Wenn wir uns heute in Deutschland auf die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner machen, kommen wir auch am Grundgesetz vorbei. Parteiübergreifend finden wir hier den Konsens, den man nicht ungestraft aufkündigen darf.
Wer es dennoch tut, muß damit rechnen, vom öffentlichen Leben ausgeschlossen und im privaten Kreis geächtet zu werden. Der Vorwurf der Verfassungsfeindschaft »definiert den Betroffenen aus der Gemeinschaft heraus, die sich nicht als staatliche, sondern als verfassungsmäßige Gemeinschaft versteht, als Einheit nicht der deutschen Bürger, sondern der Bürger des Grundgesetzes«.
Mit diesen Worten beschrieb der Staatsrechtler Josef Isensee vor mehr als dreißig Jahren, was sich heute als Wirklichkeit nicht mehr verbergen läßt, weil es einfach zu viele betrifft. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die ständige Umschöpfung und Veränderung, der das Grundgesetz unterworfen ist. War den Schöpfern klar, in wessen Namen sie das Grundgesetz formulierten, nämlich im Namen des deutschen Volkes, soll dieses deutsche Volk heute kein Verfassungssubjekt mehr sein.
Damit einher geht die Verfolgung derjenigen, die auf dem alten Konsens beharren und im verordneten Universalismus nicht das politische Minimum erblicken. Damit ist auch klar, daß das klassische Minimum einer jeden Politik, die »Erhaltung und Emporzüchtung der eigenen Art« (Max Weber), gegenwärtig keine Gültigkeit mehr besitzt.
Das Minimum ist, auch wenn es den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellt, keine absolute Größe, sondern immer von der konkreten Lage, der Situation abhängig. Joachim Fernau hat in seinem Sprechen wir über Preußen eine schöne Formel dafür gefunden. Vor dem Hintergrund der seit Ende des Zweiten Weltkriegs üblichen Ablehnung Preußens als undemokratischen Militärstaat müsse es wie ein Wunder erscheinen, daß die seinerzeit in Frankreich verfolgten Hugenotten so froh waren, in Preußen Aufnahme zu finden:
Wohin strebten sie alle? In die Tyrannei? Sie strebten in die Ordnung, in das Recht, in die Sicherheit, in die Gedankenfreiheit. Das ist für Menschen, die durch viel Leid gegangen sind, wichtiger, als einmal strammstehen zu müssen. Nicht mehr Angst haben zu müssen, war ihr Traum gewesen.
Ganz offenbar war der Konsens, an dem die Hugenotten teilhaben wollten, lediglich der, daß man nicht von staatlicher Seite wegen seiner Religion verfolgt wird. Diejenigen, die sich auf dieses Minimum berufen, sind damals wie heute Minderheiten. Sie sind auf die Einhaltung des Konsenses angewiesen, wohingegen Mehrheiten selbst für ihr Recht einstehen können.
Was im 17. Jahrhundert die Religionsfreiheit war, ist heute die Freiheit der politischen Überzeugung, die sich allerdings oftmals als religiöses Bekenntnis geriert. Obwohl ein Grundrecht festlegt, daß niemand wegen seiner Überzeugungen benachteiligt werden darf, liegt im Unterschied zum religiösen Bereich das Paradox darin, daß diese Freiheit nur dann etwas nützt, wenn man seinen Überzeugungen zur Durchsetzung verhelfen kann.
Denn die Politik ist im Unterschied zur Religion gerade dadurch definiert, daß sie keine Privatsache bleiben darf (was bei der Religion nicht die Regel aber immerhin möglich ist). Das funktioniert nur in einem Bezugsrahmen, der Selbstverständlichkeiten wie »das staatliche Gewaltmonopol, die Friedenspflicht des Bürgers, der Rechtsgehorsam, die innere Sicherheit und die Schutzpflichten des Staates, die Regierbarkeit und die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen, das Amtsprinzip« (Isensee), kurz das Prinzip der Staatlichkeit, umfaßt.
