Ist daran etwas anstößig? Bevor man mit Ja oder Nein antwortet, erscheint es geboten, über Marx und seine Auswirkungen nachzudenken. Schließlich haben – wie heute unbestritten – bekennende Marxisten den Tod von über 85 Millionen Menschen zu verantworten. Das „Schwarzbuch des Kommunismus“, vor fünf Jahren in Deutschland erschienen, bietet die Beweise. Da drängt sich die Frage auf, ob sich die Mörder zu Recht auf Marx berufen haben, oder ob diese Berufung auf einer Verkennung der Tatsachen beruht, ob der Name Marx vielleicht sogar absichtlich mißbraucht worden ist. Was heißt Marxismus? Ein Marxist würde antworten, der Marxismus setze sich aus dem dialektischen und dem historischen Materialismus zusammen. Politische Ökonomie bilde einen Hauptteil. Ferner biete er Antworten auf zeitlose und aktuelle politische Fragen.
Bei der Frage, wie er zu dieser Weltanschauung kam, sollte man berücksichtigen, daß auch Marx ein Produkt aus Umwelt und Anlage ist. Die Vorfahren von Karl Marx, väterlicher- wie mütterlicherseits, waren Juden, nicht wenige davon Rabbiner. Sein Vater, Heinrich Marx, trat etwa zwei Jahre vor Karls Geburt in die evangelische Kirche über. Karl selbst wurde im Alter von sechs Jahren getauft, seine Mutter ein Jahr später. Sein Vater war aufrichtig gottgläubig, aber nicht ausgesprochen fromm, seine Mutter wird als tief religiös geschildert. Seiner Konfession entsprechend nahm Karl am evangelischen Religionsunterricht, nicht aber am Wahlfach Hebräisch, teil. Sein Abituraufsatz in Religion behandelt das Thema „Die Vereinigung der Gläubigen mit Christo …“
Man könnte ebenso leicht die Ähnlichkeiten im Knochenaufbau eines Affen und eines Menschen leugnen wie diejenigen in der Struktur des Marxismus und des mosaisch-christlichen Weltbildes. Die Parallelen sind so frappierend, daß Zufall als Erklärung ausscheidet. Darüber ist man sich heute weitgehend einig. In der Zeit, in der die Marxsche Ideologie, der originäre Marxismus, Gestalt annimmt, ist Marx dem religiösen Denken ungewöhnlich stark verhaftet. Die Sprache ist voll religiöser Bilder, Ausdrücke, Strukturelemente.
Auch der Marxismus selbst, nicht nur Marxens Sprache, ist ein Spiegelbild des Offenbarungsglaubens bis hinein in die Details seiner Verwirklichung. Dem biblischen Garten Eden entspricht im Marxismus der Urzustand, wie er vor allem von Engels beschrieben worden ist. In ihm sind die vier klassischen kommunistischen Freiheiten schon verwirklicht: Freiheit von Arbeitsteilung, Freiheit von Privateigentum, Freiheit von Entfremdung und Freiheit von Ausbeutung.
Doch dann kommt der „Sündenfall“. Marx selbst ist es, der die Parallele zwischen Offenbarungsglauben und seiner Lehre zieht. Unter der Überschrift: „Das Geheimnis der ursprünglichen Akkumulation“ schreibt er: „Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde.“
Der Sündenfall ist Fluch und Segen zugleich. Im christlichen Glauben ist er deshalb auch ein Segen, weil so die Menschwerdung Gottes eingeleitet wurde. Nach Marx und Engels bedeutet die Ursünde die Negation des positiven Urzustandes. Die Negation der Negation ist Rückkehr zum Urzustand, aber auf höherer Ebene. Die vier bereits erwähnten Freiheiten werden ergänzt durch die Freiheit von Not und die Freiheit von Furcht. Das ist der perfekte Kommunismus. Doch zunächst muß der Fluch der Sünde ausgekostet werden. Das „Jammertal“, ein biblisches Wort, das auch Marx gebraucht, hat ein Ende. Hier wie dort wird ein Erlöser geboren.
Das Proletariat ist entfremdet wie Jesus in seiner höchsten Not, wenn er zum Vater, mit dem er wesenseins ist, ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!?“ Das Proletariat ist frei von der Hauptsünde der Ausbeutung. Christus ist das unschuldige Opferlamm. Es nimmt hinweg alle Sünde, wie das Proletariat aller Ungerechtigkeit ein Ende bereitet.
Obwohl geschmäht und geschändet, sind beide, Jesus wie das Proletariat, von einem besonderen Adel verklärt. Marx: „Rauchen, trinken, essen und so weiter sind nicht mehr da als Mittel der Verbindung oder als verbindende Mittel. Die Gesellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die wieder die Gesellschaft zum Zwecke hat, reicht ihnen hin, die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen, der Adel der Menschheit leuchtet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen.“
Nur durch die äußerste, alles Leid auslotende Erniedrigung erfüllen beide ihre Mission, bewirken die Heilung der Welt. Marx spricht das Proletariat als die „Klasse mit radikalen Ketten“ an, an der „das Unrecht schlechthin“ verübt wird.
