Kluge Linke, Tiefer Staat

PDF der Druckfassung aus Sezession 92/Oktober 2019

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Die bun­des­deut­sche Lin­ke hat, theo­re­tisch wie prak­tisch, ihre Selbst­ver­bie­gung abge­schlos­sen. Hedo­nis­ti­sche Lebens­ent­wür­fe und über­stie­ge­ner Min­der­hei­ten­fe­ti­schis­mus, urban-kos­mo­po­li­ti­sche Imper­ti­nenz und Ver­ach­tung der »Pro­vinz«, intel­lek­tu­el­le Kon­for­mi­tät und feh­len­des Refle­xi­ons­ver­mö­gen, Akzep­tanz des fal­schen gro­ßen Gan­zen und mani­scher Kampf gegen dis­si­den­te Ablenk­zie­le –  der links­li­be­ral-post­mo­der­ne Turn, der in den 1990er Jah­ren in der lin­ken Sphä­re ein­ge­lei­tet wur­de, erlebt der­zeit sei­ne Vollendung.

Das mün­det in einem anhal­ten­den Wahl­de­ba­kel der Links­par­tei im Real­po­li­ti­schen und in einer eben­so bemer­kens­wer­ten geis­ti­gen Sta­gna­ti­on bis Regres­si­on lin­ker Theo­rie- und Denk­ar­beit im Meta­po­li­ti­schen. Und doch muß die­ses – ver­dien­ter­ma­ßen: schar­fe – Ver­dikt ein­ge­schränkt wer­den. Um die Inter­net­pro­jek­te nachdenkseiten.de und rubikon.news, die Maga­zi­ne Hin­ter­grund und Lunapark21 und schließ­lich die Ver­la­ge Pro­me­dia (Wien) und West­end (Frank­furt am Main) hat sich eine klei­ne, aber resis­ten­te Sze­ne sou­ve­rä­nis­tisch­kom­mu­ni­ta­ris­ti­scher Lin­ker entwickelt.

Es sind gewis­ser­ma­ßen rea­lis­ti­sche Lin­ke, die nicht ver­ges­sen haben, daß die nahen­den Span­nun­gen im Öko­no­mi­schen und Sozia­len ein­schnei­den­de Ana­ly­sen und Keh­ren erfor­dern, daß die Kri­tik der herr­schen­den Ver­hält­nis­se im Inne­ren über den infan­ti­len und geist­feind­li­chen »Kampf gegen Rechts« weit hin­aus­reicht, ja daß es, im Außen­po­li­ti­schen ange­langt, einst­wei­len einen »letz­ten Hege­mon« (Alain de Benoist) gibt, der in Gestalt der USA eng ver­wo­ben mit der libe­ra­len Glo­ba­li­sie­rung samt Uni­ver­sa­li­sie­rung west­le­ri­scher Lebens­bil­der ist.

Bei den genann­ten Ver­la­gen Pro­me­dia und West­end erschie­nen nun drei Titel, die die­se Ein­schät­zung unter­mau­ern. Zunächst legen die bei­den Her­aus­ge­ber Ulrich Mies und Jens Wer­ni­cke (vgl. Sezes­si­on 81) mit Fas­sa­den­de­mo­kra­tie und Tie­fer Staat: Auf dem Weg in ein auto­ri­tä­res Zeit­al­ter (Wien 2017, 272 S., 19.90 €) einen Sam­mel­band vor, der mehr als ein Dut­zend rea­lis­ti­scher Lin­ker versammelt.

Ihr Anlie­gen ist die Demas­kie­rung des »tie­fen« oder »dunk­len Staats«. Die­ses Sujet, das gemäß Kri­ti­kern oft­mals eine Nähe zum Ver­schwö­rungs­den­ken mit sich bringt, ist so dif­fi­zil wie bedeu­tend, denn daß man es heu­te mit einer Art »Schat­ten­re­gie­rung« zu tun hat, wel­che »die eigent­li­che Macht dar­stellt«, wie die Her­aus­ge­ber ein­lei­tend monie­ren, wird links wie rechts oft­mals kol­por­tiert, ohne daß ent­spre­chen­de Begrün­dungs­zu­sam­men­hän­ge gelie­fert würden.

