Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biographie, München: C.H. Beck 2016. 983 S., 73 Abb., 34.95 €
Wolfram Siemanns Metternich-Biographie ist nicht nur ein Opus magnum von magistralen Ausmaßen, sie kann auch auf detaillierte Archivstudien, unter anderem in Prag und Wien, zurückgreifen und hat Aspekten Beachtung geschenkt, die bisher weitgehend übersehen wurden. Metternichs konzeptionelles Denken, sein Grand Design wird dabei besonders herausgearbeitet. Siemann schreibt allerdings ständig, und mitunter geradezu verbissen, gegen die noch immer einflußreiche Darstellung von Heinrich von Srbik an.
Dies kommt der Souveränität seines Werkes nur bedingt zugute. Srbik sah die Schwäche Metternichs vor allem in der Verkennung der Nationalitätenfrage. Demgegenüber betont Siemann, daß Metternich in übernationalen, imperialen Kategorien gedacht habe. Nationen hätten in dieser Konzeption, sowohl beim Wiener Kongreß als auch in der späteren Sicherheitspolitik, durchaus eine Rolle gespielt, jedoch nicht als Sprach- und Abstammungseinheiten, sondern primär als Rechtsgemeinschaften. Eindrucksvoll arbeitet Siemann die rationale Prägung Metternichs heraus. Sein am frühneuzeitlichen Gleichgewichtskonzept orientiertes Denken gewann demnach bereits früh und dank seiner Mainzer und Straßburger Studienzeit Konturen.
Bemerkenswert ist auch, daß der junge Metternich zum Antritt seiner jeweiligen Gesandtschaftsposten in Dresden bzw. Berlin umfangreiche Denkschriften vorlegte, die sowohl die geostrategischen als auch die historischen Prägungen eindrucksvoll analysieren. Stark ist Siemann dort, wo er die Affinität Metternichs zum britischen Konzept Europas und insbesondere die große Übereinstimmung mit Castlereagh würdigt. Er macht zudem deutlich, daß Metternich aus einer bedeutenden Familie stammte, die allmählich in die Beletage des Adels aufstieg. Lange interagierte der Fürst, der als erster die Spitze der Rangpyramide erreichte, eng mit seinem Vater Franz Xaver.
Strukturgeschichtliche Querschnittkapitel über Metternichs Verhältnis zu Krieg und Frieden mit eindrücklichen Äußerungen zu den Schrecken des Krieges, das enge Netzwerk mit verschiedenen Mätressen und Freundinnen, denen er sich in seinen Briefen erstaunlich öffnete, aber auch über Metternich als privaten Unternehmer erweitern das Spektrum. Gerade hier erliegt Siemann bei aller prosopographischen Detailkenntnis aber immer wieder falschen Aktualisierungen und macht sich teilweise unkritisch und schab-lonenhaft Genderperspektiven zu eigen. Die glanzvolle Sprache der Metternich-Briefe, das Wissen um die Unwägbarkeit des Daseins und die Zuflucht zu einer nur vernünftigen Religion kontrastieren eher hölzerne Kommentare des Historikers.
Merkwürdig blaß bleibt Bonaparte als großer Gegenspieler: Er erscheint als wankelmütiger Charakter, zwischen Taktlosigkeit, Beleidigung und Schmeichelei schwankend. Zwischen Metternich und ihm zeichnete sich indes eine Verbindung ab, die das alte Diktum vom Feind, der die eigene Frage als Gestalt ist, rechtfertigt.
Nüchterner operiert Siemann in der politischen Analyse. Er macht sich das Diktum zu eigen, daß die napoleonischen Kriege faktisch Weltkriegscharakter gehabt hätten. Er zeigt das taktische Geschick Metternichs, die Quadrupelallianz zusammenzuhalten. Zugleich rekonstruiert er eindrucksvoll die Umrisse der Wiener Ordnung und der Reorganisation der Gesamtmonarchie bereits in der frühen Botschafterzeit. Durch sieben Epochen reichte nach Siemanns Darstellung das Leben Metternichs. Bis zuletzt war er, entgegen manchen Vorurteilen, fähig, auf veränderte Situationen zu reagieren. Siemann betont entgegen der berühmten Sottise vom »tanzenden Kongreß« die hohe Effizienz der Verhandlungen und den Ernst der Sache: die Generationenerfahrung von Krieg, Not und den daraus hervorgehenden vulkanischen Tendenzen.
Entschieden zuwenig Verständnis bringt der Biograph für die nationale Frage auf. Es ist sein gutes Recht, den Fanatismus und Gesinnungsterrorismus des Kotzebue-Attentäters Sand kritisch zu glossieren. Doch kontrapunktisch sollte man auch die Grenzen des dynastischen Prinzips und nicht zuletzt die Grenzen von Metternich selbst in den Blick nehmen. So korrigiert diese Biographie manche Fehlurteile der Vergangenheit, kommt aber selbst nicht ohne Fehlurteile oder zumindest Einseitigkeiten aus.
Wie bei vielen Großen wurde auch Metternichs Tod von den Zeitgenossen als »Fortziehen der alten Zeit« verstanden. Dies relativiert doch die teilweise fast hagiographischen Züge dieser Biographie und ihre Vereinnahmung Metternichs als des »Postmodernen aus der Vormoderne«. Mit solchen Epitheta bleibt Siemann unter seinem Niveau.
Diese erste umfassende Metternich-Biographie nach neunzig Jahren besticht gleichwohl durch ihren global geopolitischen Blick und ihre hervorragende Quellen- und Literaturkenntnis. Große Geschichtsschreibung ist sie schon stilistisch nicht, und ihre Zeitbedingtheit aus antinationalem Affekt wird vermutlich von einem Späteren genauso korrigiert werden, wie Siemann Srbik korrigierte.
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