Es gibt jedoch beim politischen Minimum noch ein anderes Problem. Das Wort Minimum bezeichnet ein absolutes Mindestmaß an Gegebenheiten, hinter die man niemals zurückgehen möchte. Was bleibt übrig, wenn wir das, was wir als Politik bezeichnen, von all dem entkleiden, was wir als Wünschbarkeiten oder als Beiwerk wahrnehmen?
Das wäre dann ein Minimum, der zu vereinbarende Minimalkonsens, gleichsam die letzte Rückzugslinie. Hierbei wird die Frage interessant, wem gegenüber wir uns über dieses Minimum äußern. Denn in der Politik gibt es keine Wünschbarkeiten, sondern Dinge, die sich durchsetzen lassen oder nicht, wobei die Durchsetzung immer gegen einen Widerstand erfolgt.
Mit einem Minimum in den Kampf zu ziehen, ist daher nicht ungefährlich. Nach Innen mag das Ausrufen eines politischen Minimums durchaus sinnvoll sein, denn es versetzt uns in die Lage, auch über eventuell bestehende Meinungsverschiedenheiten zu weiterreichenden politischen Fragen hinaus einen gemeinsamen Nenner zu bilden.
Eine Nation etwa kann im Innern den Konsens haben, nicht über Religion zu streiten, um so zu verhindern, daß Teile der Nation religiöse Allianzen mit anderen Nationen bilden. Mit dem Minimum »wir wollen auch leben« nach außen zu treten, suggeriert jedoch dem Gegner, daß wir alles andere also durchaus fahren ließen. Wir gehen also in einen Kampf und geben vorher bekannt, keine Verhandlungsmasse zu haben.
Das kann nicht der Sinn eines politischen Minimums sein. Denn eigentlich geht es darum, etwas zu finden, das jeder mittragen kann, etwas also, worüber wir nicht diskutieren werden. Jeden aber, der es doch täte, würde von uns als derjenige bezeichnet, der die Axt an die Wurzel unseres Gemeinwesens legt.
Daher nun eine Setzung: Die Gesetze markieren das Minimum, den Rahmen, in dem Handlungen stattfinden können, ohne daß sie sanktioniert werden. Sie sind tatsächlich der absolute Minimalkonsens, auf dem allein eine Gesellschaft noch ruht, wenn alle anderen Traditionen abgeräumt sind.
Die Gültigkeit der Gesetze setzt voraus, daß sie beachtet werden und der Staat in der Lage ist, Verstöße zu ahnden. Dieser Konsens existiert also nicht im luftleeren Raum, sondern beruht auf Voraussetzungen, die ihre Einhaltung erst garantieren. Diese unausgesprochenen Voraussetzungen der Gesetze sind das ethische Maximum.
Insofern stellt sich die Frage, inwiefern das Minimum das Maximum repräsentiert. Wir kennen diese Problematik aus der Gegenwart: Sie wird immer dann virulent, wenn der gesellschaftliche Konsens durch etwas Fremdes infrage gestellt wird. Dann muß die Lücke durch ein neues Gesetz geschlossen werden, oder es erfolgt der Ruf nach Integration, mit anderen Worten die Forderung, daß sich diejenigen, denen also das Maximum nicht bekannt sein kann, sich in irgendeiner Art und Weise freiwillig am Minimum orientieren.
Je heterogener eine Gesellschaft wird, um so wichtiger wird das Minimum, weil die meisten Menschen über das Maximum nicht mehr verfügen. Das Maximum liegt in der Eigenart der Nation und des kulturellen Großraums begründet und kann daher denjenigen, die niemals Anteil daran hatten, nicht geläufig sein. Das Verhältnis von Minimum und Maximum ist daher nicht nur ethisch problematisch, sondern auch aus politischer Sicht.