Oft raunt es mehr über eben­je­nen »Tie­fen Staat«, als daß die Pro­zes­se, die zu ihm füh­ren oder von ihm aus­ge­hen, ratio­nal dar­ge­legt wür­den. Der pro­mi­nen­tes­te Autor des Ban­des, Rai­ner Maus­feld (vgl. Sezes­si­on 88), pro­ble­ma­ti­siert denn auch den Leit­ter­mi­nus »Tie­fer Staat«: Meta­pho­risch müs­se die­ser aber trotz eini­ger Ein­wän­de ver­wen­det wer­den, um die Auf­merk­sam­keit der Öffent­lich­keit dar­auf zu len­ken, daß – und hier erin­nert Maus­feld an den 2003 ver­stor­be­nen Johan­nes Agno­li – »die Zen­tren der poli­ti­schen Macht nicht bei den Par­la­men­ten und Regie­run­gen lie­gen, son­dern bei Akteu­ren, die weit­ge­hend der öffent­li­chen Sicht­bar­keit ent­zo­gen sind«.

Im wei­te­ren sei der »Tie­fe Staat« eine »Erschei­nungs­wei­se poli­ti­scher Macht« im »zuneh­mend tota­li­tä­ren Spät­ka­pi­ta­lis­mus«. Die Autoren wen­den sich, die­se Vor­ga­be des Psy­cho­lo­gen Maus­feld als Leit­mo­tiv, uni­so­no gegen das, was sie als »Fas­sa­den­de­mo­kra­tie« bezeich­nen. Wäh­rend der brei­ten Mas­se durch Demo­kra­tie­si­mu­la­ti­on der Schein der Volks­herr­schaft ver­mit­telt wer­de, sähen sich die wirk­lich rich­tungs­wei­sen­den Ent­schei­dun­gen in den »Tie­fen­struk­tu­ren« getrof­fen, die dem Ein­fluß des eigent­li­chen Sou­ve­räns gänz­lich ent­zo­gen seien.

Der Sozio­lo­ge Bernd Hamm lie­fert für den Band eine wei­te­re Rich­tungs­vor­ga­be: Es gebe ein ide­al­ty­pi­sches Modell neu­er Macht­struk­tu­ren, wonach vier Krei­se die rea­le Herr­schaft anstel­le des Vol­kes aus­üben: Der inners­te Kreis sei die »glo­ba­le Gel­de­li­te« in Form von Akteu­ren mit einem Ver­mö­gen von über einer Mil­li­ar­de Euro.

Den zwei­ten Kreis bil­den Köp­fe trans­na­tio­na­ler Kon­zer­ne und Finanz­play­er. Der drit­te Kreis wird durch Poli­ti­ker und Mili­tärs von inter­na­tio­na­lem For­mat zusam­men­ge­setzt. Der vier­te Kreis, der für den Nor­mal­bür­ger via Medi­en­kon­sum am Sicht­bars­ten ist, wird durch Jour­na­lis­ten, Wis­sen­schaft­ler, Schrift­stel­ler, Stars aus Film und Musik, NGO-Iko­nen und Kir­chen­ver­tre­ter ver­kör­pert; sie genie­ßen situa­tiv Zugang zu den ers­ten drei Krei­sen und sichern deren Herr­schaft durch die mas­sen­wirk­sa­me Repro­duk­ti­on herr­schafts­sta­bi­li­sie­ren­der Ideologeme.

