch gleich gesagt, Kultur, soll das da – angeekelt auf Netflix, Discounter und ProSieben zeigend – etwa Kultur sein? Na sehen Sie!
Richtig dekonstruktivistisch und diskursanalytisch wird es aber erst, wenn Macht ins Spiel kommt. Bei Derrida (und in seiner Folge dann prominent bei Judith Butlers Hate-speech-These) ist Sprache immer schon strukturelle Macht.
Diese Stellvertretung besitzt immer die Form des Zeichens. Daß das Zeichen, das Bild oder der Repräsentant zu Kräften werden, mit deren Hilfe ‘die Welt’ in Bewegung gesetzt wird, das ist der Skandal.
Hinter dem „kulturellen Vokabular“ der AfD verbirgt sich nichts anderes als das „Fundament der eigenen Macht“, die draufgeschriebene Verteidigung der deutschen Kultur ist nur Zeichenoberfläche. Doch was Costa (in einem Akt der Machtausübung) hineinkonstruiert, dekonstruiert sich ganz von selbst wieder heraus.
Costa schreibt „deutsche“ in Anführungsstrichen, ich schreibe „kulturelles Vokabular“ in Anführungsstrichen, denn ich zitiere ja bloß, ich brauche ihn gar nicht zu kritisieren, das tun die Zeichen für mich (Schmankerl für Derridisten: die Signifikanten verweisen auf ihre Grammatik und lösen sie damit auf).
Machen wir die Gegenprobe mit unserem Projektionsgesetz: wer hat hier die „Deutungsmacht“? Costa tut so, als wäre diese aufseiten der AfD konzentriert, bilde gar deren „Fundament“, während er selber von der gesicherten Machtposition des FU-Lehrstuhlinhabers und ZEIT-Autors aus spricht, die einem AfD-Anhänger verwehrt bleibt.
Dem anderen Macht zuzuschreiben ist, um in seinem Frame zu bleiben, eine Konstruktion, die die eigene Macht verschleiert. Haargenau so, wie die AfD angeblich den „‘unkontrollierten Ausländern’ und den ‘wilden Flüchtlinge’, die angeblich den deutschen Staat und die deutschen Familien ausplündern wollen“, Macht zuschreibt, tut das der Autor mit der AfD, die die „Spaltung der deutschen Gesellschaft“ qua „Ermächtigungsdispositiven“ und „virilem Machtdiskurs“ vorantreibe.
Der Poststrukturalismus hatte das „Subjekt“ erledigt, durchgestrichen und als abendländische Metaphysik verabschiedet. Costa subjektiviert dafür aber gehörig! Das „Gefühl persönlicher Bedeutungslosigkeit“ des „kleinen Mannes“ (der sich durch die „virilen“ Plakate der AfD selbst ermächtigt) ist Dreh- und Angelpunkt seiner These.
Wenn er am Schluß nichts anderes zu fordern weiß, als „demokratische Auswege aus dem Gefühl von Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit“ aufzuzeigen, hat er sich – inzwischen wird es fast schon gemein, wieder mit dem Projektionsgesetz auf ihm herumzuhacken – dekonstruiert zu dem Subjekt mit ausgeprägtem „Gefühl von Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit“, das er seit nie wieder sein wollte, seit er „poststukturalistisch geschult“ wurde.
Irgendwann radikalisiert man sich wahrscheinlich. Ich bin jetzt nicht direkt für den Molotowcocktail. Aber vielleicht kommt es zu einer rhetorischen Radikalisierung. Dann könnte ich nur noch sagen: ‘Ihr Neurechten seid blöde Schweine.’
Juli Zeh gibt dem Stern ein Interview (Nr. 46 vom 09.11.2017 – Seite 48), in dem sie über ihren neuen dystopischen Deutschlandroman Leere Herzen erzählt, und von ihrem Neueintritt in die SPD („Das war einerseits eine Art Trotzreaktion gegenüber dieser Politikverachtung. Und es lag an der Person Martin Schulz. Ich finde den toll.“). Leere Herzen spielt in den 2020er Jahren, ein AfD-Lookalike namens „Besorgte Bürger Bewegung“ hat die Bundestagswahlen gewonnen.
Zeh verhält sich im Interview so („mit dem Kopf gegen die Wand gerannt plus Brechreiz“) , als wäre ihr Gruselszenario bereits nach der heurigen Wahl Wirklichkeit geworden. Man ist geneigt, Zehs Reaktion für ein reines Diskursphänomen, für „die Konstruktion eines ‘Wir’ (derer, die für den „zivilisatorischen Fortschritt“ sind), das „Fremdzuschreibungen, also die gleichgeschaltete Konstruktion eines (in der Regel unterlegenen) Anderen voraussetzt“ zu halten.
Und damit liegt man goldrichtig. Der linke Diskurs ist selber die irreale Machtkonstruktion, die er seinem rechten Gegner unentwegt unterstellt. In ihm ist – da haben die „postkolonialen“ Theoretiker etwas über sich selber herausgefunden – strukturell angelegt, daß die Gewalt der Zeichenketten irgendwann in Realität umschlägt und sich doch „direkt für den Molotowcocktail“ entscheidet statt für Martin Schulz.
Johannes Konstantin Poensgen
Ich muß zugeben, daß ich von Derridada nie mehr gelesen habe, als einen Pflichttext im Grundstudium. Nach ihrer Schilderung frage ich mich aber ernsthaft, ob der ganze Poststrukturalismus wirklich nicht mehr zu bieten hat, als die Banalität, daß Wahrnehmung auf Differenz beruht (und sei es nur die zwischen Subjekt und Objekt). Das wäre dann doch zu primitiv.