Man muß vielleicht nicht so weit gehen wie es die mittelalterliche Scholastik tat, die in Gott sowohl das Minimum, das in allen Teilen steckt, als auch das Maximum sah. Es ist aber dennoch offensichtlich, daß auch in der Politik eine enge Beziehung zwischen Minimum und Maximum besteht, sodaß wir nicht über das Minimum sprechen können, ohne uns auch über das Maximum zu verständigen.
Ein Blick in die Geschichte des politischen Denkens zeigt, daß die Frage nach dem politischen Minimum immer dann auftritt, wenn die Grundlagen der Gemeinschaft fragwürdig geworden sind. Weiterhin wird deutlich, daß die Verständigung über ein Minimum nicht ohne Bezug auf ein Maximum gelingen kann.
Platon, um mit dem zeitlich fernsten und wirkmächtigsten Beispiel zu beginnen, hat nicht nur zwei umfangreiche Bücher über diese Frage hinterlassen, sondern verfügte selbst über politische Erfahrung, auch wenn sein Versuch scheiterte, den Tyrannen Dionysus von der Einrichtung einer konstitutionellen Monarchie zu überzeugen. Platons Bücher über den Staat (Politeia) und die Gesetze (Nomoi), die er in einer Krise der attischen Polis verfaßte, umspannen die Problematik von Minimum und Maximum in Gänze.
Im Staat wird die philosophische Frage erörtert, ob und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen es einen gerechten Staat geben könne. Und auch in seinem Alterswerk, den Gesetzen, entwirft Platon einen Idealstaat. Dieser ist allerdings stärker an der Wirklichkeit orientiert und geht dabei ins Detail.
Aber auch hier finden wir als Ziel alles Sinnierens die Antwort auf die Frage, wie diesem so vortrefflich eingerichteten Gemeinwesen eine dauerhafte Existenz ermöglicht werden könne. Das Minimalziel der Gerechtigkeit bedeute einen wohlgegliederten Staat, der Stabilität und Sicherheit für die Gesellschaft garantiere.
Im 17. Jahrhundert griff dann Thomas Hobbes diesen Gedanken in seinem Werk vom Leviathan auf. Den Impuls zum Verfassen des Leviathan gaben die konfessionellen Bürgerkriegen, die auf Hobbes einen furchtbaren Eindruck machten. Der Grundgedanke, der zur Errichtung des Leviathan führt, ist die verheerende Aussicht, in steter Gefahr voreinander zu leben: Weder Gesellschaft und Staat könnten unter solchen Umständen zu einer dauerhaften Einrichtung werden.
Nur eine öffentliche Macht sei in der Lage, die die Menschen vor dem Angriff anderer schützen und so den inneren Frieden zu gewährleisten. Dazu müßten die Menschen bereit sein, die Gewalt auf einen Monopolisten der Gewalt zu übertragen. Auf diesem Wege entsteht bei Hobbes der Souverän.
Nach 1789 etablierte sich mit den geschriebenen Verfassungen neben anderem die Einsicht von Joseph de Maistre, daß »die Wurzeln der Staatsverfassung schon vor dem Entstehen geschriebener Gesetze vorhanden« seien und ein »Staatsgrundgesetz« nichts weiter darstelle, »als Entwicklung oder Bestätigung eines schon bestehenden, ungeschriebenen Rechtes.«
Ganz offensichtlich kommt auch hier die Frage nach dem politischen Minimum und dem ethischen Maximum wieder durch die Hintertür herein. Daß das auch für das Grundgesetz gelte, hat Josef Isensee noch zu seligen BRD-Zeiten (1986) gezeigt.
Demnach beruhte der Konsens der Anfangsjahre der Bundesrepublik nicht auf dem Grundgesetz. »Vielmehr fußte das herrschende Verständnis des Grundgesetzes seinerseits auf dem gesellschaftlichen Konsens«, zu dem »hergebrachtes Staatsverständnis, bürgerliche Arbeitsmoral und christliches Pflichtenethos« gehörten.
