Kritik der Menschenrechte

pdf der Druckfassung aus Sezession 6 / Juli 2004

sez_nr_6von Karlheinz Weißmann

Während einer Reise durch die USA notierte Harry Graf Keßler 1892 sein Befremden über die dort verbreitete Idee der „Menschenrechte“, deren Geltung behauptet werde, obwohl sie eigentlich durch die „wissenschaftliche Geschichtsforschung und Philosophie des XIXten Jahrhunderts zerstört worden“ sei. Das Befremden hätten viele Gebildete der Zeit geteilt, Max Weber etwa zählte die Menschenrechte zu den „extrem rationalistischen Fanatismen“.

Ein wesent­li­cher Grund für die­se Ableh­nung war neben man­geln­der „Wis­sen­schaft­lich­keit“ die poli­ti­sche Dis­kre­di­tie­rung der Men­schen­rech­te. Napo­le­on hat­te für die Ver­fas­sung von 1800 aus­drück­lich auf ihre Pro­kla­ma­ti­on ver­zich­tet, weil sie untrenn­bar mit der Erin­ne­rung anden revo­lu­tio­nä­ren Radi­ka­lis­mus ver­bun­den gewe­sen wäre, und in den von fran­zö­si­schen Trup­pen besetz­ten Län­dern hielt man die wohl­klin­gen­den Wor­te bes­ten­falls für „Thea­ter­de­ko­ra­tio­nen“ (Ernst Moritz Arndt); Lud­wig Bör­nes bemerk­te noch 1832: „wenn man in Paris zwi­schen zwei und vier Uhr nach­mit­tags das Wort Men­schen­recht aus­spricht, wer­den vor Schrek­ken alle Wan­gen bleich und die Ren­ten fal­len. Men­schen­rech­te – das ist die Guillotine!“

Erst in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts wur­de die Annah­me vor­po­li­ti­scher Rech­te des Men­schen in den west­li­chen Staa­ten reha­bi­li­tiert, wäh­rend sich im deut­schen poli­ti­schen Den­ken eine Reser­ve erhielt und sogar noch in der demo­kra­ti­schen Reichs­ver­fas­sung von 1919ihren Nie­der­schlag fand, die ledig­lich Bür­ger–, aber kei­ne Men­schen­rech­te kann­te. Wie so vie­le Beson­der­hei­ten der natio­na­len Tra­di­ti­on ist auch die­se nach 1945 besei­tigt wor­den. Die Prä­am­bel des Grund­ge­set­zes dekre­tiert eine poli­ti­sche Ord­nung, geschaf­fen in „Ver­ant­wor­tung vor Gott und den Men­schen“, wobei der Ver­weis auf Gott einen Rück­griff auf klas­si­sche Natur­rechts­vor­stel­lun­gen inten­diert, wäh­rend mit dem Bezug auf die Mensch­heit Anschluß an die übli­che, also die west­li­che Begrün­dung der Men­schen­rech­te gesucht wurde.

Die – durch kei­ne Geset­zes­än­de­rung auf­heb­ba­ren – „Grund­rech­te“ haben nicht nur Teil an dem in Deutsch­land aus­ge­präg­ten Respekt vor dem Ver­fas­sungs­text, sie dürf­ten tat­säch­lich der Mehr­heit der Bür­ger als unver­zicht­ba­re Vor­aus­set­zung einer guten Ord­nung erschei­nen. Man mag im Ein­zel­fall dar­über strei­ten, wel­che kon­kre­ten Fol­gen ein Grund­recht hat, wie es im Ver­hält­nis zu ande­ren gedeu­tet wer­den muß, und es mag eine Kri­tik der Umset­zung von Grund­rechts­pos­tu­la­ten geben, – aber eine Kri­tik die­ser Rech­te selbst dürf­te den meis­ten Deut­schen unbe­greif­lich sein. Wenn man sie mit ihrer eige­nen Tra­di­ti­on der eher pes­si­mis­ti­schen Beur­tei­lung des Kon­zepts Men­schen­rech­te wie­der ver­traut machen will, muß man einen Umweg ein­schla­gen, heu­te heißt das: Den­ker zu Wor­te kom­men las­sen, die einen unbe­fan­ge­ne­ren Blick gewohnt sind, aus Län­dern, in denen die Debat­ten frei­er geführt wer­den kön­nen als hier.

