Was er trieb, erlitt, bedachte, anrichtete und rechtfertigte, ist nicht mehr anstößig, sondern wird wie eine exzentrische, spannende Lebensentscheidung wahrgenommen. Die von ihm stammende Beobachterformel »Dies alles gibt es also« läßt sich längst auf den Umgang der Kritik unserer Tage mit ihm anwenden: Man darf so gelebt haben wie Jünger, man darf sich so geäußert haben, mehr: Man möchte diesem Leben in Todesnähe, dieser von Büchern, Notizen, Käfern, Träumen, Wunden umstellten Existenz naherücken, möchte über sie sprechen können wie über einen seltsamen, recht seltenen, jedenfalls längst mit Nadeln fixierten Käfer. Es ist da eine Aura des Exklusiven, eine Hierarchie des Geistes, die in einer auf die Gleichberechtigungsposaune eingestimmten Trockenheit wirkt wie eine Zisterne.
Natürlich: Uns gefallen die wilden Pamphlete und die Demonstrationen vor der Paulskirche aus dem Jahre 1982 besser, als Jünger den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt erhielt und noch für so faschistisch galt, daß die Studenten ihn nicht dulden wollten. Das Interview, das Rudolf Augstein, Hellmuth Karasek und Harald Wieser damals mit Jünger für den Spiegel führten, gehört zu den berühmten der seltenen Äußerungen Jüngers.
Zisterne jedenfalls: »Ein Jünger-Wort«, notierte Erhart Kästner in seiner Stundentrommel vom heiligen Berg Athos, und uns wird während der Lektüre der Gespräche im Weltstaat klar, woraus wir schöpfen dürfen und was wir diesem Kopf alles verdanken an Wörtern, Wendungen, Haltungen, Sehschulen. Der von den Germanisten Rainer Barbey und Thomas Petraschka sehr sauber herausgegebene Band vereint Interviews und Dialoge mit Jünger aus den Jahren 1929 (als die Kriegsbücher vorlagen und Das Abenteuerliche Herz gerade erschien) bis 1997 (dem Jahr vor seinem Tod). Manche davon sind legendär (das erwähnte Spiegel-Gespräch ganz sicher), manche konnte und kann man in den digitalisierten Beständen deutscher Bibliotheken auffinden – insgesamt aber nimmt uns die Zusammenstellung viel Rechercheaufwand ab und fördert Unzugängliches zutage.
Dazu gehört das eine der beiden längsten der in diesem Band versammelten Gespräche. Der französische Germanist und Jünger-Übersetzer Julien Hervier führte es zum 90. Geburtstag Jüngers im Jahre 1985, und es ist in seinen zwölf Teilen einer autobiographischen Rechenschaft in Gesprächsform. Hervier fragt unkritisch und fordert zu epischen Antworten auf, läßt also erzählen, während – um ein Gegenbeispiel zu erwähnen – der für seine Direktheit oder sogar Unverfrohrenheit bekannte Interviewer André Müller ganz und gar keine »Dichtung und Wahrheit« hören will, sondern die Klingen kreuzt (1989).
Das andere umfassende Werk- und Lebensgespräch stammt aus dem Jahr 1995, es war unter dem Titel Die kommenden Titanen zunächst bei Karolinger erhältlich und ist nun in diesen Band aufgenommen worden. Darüber hinaus gibt es eitle Gesprächspartner, Curt Hohoff etwa, der als Fragesteller bald mehr Anteile hat als Jünger und irgendwie ständig erklärt, was er zu hören wünscht; mit dem französischen Publizisten und Übersetzer Frédéric de Towarnicki sind drei Gespräche abgedruckt, darunter ein sehr wichtiges aus dem Jahr 1991 mit dem Titel »Der Blick des Besatzers«, und eine Stellungnahme, die sich gegen die Arroganz und die politische Kritik eines Günter Grass richtet und sie als Ungezogenheit von französischen Gepflogenheiten abgrenzt.
Nein, keine Frage: Dieses Buch ist empfehlenswert, auch wenn es der Historisierung Jüngers weiter Vorschub leistet und ihn noch nahbarer macht. Aber vielleicht sollte man sich selbst korrigieren, vielmehr: das eigene Jünger-Bild. Der gab nämlich im Gespräch mit Hervier zu Protokoll, daß ihn Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum wohl stärker inspiriert habe als jedes andere Buch. Denn aus ihm leitete er die Figur des Anarchen ab, also aus dem Satz: »Mir geht nichts über mich«. Das könnte, stünde es bloß so da, auch ein postmoderner Hipster unterschreiben. Aber zum Glück hat der Gesprächsband über 500 Seiten.
Ernst Jünger: Gespräche im Weltstaat. Interviews und Dialoge 1929 – 1997. Herausgegeben von Rainer Barbey und Thomas Petraschka, Stuttgart: Klett-Cotta 2019. 574 S., 45 € – hier bestellen