Der Keim der Gefährdung entfaltete sich dann 1968 ff: »Studenten, die in der grundgesetzlichen Umwelt aufgewachsen waren, empörten sich gegen alles Vordemokratische«, und damit gegen alle Staatlichkeit und den hergebrachten Konsens, was die Umfunktionierung des Grundgesetzes von einem antitotalitären in einen antifaschistischen Konsens bedeutete.
Damit ist auch die seit dem Beginn aller Staatlichkeit tradierte Überzeugung von den Aufgaben des Staates Geschichte. Zu den Forderungen nach Beständigkeit, Gerechtigkeit und Sicherheit tritt die nach sozialer Wohlfahrt und sozialer Gleichheit. Ein Staat, der das nicht gewährleisten kann, wird zur Disposition gestellt. Die Gleichheit wird zu einer konkreten politischen Forderung, die, sobald sie staatlicherseits durchgesetzt werden soll, den inneren Frieden und auch den Bestand des Staates gefährdet.
Denn durch die dafür notwendigen Kompensationsleistungen muß er seinen Apparat aufblähen, verschuldet sich finanziell, gerät unter Rechtfertigungsdruck – und setzt damit seine Souveränität aufs Spiel. Vor dieser Situation standen nach dem Ersten Weltkrieg viele Staaten, darunter Portugal. Im Gegensatz zu vielen anderen Lösungsversuchen aus der Zwischenkriegszeit hat das portugiesische Modell, das Salazar seit 1928 etablierte, die Zeitenschwelle von 1945 überlebt und ist erst es erst in den siebziger Jahren nach dem Tod Salazar abgeschafft worden.
Nach unzähligen Putschen, neuen Regierungen und Unruhen hatte das Militär die Macht übernommen und Salazar, den bis dahin kaum jemand kannte, erst zum Finanzminister, dann zum Ministerpräsidenten gemacht. Die durch ihn etablierte Regierungsform, die mit dem damals noch etwas unproblematischeren Wort Diktatur benannt wurde, galt als eine natürliche nationale Reaktion gegen die Mißwirtschaft, die ganz Portugal an den Rand des Abgrunds gebracht hatte.
Der konkrete Hintergrund war die drohende Abhängigkeit Portugals von internationalen Kreditgebern, die nur durch ein straffes Sparprogramm vermieden werden konnte. Das nahm Salazar in Angriff und war erfolgreich. In einer Rede über die Grundsätze der politischen Nation führt Salazar Hintergründe und Ziele dieser Neuordnung aus.
Schuldig an dem Dilemma seien der Liberalismus, der Sozialismus und der Parlamentarismus, die laut Salazar auf Machenschaften eines unsauberen Internationalismus zurückgingen. Daraus folgten die Ohnmacht der Regierung, die Passivität des Staatswesens, die Lähmung des Verfassungsapparats und die Radikalisierung der Selbsterhaltungsbemühungen.
Salazars Politik zielte darauf ab, diese verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen. Nach wenigen Jahren schon konnte er eine positive Bilanz ziehen: Als oberste Forderung des Handelns stand die Unabhängigkeit der portugiesischen Nation. Salazar verwies explizit auf das ethische Maximum, als er davon sprach, daß »nichts Dauerhaftes aufgebaut werden kann, ohne eine geistige Revolution in den Portugiesen von heute und eine sorgfältige Erziehung der Generation von morgen«.
Das Beispiel Portugal wird heute nur wenig Begeisterung wecken, aber es zeigt, daß in Krisenzeiten, die Stabilität und Sicherheit eine Wertschätzung gewinnen, die einen auf vieles verzichten lassen, was dagegen entbehrlich scheint.
Zum Heute: Das politische Minimum unserer Zeit ist die Überzeugung, daß nichts so bleiben darf, wie es ist. Der Fortschritt ist das Maß aller Dinge, Beweglichkeit und Flexibilität sind Grundforderungen unserer Zeit, mit denen sich auch die Aversion gegen all das erklären läßt, das diese Tendenzen begrenzt.