Der Fran­zo­se Alain de Benoist ist so ein Den­ker, der in der Ver­gan­gen­heit schon oft unter Beweis gestellt hat, daß er ohne Scheu unbe­que­me Wahr­hei­ten aus­spricht und Din­ge in Fra­ge stellt, die nach all­ge­mei­ner Über­zeu­gung nicht in Fra­ge gestellt wer­den kön­nen. Sei­ne „Kri­tik der Men­schen­rech­te“ (Alain de Benoist: Kri­tik der Men­schen­rech­te. War­um und Uni­ver­sa­lis­mus und Glo­ba­li­sie­rung die Frei­heit bedro­hen, Edi­ti­on JF, Ber­lin 2004, kt, 166 S., 10.90 €) ist tat­säch­lich ein Gene­ral­an­griff auf die übli­chen Begrün­dungs­stra­te­gien, deren Ergeb­nis sich in drei Punk­ten zusam­men­fas­sen läßt:

(1) Die Men­schen­rech­te sind nicht zu recht­fer­ti­gen. Die klas­si­schen Kon­zep­te – der Rekurs auf Gott, auf die Natur oder die Ver­nunft – haben sich erle­digt. Die Vor­stel­lung von einem Schöp­fer, der die Men­schen als sein Eben­bild gemacht und inso­fern mit einer beson­de­ren Wür­de aus­ge­stat­tet hat, wird nur noch von einer Min­der­heit geteilt. Nor­ma­ti­ve Vor­stel­lun­gen von Natur erwie­sen sich als unhalt­bar, wenn sie einen har­mo­ni­schen Ide­al­zu­stand pos­tu­lier­ten, oder als unge­eig­net, da aus ihnen nur eine inhu­ma­ne, dem sur­vi­val of the fit­test ver­pflich­te­te Ord­nung abge­lei­tet wer­den könn­te. Die Ratio schließ­lich führt nicht zwin­gend zu der Auf­fas­sung, daß die Men­schen glei­che Rech­te genie­ßen sollten.

(2) Die Men­schen­rech­te sind nicht uni­ver­sal. Fak­tisch ist die ent­spre­chen­de Vor­stel­lung aus bestimm­ten anti­ken (Stoa) und christ­li­chen Denk­tra­di­tio­nen erwach­sen. Die meis­ten außer­eu­ro­päi­schen Kul­tu­ren ste­hen die­sem Kon­zept fremd gegen­über. Das hängt auch damit zusam­men, daß die Leh­re von den Men­schen­rech­te eine anti­po­li­ti­sche – das Poli­ti­sche durch das Juri­di­sche und das Mora­li­sche – und hoch indi­vi­dua­lis­ti­sche – den Ein­zel­nen grund­sätz­lich der Gemein­schaft vor­ord­nen­de – Ten­denz aufweisen.
(3) Die Men­schen­rech­te sind nicht prak­ti­ka­bel. Es ist ange­sichts der Reser­ve, die Benoist dem Chris­ten­tum gegen­über zeigt, wenig über­ra­schend, daß er die anti­po­li­ti­sche und die indi­vi­dua­lis­ti­sche Ten­denz in der „Men­schen­rechts­ideo­lo­gie“ zum Zen­trum der Kri­tik macht. Sei­ner Auf­fas­sung nach ver­nich­tet die­se Ideo­lo­gie gera­de das, was sie angeb­lich schüt­zen will: Frei­heit und Men­schen­wür­de. Durch die Beto­nung von Will­kürf­rei­heit, Iden­ti­fi­zie­rung von Recht und „Anspruch“ einer­seits und die erwie­se­ne Unfä­hig­keit, einen Aus­gleich zwi­schen Men­schen­rech­ten und Men­schen­pflich­ten her­zu­stel­len ande­rer­seits, zer­stör­ten die Ver­fech­ter der Men­schen­rech­te die jede Vor­aus­set­zung für das Bestehen von Rech­ten überhaupt.