Wer sich für die neue glo­ba­le Spal­tung in »Any­whe­res vs. Some­whe­res« im spe­zi­el­len und für Glo­ba­li­sie­rungs- und Herr­schafts­kri­tik im all­ge­mei­nen inter­es­siert, wird an die­sen Aus­füh­run­gen fort­an nicht vor­bei­kom­men, wenn­gleich in eini­gen Bei­trä­gen auch mar­kan­te Schwä­chen mani­fest wer­den. Stell­ver­tre­tend sei der Auf­satz Wolf Wet­zels genannt, des­sen Betrach­tun­gen des NSU-Kom­ple­xes als Erschei­nungs­form des »Tie­fen Staa­tes« zwar für einen lin­ken Autoren wage­mu­tig sind, aber am Ende im fest­ge­zurr­ten Denk­sche­ma des Anti­fa­schis­mus verharren.

Wet­zel räumt ein, daß die kol­por­tier­te Sto­ry über drei Nazi-Ter­ro­ris­ten samt exor­bi­tant gro­ßem und doch uner­kann­tem Unter­stüt­zer­um­feld nicht ansatz­wei­se ohne die Len­kung bzw. Steue­rung durch Geheim­diens­te denk­bar sei. Aber auch er wagt es nicht, das bereits porö­se »Nar­ra­tiv« des Estab­lish­ments grund­le­gend zurückzuweisen.

Die­se auf­klä­re­ri­sche Arbeit wird auch im Fol­ge­band, Der Tie­fe Staat schlägt zu (Wien 2019, 280 S., 19.90 €), nicht geleis­tet. Aber der Unter­ti­tel ver­rät auch, war­um dies ohne­hin nicht die selbst­ge­stell­te Auf­ga­be des Buches ist: Wie die west­li­che Welt Kri­sen erzeugt und Krie­ge vor­be­rei­tet.

Der Her­aus­ge­ber Ulrich Mies erläu­tert, daß es nun dar­um gehe, den »Dun­kel­raum der Herr­schen­den« zu beleuch­ten und ins­be­son­de­re deren Krie­ge in einen ideo­lo­gie- und impe­ria­lis­mus­kri­ti­schen Kon­text zu stel­len. Auch an die­sem Sam­mel­band wir­ken über ein Dut­zend über­wie­gend inter­es­san­ter Autoren wie Akt­ham Suli­man, Han­nes Hof­bau­er oder Nico­las Davies mit.

Die Stär­ken der Auf­sät­ze sind bei kapi­ta­lis­mus- und impe­ria­lis­mus­kri­ti­schen Autoren evi­dent: Es ist die kun­di­ge Ana­ly­se der Zusam­men­hän­ge von Kri­sen und Krie­gen, glo­ba­len Her­aus­for­de­run­gen und hege­mo­nia­len Pro­jek­ten. Die Schwä­chen resul­tie­ren aber aus den Stär­ken, und dies bleibt das Dilem­ma der Autoren. Denn die an vie­len Stel­len »alt­links« anmu­ten­de Hal­tung der Autoren macht sie blind für zahl­lo­se neue Fra­ge­stel­lun­gen, die nicht anhand gest­ri­ger Dicho­to­mien deut­bar sind.

Han­nes Hof­bau­er (vgl. Sezes­si­on 90), ein frag­los lesens­wer­ter Autor, kann bei sei­ner EU-Kri­tik etwa nicht dar­auf ver­zich­ten, die Mär vom ewi­gen deut­schen Impe­ria­lis­mus wei­ter­zu­spin­nen; im Auf­tre­ten bun­des­deut­scher Poli­tik sieht er die »Vor­stel­lun­gen eines deut­schen Groß­rau­mes« wei­ter­le­ben. Der­ar­ti­ge Legen­den schmä­lern den Erkennt­nis­ge­winn und len­ken ab von den im Auf­satz ent­hal­te­nen Wahr­hei­ten: daß näm­lich die EU-Struk­tur kei­ne euro­päi­sche Völ­ker­ver­ei­ni­gung mit sich bringt, son­dern die Herr­schaft »groß­räu­mig agie­ren­der Kapi­tal­grup­pen, denen Gren­zen gene­rell – ob räum­lich oder sozi­al – hin­der­lich sind«, zemen­tie­ren soll.