Die Forderung nach Stabilität als politischem Minimum führt uns zu einem Problem, das mit dem Paradoxon der Konservativen Revolution gültig beschrieben ist. Denn die Frage damals lautete (ob nun in Portugal oder in Deutschland): Wie läßt sich Stabilität in ein auf Instabilität bauendes System bringen. Aus diesem Problem folgt nicht nur die paradoxe Bezeichnung selbst, sondern eben auch die bekannte Definition, wonach konservatives Revolutionieren bedeute, Dinge zu schaffen, die sich zu erhalten lohnten, und dabei nicht an der Vergangenheit zu hängen, sondern aus dem zu leben, was immer gelte.
Um dieses Immergültige muß es beim ethischen Maximum gehen, das dem politischen Minimum den Sinn verleiht. Daß es sich dabei nicht um eine Randfrage handelt, wird an der Reaktion deutlich, mit der Gesellschaft und Politik auf denjenigen reagieren, der mit dem Konsens vom ewigen Fortschritt bricht.
Daß mit dem Neuerungswahn eine Überforderung des Menschen einhergehe, hat etwa auch der Philosoph Odo Marquard betont. Er wies immer wieder darauf hin, daß der Mensch der Kompensation des Fortschritts bedürfe. Die Geisteswissenschaften, so Marquard, hätten diese Kompensation übernommen, als der Einfluß der Naturwissenschaften mit ihrer weitgehend linearen Fortschrittsauffassung übermächtig zu werden drohte. Sie böten den Ausgleich, indem sie mit ihren Geschichten die lebensweltliche Rückbindung aufrechterhielten und für Orientierung und moralische Selbstvergewisserung sorgten.
An dieser Stelle kommt schließlich die umstrittene Bürgerlichkeit ins Spiel, auf die sich jüngst die AfD berief. Galt Bürgerlichkeit lange als Ausdruck von Spießigkeit und als etwas, das überwunden werden müsse, gilt sie heute im Grunde lagerübergreifend als Grundvoraussetzung für die ungefährliche Teilnahme an der Demokratie. Alexander Gaulands Bemerkung, die AfD sei eine bürgerliche Partei, wurde aus diesem Grund von den politischen Gegnern unisono als anmaßend und grundfalsch zurückgewiesen.
Diese Abwehrhaltung ist weniger in einer positiven Bestimmung dessen, was Bürgerlichkeit ist, zu suchen, als in der Angst, daß jemand einen unbesetzten Platz wieder einnehmen könnte. Odo Marquard hat dazu folgende These:
In unserer gegenwärtigen Welt steht es nicht deswegen schlimm, weil es zu viele, sondern deswegen weil es zu wenig bürgerliche Gesellschaft in ihr gibt; denn problematisch an unserer Gegenwart ist nicht die Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung der Bürgerlichkeit, so daß ich nicht zur Flucht aus der bürgerlichen Welt ermuntert werden muss, sondern zur Identifizierung mit der bürgerlichen Welt.
Marquard widerspricht damit der Auffassung, daß es so etwas wie einen Endzweck der Geschichte gäbe, der etwa in einer dauernden Überwindung des gegenwärtigen Zustands bestehe. Stattdessen sieht er in der Welt der Bürgerlichkeit vor allem die Welt der Herkunft, der Familie, der sittlichen Möglichkeiten der Religion und der Tradition.
Diese Welt bietet durch ihre Entlastungsfunktion zwar viele Freiheiten, kann aber in ihrer langweiligen Bodenständigkeit den »Außerordentlichkeitsbedarf« (Marquard) vieler Menschen, denen der Sinn nach radikaler Weltverbesserung und Infragestellung des Überkommenen steht, nicht decken.
Dieser »Ausnahmezustand der maximalen Fortgeschrittenheit« ist aber nicht das, was Staaten und Gemeinwesen Stabilität verleiht. Nun sind diese Worte aus dem Jahre 1994 zwar immer noch wahr, doch bedürfen sie der Konkretisierung. Denn die bürgerliche Gesellschaft hat sich gewandelt. Das, was Marquard noch als bürgerlich bezeichnet, ist bei denen, die sich als bürgerlich bezeichnen, kaum noch vorhanden.