Man wird die Bedeu­tung der Ein­wän­de, die Benoist gegen die Leh­re von den Men­schen­rech­ten erhebt, kaum bestrei­ten kön­nen. Er kann sich auf die Den­ker der Gegen­re­vo­lu­ti­on eben­so beru­fen wie auf die Ver­fech­ter des klas­si­schen Repu­bli­ka­nis­mus, auf die undog­ma­ti­sche Lin­ke eben­so wie auf die Kom­mu­ni­ta­ris­ten. Obwohl er sei­ne eige­ne Prä­fe­renz eher ver­deckt, gewinnt man den Ein­druck, als ob der zuletzt genann­ten Grup­pe sei­ne Sym­pa­thie gehört. Damit könn­te das neue Buch Benoists ohne Schwie­rig­keit in eine Ten­denz ein­ge­ord­net wer­den, die sich sei­nem Den­ken seit meh­re­ren Jah­ren able­sen läßt. Vor allem das, was er über die Bedeu­tung des Fak­tors „Kul­tur“ und die Idee einer „orga­ni­schen Demo­kra­tie“ schrieb, ist ohne Schwie­rig­keit mit dem hier geäu­ßer­ten zu verknüpfen.

In gewis­sem Sin­ne wird so eine Ver­schie­bung im Über­bau der fran­zö­si­schen Neu­en Rech­ten abge­schlos­sen. In deren Welt­an­schau­ung hat die Kri­tik der Men­schen­rech­te von Anfang an eine wich­ti­ge Rol­le gespielt. Aller­dings war die­se Absa­ge an das übli­che west­li­che Denk­mo­dell bis in die acht­zi­ger Jah­re mit der For­de­rung nach einer Art kul­tu­rel­ler Mon­roe-Dok­trin für den Groß­raum Euro­pa ver­bun­den, wäh­rend die ande­ren „Kul­tur­krei­se“ abge­kop­pelt und sich selbst über­las­sen wer­den soll­ten. Das war kon­se­quent gedacht, aber nicht durch­setz­bar. Damit scheint sich Benoist abge­fun­den zu haben, was ihn aller­dings vor das Pro­blem stellt, wie die immer noch gefor­der­te alter­na­ti­ve poli­ti­sche Ord­nung über­haupt auf­ge­baut wer­den könn­te. Die Ein­hei­ten, die er wohl als Aus­gangs­punkt anneh­men möch­te, sind nach sei­ner eige­nen Mei­nung in Auf­lö­sung begrif­fen, eine ande­re Art von Homo­ge­ni­tät ist schwer vor­stell­bar, die Mög­lich­keit, daß die Neu­schöp­fung einer Ord­nung an reli­giö­se Über­zeu­gun­gen gebun­den wer­den kann, wird nicht erwogen.

Benoist ver­weist in sei­nem Text mehr­fach auf Carl Schmitt, aber nicht auf des­sen The­se, daß alle poli­ti­schen Begrif­fe in ihrem Kern theo­lo­gi­sche Begrif­fe sind. Wenn man den reli­giö­sen Gehalt der Men­schen­rechts­leh­re ent­larvt, kann man das sinn­voll nur tun, weil man abso­lu­tes Zutrau­en zur Kraft der Ver­nunft hat, oder weil man den alten Glau­ben durch einen Gegen­glau­ben erset­zen möch­te. Ers­te­res ist bei Benoist nicht zu ver­mu­ten, über letz­te­res wüß­te man gern genau­es. Das auch, weil die aktu­el­le Ent­wick­lung dazu führt, daß Zwei­fel an den Men­schen­rech­ten als Legi­ti­ma­ti­ons­grund­la­ge für poli­ti­sches bezie­hungs­wei­se mili­tä­ri­sche­s­Han­deln wach­sen. Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat im Hin­blick auf das Ver­hal­ten der US-Sol­da­ten im Irak erklärt, es habe nie­mals in den ver­gan­ge­nen fünf­zig Jah­ren eine der­ar­ti­ge Häu­fung mas­si­ver Ver­stö­ße gegen die Men­schen­rech­te gege­ben und die­se erfol­ge letzt­lich im Namen der Men­schen­rech­te. Dahin­ter steht die nai­ve Vor­stel­lung, man müs­se sich nur mehr Mühe geben die Men­schen­rech­te ein­zu­hal­ten oder irgend­ei­ne Instanz schaf­fen – etwa die UNO – die zur effek­ti­ven Kon­trol­le in der Lage sei. Benoist wird die­se Argu­men­ta­ti­on mit gutem Grund für wenig­über­zeu­gend hal­ten, aber er läßt sei­ner­seits die Fra­ge unbe­ant­wor­tet, was denn an die Stel­le des letz­ten „Ankers“ (Ernst-Wolf­gang Böcken­för­de) Men­schen­rech­te tre­ten soll für jene, deren poli­ti­sche Ord­nung zer­stört wur­de und die des­halb aller ande­ren Rech­te entbehren.

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