Den Abschluß der Vorgeschichte der Menschheit bildet nach der Bibel das Jüngste Gericht, nach Marx die Kommunistische Revolution, jeweils ein furchterregendes, für viele schmerzliches Ereignis. Wieder ist es Marx selbst, der auf die Parallelen hinweist: „Der Traum vom nah bevorstehenden Untergang der Welt feuerte die primitiven Christen an in ihrem Kampf gegen das Römische Weltreich und gab ihnen Siegesgewißheit. Die wissenschaftliche Einsicht in die unvermeidbare und stetig unter unseren Augen vorgehende Zersetzung der herrschenden Gesellschaftsordnung … reicht hin als Bürgschaft, daß mit dem Moment des Ausbruchs einer wirklich proletarischen Revolution auch die Bedingungen ihres … Modus operandi gegeben sein werden.“
Das Jüngste Gericht und die proletarische Revolution läuten die glückliche Endzeit ein. Marx: „Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ Doch nur dem im Feuer geläuterten wird Zutritt gewährt. Der perfekte Kommunismus ist allein über den rohen Kommunismus, eine Art Gerichtsfeuer, zu erreichen.
Der perfekte Kommunismus ist das biblische Land der Verheißung, „in dem Milch und Honig fließen“, und wohin der Herr sein Volk führt. „Die Lösung aller Welträtsel“ als greifbar nahe und zugleich endlose Ewigkeit. Eine Endzeitlehre, die den Himmel auf Erden verheißt, den neuen Himmel und die neue Erde in eins verschmelzen läßt.
Als Marx sein 1835 in Bonn begonnenes Studium 1836 in Berlin fortsetzte, entfernte er sich rasch von der Juristerei und wandte sich der Philosophie zu. Obgleich er nicht mehr, wie gelegentlich fälschlich behauptet wird, zu Füßen Hegels saß – der war schon 1831 verstorben –, wurde Hegel für ihn jener Philosoph, dem er den größten Respekt zollte.
Sein Verhältnis zu Hegel beschreibt Marx am ausführlichsten im Vorwort zur zweiten Auflage von „Das Kapital“. Darin spendet er, bei aller Kritik, vorab hohes Lob: Er bekennt sich als „Schüler jenes großen Denkers“, der die „allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat“. Freilich, man muß Hegels Dialektik „umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.“ Bei Hegel vollzieht sich die Geschichte in drei Phasen: Vor aller Zeit ist der Geist. Er schafft die materielle Welt, die jedoch dem Geist fremd gegenübersteht. Der Geist als These und die Welt als Antithese. In dem Maße, in dem sich das Materielle vergeistigt: Menschwerdung, Staatenbildung, insbesondere der preußische Staat als „Verwirklichung der absoluten Idee“ – kommt es zur Synthese. Unstreitig ist, daß sich Marx von Hegel, so wie er ihn verstand, nachhaltig beeinflussen ließ, daß Hegels Dialektik ursächlich ist für die Dialektik des Karl Marx und seiner Anhängerschaft, wie dies beispielsweise in Marxens apodiktischer These zum Ausdruck kommt: „Der Kommunismus ist die Position als Negation der Negation, darum das wirkliche für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung.“
Im biblischen Bericht des Heilsplanes ist der Mensch ein Geschöpf Gottes, des ewigen, allmächtigen Geistes. Der Mensch verdankt ihm sein Dasein. In seiner Allmacht läßt er den Menschen teilhaben an seinem unendlichen Leben. Im Marxschen Materialismus hingegen ist der Mensch sein eigener Schöpfer, ein „Selbsterzeuger“.
Auch Hegel wurde von Marx einer gründlichen Metamorphose unterzogen, bevor er Eingang in die neue Lehre fand: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“
Hegels Sprache von „These“, „Antithese“, „Synthese“ – klingt versöhnlich, Marxens Sprache: Position, Negation, Negation der Negation – klingt brutal und radikal. Hier Dialog, dort Vernichtungskampf; hier Ausgleich, dort Sieg und Vernichtung. Noch wichtiger aber ist folgendes: Hegel vertrat die Ansicht, er und seine Zeitgenossen lebten schon in der Phase der Synthese, Marx hingegen behauptete, der Kapitalismus sei erst die zweite Phase, also die Phase der Negation der Position. Negation der Negation sei die Parole der Gegenwart, Kampf, Endsieg. Marx: „In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt …“ „Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation.“
Die Marxschen Travestien seines Bildungsgutes lassen sich in zwei Thesen zusammenfassen: Der Mensch ist sein eigener Schöpfer. Der Mensch hat „Gott“ gemacht. „Denn alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht“.