Wir finden bei diesen Bürgern stattdessen die Erwartung vor, daß die umfassende Demokratisierung aller Lebensbereiche das Ende der Geschichte einläute. Unsere Gegenwart steht für diese Bürger nicht wegen ihrer eigenen falschen Handlungen unter Generalverdacht, sondern weil die Folge einer schlimmen Vergangenheit auszubaden seien.
Sie stellen unsinnige Vollkommenheitsansprüche, sehen in unserem Wohlstand ein Problem und bedienen sich eines unappetitlichen, zivilen Ungehorsams, der den einzelnen nichts mehr kostet. Die Gegenwart erscheint mit der Klimakatastrophe als der negativste Ausnahmezustand, der sich überhaupt denken läßt.
All die Merkmale, die Marquard bei den Gegnern des Bürgerlichen ausgemacht hatte, sind mittlerweile bei den Verteidigern des Bürgertums vor der AfD fest etabliert. Nun haben wir gesehen, daß die Stabilität eine politische Minimalforderung ist, die sich in den staatsphilosophischen Entwürfen immer wieder Bahn bricht, und stehen nicht nur vor der Frage, in welcher Beziehung das Minimum zum Maximum steht, sondern auch welche Bedingungen es für dieses Minimum gibt.
Konkret sind dabei die Bedingungen, die wir in einer parlamentarischen Demokratie mit gleichem Wahlrecht und umfassendem Sozialstaat vorfinden. Einigkeit besteht sicherlich darin, daß die gegenwärtige Politik alles andere als eine Politik der Stabilität ist. Die Abschaffung der Grenzen, die völlig ungeordnete Masseneinwanderung und die völlige Entgrenzung der menschlichen Beziehungen durch jegliches Unterscheidungsverbot haben zu einer nachhaltigen Verunsicherung und Destabilisierung der Lage beigetragen.
Das bedeutet, daß sich jeder, der Stabilität fordert, in einen klaren Gegensatz zur derzeitigen Politik stellt. Dieser Gegensatz darf nicht dadurch aufgehoben werden, daß man in die Stabilitätsfalle tappt. Recht bald nämlich wird das Angebot auf dem Tisch liegen, eine stabile Rechtskoalition aus CDU und AfD zu bilden. Damit würde sich ein Zustand stabilisieren, der nur eine Konstante hat: die weitere Schleifung des Immergültigen. Es zeigt sich an diesem Punkt, daß die Frage nach dem politischen Minimum eben nicht ohne die nach dem ethischen Maximum zu beantworten ist.
Denn ganz offensichtlich ist es so, daß dieses Minimum ohne ein Maximum nicht erreichbar ist. Daraus folgt zweierlei:
1. Wir müssen die Voraussetzungen für ein politisches Minimum erst schaffen. Wenn das Minimum in Stabilität besteht, muß ein Zustand geschaffen werden, der genau das gewährleistet. Da die Ursachen für den Niedergang unseres Staates bekannt sind, dürfte diese Korrektur, die entsprechenden Befugnisse vorausgesetzt, im Bereich der Möglichkeiten des politischen Handelns liegen.
2. Wir müssen die Frage beantworten, aus welchem Grund sich das Staatsvolk diesem Kraftakt unterwerfen sollte. Wir brauchen eine positive Idee davon, warum die Mühen, die mit einer solchen Schaffung von Grundlagen, notwendig sind. Der Erhalt unserer nationalen Lebensgrundlagen ist notwendig, weil die Welt ohne uns nicht vollständig wäre. Aus der übergeordneten Idee der nationalen Schicksalsgemeinschaft, die mit uns nicht an ihr Ende gelangen soll, folgt die Notwendigkeit des politischen Minimums.