Ein wesentlicher Grund für diese Ablehnung war neben mangelnder „Wissenschaftlichkeit“ die politische Diskreditierung der Menschenrechte. Napoleon hatte für die Verfassung von 1800 ausdrücklich auf ihre Proklamation verzichtet, weil sie untrennbar mit der Erinnerung anden revolutionären Radikalismus verbunden gewesen wäre, und in den von französischen Truppen besetzten Ländern hielt man die wohlklingenden Worte bestenfalls für „Theaterdekorationen“ (Ernst Moritz Arndt); Ludwig Börnes bemerkte noch 1832: „wenn man in Paris zwischen zwei und vier Uhr nachmittags das Wort Menschenrecht ausspricht, werden vor Schrekken alle Wangen bleich und die Renten fallen. Menschenrechte – das ist die Guillotine!“
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Annahme vorpolitischer Rechte des Menschen in den westlichen Staaten rehabilitiert, während sich im deutschen politischen Denken eine Reserve erhielt und sogar noch in der demokratischen Reichsverfassung von 1919ihren Niederschlag fand, die lediglich Bürger–, aber keine Menschenrechte kannte. Wie so viele Besonderheiten der nationalen Tradition ist auch diese nach 1945 beseitigt worden. Die Präambel des Grundgesetzes dekretiert eine politische Ordnung, geschaffen in „Verantwortung vor Gott und den Menschen“, wobei der Verweis auf Gott einen Rückgriff auf klassische Naturrechtsvorstellungen intendiert, während mit dem Bezug auf die Menschheit Anschluß an die übliche, also die westliche Begründung der Menschenrechte gesucht wurde.
Die – durch keine Gesetzesänderung aufhebbaren – „Grundrechte“ haben nicht nur Teil an dem in Deutschland ausgeprägten Respekt vor dem Verfassungstext, sie dürften tatsächlich der Mehrheit der Bürger als unverzichtbare Voraussetzung einer guten Ordnung erscheinen. Man mag im Einzelfall darüber streiten, welche konkreten Folgen ein Grundrecht hat, wie es im Verhältnis zu anderen gedeutet werden muß, und es mag eine Kritik der Umsetzung von Grundrechtspostulaten geben, – aber eine Kritik dieser Rechte selbst dürfte den meisten Deutschen unbegreiflich sein. Wenn man sie mit ihrer eigenen Tradition der eher pessimistischen Beurteilung des Konzepts Menschenrechte wieder vertraut machen will, muß man einen Umweg einschlagen, heute heißt das: Denker zu Worte kommen lassen, die einen unbefangeneren Blick gewohnt sind, aus Ländern, in denen die Debatten freier geführt werden können als hier.
Der Franzose Alain de Benoist ist so ein Denker, der in der Vergangenheit schon oft unter Beweis gestellt hat, daß er ohne Scheu unbequeme Wahrheiten ausspricht und Dinge in Frage stellt, die nach allgemeiner Überzeugung nicht in Frage gestellt werden können. Seine „Kritik der Menschenrechte“ (Alain de Benoist: Kritik der Menschenrechte. Warum und Universalismus und Globalisierung die Freiheit bedrohen, Edition JF, Berlin 2004, kt, 166 S., 10.90 €) ist tatsächlich ein Generalangriff auf die üblichen Begründungsstrategien, deren Ergebnis sich in drei Punkten zusammenfassen läßt:
(1) Die Menschenrechte sind nicht zu rechtfertigen. Die klassischen Konzepte – der Rekurs auf Gott, auf die Natur oder die Vernunft – haben sich erledigt. Die Vorstellung von einem Schöpfer, der die Menschen als sein Ebenbild gemacht und insofern mit einer besonderen Würde ausgestattet hat, wird nur noch von einer Minderheit geteilt. Normative Vorstellungen von Natur erwiesen sich als unhaltbar, wenn sie einen harmonischen Idealzustand postulierten, oder als ungeeignet, da aus ihnen nur eine inhumane, dem survival of the fittest verpflichtete Ordnung abgeleitet werden könnte. Die Ratio schließlich führt nicht zwingend zu der Auffassung, daß die Menschen gleiche Rechte genießen sollten.
(2) Die Menschenrechte sind nicht universal. Faktisch ist die entsprechende Vorstellung aus bestimmten antiken (Stoa) und christlichen Denktraditionen erwachsen. Die meisten außereuropäischen Kulturen stehen diesem Konzept fremd gegenüber. Das hängt auch damit zusammen, daß die Lehre von den Menschenrechte eine antipolitische – das Politische durch das Juridische und das Moralische – und hoch individualistische – den Einzelnen grundsätzlich der Gemeinschaft vorordnende – Tendenz aufweisen.