Beide Elemente waren in Marxens Sein und Denken signifikante Wirklichkeit, und zwar schon bevor er sich dem Sozialismus-Kommunismus verschrieb, also vor 1844. Viele Elemente aus Marxens Lehre werden aus charakterlichen Dispositionen von Marx plausibel. Mit Blick auf die Junghegelianer, insbesondere Marx, spricht Heinrich Heine von „gottlosen Selbstgöttern“: „Wie oft seitdem denke ich an die Geschichte dieses babylonischen Königs, der sich selbst für den lieben Gott hielt, aber von der Höhe seines Dünkels erbärmlich herabstürzte … In dem prachtvollgrandiosen Buch Daniel steht diese Legende, die ich nicht bloß dem guten Ruge, sondern auch meinem noch viel verstockteren Freund Marx.… diese gottlosen Selbstgötter, zur erbaulichen Beherzigung empfehle.“ Prometheus hat das Feuer vom Himmel auf die Erde geholt, Marx aber den Himmel selbst. Er ist der fleischgewordene Prometheus. Zeitgenossen, so der oben zitierte Heine, und Biographen kommen zum gleichen Ergebnis. Von den letzteren seien drei kurz zitiert.
Der marxistische Marx-Biograph Otto Rühle meint: „Der Drang zur Gottähnlichkeit formte den Lebensplan [von Karl Marx] und zieht die Leitlinie seines Schaffens und Wirkens.“
Fritz Raddatz gibt die Selbstvergottung von Marx mit Worten wieder, die bei Mönchsgemeinschaften auf Gott gemünzt sind: „Aufbegehren und Recken des Riesen Mensch ad maiorem gloriam Marxi“. und schließlich Arnold Künzli: „Man kann die Parallele Marx – Prometheus beinahe bis ins Unendliche ziehen.“
Marx ist der Geist, der alles verneint, Himmel und Erde: Seine Religionsfeindschaft ist hinlänglich bekannt. Sein Ausspruch: „Die Religion … ist das Opium des Volkes“ ist geradezu zu einer Redewendung geworden. Seiner eigenen Rasse stand der Jude Marx feindselig gegenüber. Den philosophischen Zeitgeist hat er mit beißendem Spott verfolgt.
Wie ein roter Faden durchziehen das Marxsche Werk Aussagen wie: „Rücksichtslose Kritik alles Bestehenden“, „Krieg den deutschen Zuständen“, „Man muß jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse (den Schandfleck) der deutschen Gesellschaft schildern …“
Nochmals sei betont, daß alle diese Äußerungen aus der „vormarxistischen“ Periode stammen; doch Gleichartiges findet sich selbstverständlich auch, ja erst recht später.
Der Vater, Heinrich Marx, ist um Karl rührend besorgt. Er setzt auf ihn große Hoffnungen: „Mein Herz schwelgt zuweilen in Gedanken an dich und deine Zukunft. Und dennoch, zuweilen kann ich mich trauriger, ahnender, furchterregender Ideen nicht entschlagen, wenn sich wie ein Blitz der Gedanke einschleicht: Ob dein Herz deinem Kopfe, deinen Anlagen entspricht? – Ob es Raum hat für die irdischen, aber sanften Gefühle, die in diesem Jammertale den fühlenden Menschen so wesentlich trostreich sind?“
Der Vater beklagt die Zerrissenheit seines Sohnes, seine frühe Entfremdung, seinen Egoismus und seine Neigung, andere auszubeuten:
„Ich hatte mehrere Briefe geschrieben, die manche Auskunft verlangten. Und statt alles dessen ein fragmentarisch abgerissener, und was noch viel schlimmer ist, ein zerrissener Brief. – Offenherzig gesprochen, mein lieber Karl, ich liebe dies moderne Wort nicht, worin sich alle Schwächlinge hüllen, wenn sie mit der Welt hadern, daß sie nicht ohne alle Arbeit und Mühe wohl möblierte Palaste mit Millionen und Equipagen besitzen. Diese Zerrissenheit ist mir ekelhaft, und von Dir erwarte ich sie am allerwenigsten“ und „… ich leugne nicht, daß ich mir zuweilen Vorwürfe mache, allzu schwach Dir den Zügel gelassen zu haben. So sind wir jetzt im vierten Monat des Justizjahrs, und schon hast Du 280 Taler gezogen. So viel hab‘ ich diesen Winter noch nicht verdient.“
Sind die Vorwürfe des Vaters an den Sohn nicht dieselben, die der Sohn gegenüber seiner Umwelt erhebt, Laster, die dem Kommunismus fremd sein sollen: Keine Zerrissenheit, da keine Arbeitsteilung, keine Entfremdung, keine Ausbeutung, kein Streit um das liebe Geld. Indem Marx seine Gebrechen als die in der Klassengesellschaft notwendigen Gebrechen diagnostiziert, entlastet er sich von möglichen Gewissensbissen, erteilt er sich selbst die Absolution und liefert so das schönste Exempel für die Sozialisierung von Privatneurosen.