Daß auch klu­ge Lin­ke am Ende Lin­ke blei­ben, unter­streicht auch Rai­ner Maus­feld. Sei­ne jüngs­te Auf­satz­samm­lung Angst und Macht (Frank­furt a. M. 2019, 123 S., 14 €) ist emi­nent wich­tig, weil er das oft­mals als Phan­tom wahr­ge­nom­me­ne Sys­tem des herr­schen­den »Neo­li­be­ra­lis­mus« seziert und auch (kri­ti­schen) Ein­stei­gern in die The­ma­tik den Zugang durch Defi­ni­tio­nen erleichtert.

Es gehe der neo­li­be­ra­len Ideo­lo­gie der tota­len Umge­stal­tung mensch­li­cher Zusam­men­hän­ge um die Erlan­gung abso­lu­ter Markt­för­mig­keit des gesell­schaft­li­chen Daseins. Natio­nal­staa­ten sol­len – »unter ideo­lo­gi­schen Schlag­wör­tern wie Glo­ba­li­sie­rung, Fle­xi­bi­li­sie­rung und Dere­gu­lie­rung« – so umge­baut wer­den, daß »dadurch geeig­ne­te insti­tu­tio­nel­le Rah­men­be­din­gun­gen für einen glo­ba­len Kon­zern- und Finanz­ka­pi­ta­lis­mus geschaf­fen wer­den und zugleich der glo­ba­le Kapi­ta­lis­mus gegen jede Form demo­kra­ti­scher Bedro­hun­gen geschützt wird«.

Obschon die­se Aus­füh­rung zutref­fend wie anschau­lich vor­ge­bracht wird, bleibt der blin­de Fleck – wie so ener­vie­rend oft – aus­ge­rech­net der demo­kra­ti­sche Sou­ve­rän: das Volk. Maus­feld legt selbst dar, daß der real­exis­tie­ren­de Neo­li­be­ra­lis­mus Tra­di­tio­nen abräumt und gemein­schafts­stif­ten­de Ein­hei­ten über­win­den will. Aber er will nicht begrei­fen, wie nah er selbst an die­sem Punkt mit neo­li­be­ra­ler Ideo­lo­gie kon­form geht, wenn er volk­li­che und kul­tu­rel­le Iden­ti­tä­ten zu Fik­tio­nen erklärt.

Er unter­streicht damit, daß die Pro­me­dia-West­end-Lin­ke zwar eine klu­ge Lin­ke ist, mit der man argu­men­ta­tiv rin­gen und sich, so anti­fa­schis­ti­sche Tugend­wäch­ter dies nicht ver­hin­dern, auf ein tem­po­rä­res poli­ti­sches Mini­mum ver­stän­di­gen könn­te. Aber am Ende kön­nen auch sie sich von eini­gen lin­ken Lebens­lü­gen nicht lösen – ent­we­der aus Über­zeu­gung oder aus Angst vor Iso­la­ti­on im eige­nen Milieu. Bei­des sprä­che indes dafür, daß Erkennt­nis­ge­winn links der Mit­te zwar mög­lich ist, daß prak­ti­sche Schluß­fol­ge­run­gen aber nur (neu)rechts wirk­sam wer­den könnten.

Alle genann­ten Bücher kann man hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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Kommentare (2)

Brandolf

8. Dezember 2020 19:10

Der von mir ansonsten geschätzte Herr Mausfeld betätigt sich im Gegensatz zum dezidiert anti-islamisch gesinnten Neomarxisten Hartmut Krauss ebenso wie die von ihm berechtigterweise kritisierten Zuwanderungseuphoriker als Islamverteidiger.

Brandolf

8. Dezember 2020 19:19

Die volkliche - und auch kulturelle - Identität kann in bestimmten Fällen durchaus eine Fiktion sein! Die sogenannten "Palästinenser" (sowie auch alle Angehörigen sogenannter arabischer Staaten mit abstammungsarabischer Mehrheitsbevölkerung) oder "Nordmazedonier" sind um mit Marx zu sprechen tatsächlich geschichtslose Völker oder gar wie die postmodernistische Linke behauptet Konstrukte.