(3) Die Menschenrechte sind nicht praktikabel. Es ist angesichts der Reserve, die Benoist dem Christentum gegenüber zeigt, wenig überraschend, daß er die antipolitische und die individualistische Tendenz in der „Menschenrechtsideologie“ zum Zentrum der Kritik macht. Seiner Auffassung nach vernichtet diese Ideologie gerade das, was sie angeblich schützen will: Freiheit und Menschenwürde. Durch die Betonung von Willkürfreiheit, Identifizierung von Recht und „Anspruch“ einerseits und die erwiesene Unfähigkeit, einen Ausgleich zwischen Menschenrechten und Menschenpflichten herzustellen andererseits, zerstörten die Verfechter der Menschenrechte die jede Voraussetzung für das Bestehen von Rechten überhaupt.
Man wird die Bedeutung der Einwände, die Benoist gegen die Lehre von den Menschenrechten erhebt, kaum bestreiten können. Er kann sich auf die Denker der Gegenrevolution ebenso berufen wie auf die Verfechter des klassischen Republikanismus, auf die undogmatische Linke ebenso wie auf die Kommunitaristen. Obwohl er seine eigene Präferenz eher verdeckt, gewinnt man den Eindruck, als ob der zuletzt genannten Gruppe seine Sympathie gehört. Damit könnte das neue Buch Benoists ohne Schwierigkeit in eine Tendenz eingeordnet werden, die sich seinem Denken seit mehreren Jahren ablesen läßt. Vor allem das, was er über die Bedeutung des Faktors „Kultur“ und die Idee einer „organischen Demokratie“ schrieb, ist ohne Schwierigkeit mit dem hier geäußerten zu verknüpfen.
In gewissem Sinne wird so eine Verschiebung im Überbau der französischen Neuen Rechten abgeschlossen. In deren Weltanschauung hat die Kritik der Menschenrechte von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt. Allerdings war diese Absage an das übliche westliche Denkmodell bis in die achtziger Jahre mit der Forderung nach einer Art kultureller Monroe-Doktrin für den Großraum Europa verbunden, während die anderen „Kulturkreise“ abgekoppelt und sich selbst überlassen werden sollten. Das war konsequent gedacht, aber nicht durchsetzbar. Damit scheint sich Benoist abgefunden zu haben, was ihn allerdings vor das Problem stellt, wie die immer noch geforderte alternative politische Ordnung überhaupt aufgebaut werden könnte. Die Einheiten, die er wohl als Ausgangspunkt annehmen möchte, sind nach seiner eigenen Meinung in Auflösung begriffen, eine andere Art von Homogenität ist schwer vorstellbar, die Möglichkeit, daß die Neuschöpfung einer Ordnung an religiöse Überzeugungen gebunden werden kann, wird nicht erwogen.
Benoist verweist in seinem Text mehrfach auf Carl Schmitt, aber nicht auf dessen These, daß alle politischen Begriffe in ihrem Kern theologische Begriffe sind. Wenn man den religiösen Gehalt der Menschenrechtslehre entlarvt, kann man das sinnvoll nur tun, weil man absolutes Zutrauen zur Kraft der Vernunft hat, oder weil man den alten Glauben durch einen Gegenglauben ersetzen möchte. Ersteres ist bei Benoist nicht zu vermuten, über letzteres wüßte man gern genaues. Das auch, weil die aktuelle Entwicklung dazu führt, daß Zweifel an den Menschenrechten als Legitimationsgrundlage für politisches beziehungsweise militärischesHandeln wachsen. Amnesty International hat im Hinblick auf das Verhalten der US-Soldaten im Irak erklärt, es habe niemals in den vergangenen fünfzig Jahren eine derartige Häufung massiver Verstöße gegen die Menschenrechte gegeben und diese erfolge letztlich im Namen der Menschenrechte. Dahinter steht die naive Vorstellung, man müsse sich nur mehr Mühe geben die Menschenrechte einzuhalten oder irgendeine Instanz schaffen – etwa die UNO – die zur effektiven Kontrolle in der Lage sei. Benoist wird diese Argumentation mit gutem Grund für wenigüberzeugend halten, aber er läßt seinerseits die Frage unbeantwortet, was denn an die Stelle des letzten „Ankers“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde) Menschenrechte treten soll für jene, deren politische Ordnung zerstört wurde und die deshalb aller anderen Rechte entbehren.