Die gestrige Trauerfeier mit ca. 35 000 Besuchern im Stadion von Hannover 96 war eine der größten seit Bestehen der Bundesrepublik – das ist unglaublich. Vor dem Stadion wurde eine Großleinwand für weitere Zuschauer aufgebaut, fünf Fernsehsender übertrugen live und gefühlte 90 Prozent der Zeitungen verarbeiteten über Tage hinweg den tragischen Selbstmord des Fußballnationaltorwarts (acht Länderspiele) in Titelstorys.
Bei der Trauerfeier schließlich sprachen nicht nur Sportfunktionäre, sondern auch Politiker. Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) betonte: „Die Welt ist nicht im Lot.“ Die Menschen sollten aus dem Selbstmord des an Depressionen leidenden Enke lernen. Für Jedermann müsse es möglich sein, Schwächen zu zeigen. „Wir brauchen keine fehlerfreien Roboter“, so der Ministerpräsident.
Die gestrige Trauerfeier war ein massenmedial zelebriertes Makroritual, bei dem gesellschaftliche Werte neu verhandelt wurden und eine Läuterung inszeniert wurde. Wenn dies zu mehr Sensibilität gegenüber an Depressionen erkrankten Menschen und zu maßvollerem Leistungsdenken führen sollte, dann hat die Feier ihre Funktion erfüllt.
Ich habe aber Zweifel daran. Für wahrscheinlicher halte ich es, daß nach dem Erlöschen der Aufmerksamkeit für den Fall alles so weiterläuft wie bisher und beim Fußball geht es eben darum, zu gewinnen. Die Faszination des Wettstreits „Sieg oder Niederlage“ könnte auch die kollektive Anteilnahme am Schicksal von Robert Enke erklären, denn er verkörpert durch seinen Freitod den sympathischen „Anti-Helden“, der letztlich an der Größe seiner persönlichen Aufgabe gescheitert ist.
Die Medien haben diese dramaturgische Kostellation für sich gewinnbringend genutzt. Christian Paschwitz von Sport1.de kritisiert zurecht, daß sie die Trauerfeier zu einem unverhältnismäßig großen Event aufgebaut haben:
Gefehlt hätte schließlich nur noch eine Fan-Meile mit Robert-Enke-Devotionalien und der Bau eines Mausoleums. Doch auch so schon wirft die morbide Anteilnahme und der Quasi-Todes-Tourismus ein Schlaglicht auf die moralische Beschaffenheit unseres Landes. Denn: Respekt und Ehrfurcht gegenüber einem Toten nehmen sich irritierend-seltsam aus, wenn das Sterben der deutschen Nummer eins plötzlich eine größere Wahrnehmung erfährt als Robert Enkes Leben. Vielleicht ist es auch verquerer Zeitgeist, der eigentliches Sensationsgeheische mit öffentlichkeitswirksamem Mitgefühl zu verwässern sucht. Begleitet zudem von einem immer stärker werdenden Betroffenheitsjournalismus, der gerade bei den selbst erklärten Gutmenschen offene Türen einrennt.
Ein weiterer Punkt stimmt mich nachdenklich: In den letzten Tagen wurde von fast allen, die öffentlich das Wort zu Enke ergriffen haben, der Anschein erweckt, Depressionen könne man nur gesamtgesellschaftlich heilen. Ganz nach dem Motto: Jedes Problem bedarf einer kollektiven Lösung. Die Wortführer überschätzen dabei ihre Heilungskräfte maßlos. Ich bin auf dem Gebiet zwar ein Laie, aber – ganz allgemein ausgedrückt – gerade bei psychischen Krankheiten kommt doch dem persönlichen Umfeld eine Schlüsselrolle zu. Vielleicht sollte man, anstatt immer gleich nach gesellschaftlichen Lösungen zu schreien, darüber nachdenken, wie funktionierende Gemeinschaften gestärkt werden könnten. Das wäre weniger populär, aber langfristig vielleicht der richtige Ansatz, um die „Volkskrankheit Depressionen“ (vier Millionen erkrankte Deutsche) einzudämmen.
Sauerteig
Wahrscheinlich ist die beinahe kollektive Trauer um Robert Enke Ausdruck eines verloren gegangenen Wir-Gefühls, das sich hier diffus ventiliert.
Ist auch kein Zufall, dass als Ersatz von Religiosität und Heldentum der Fußball dafür der ideale Nährboden zu sein scheint.
Warum soll die deutsche Volksseele nicht kollektiv trauern dürfen. Billigt man ihr doch zu, wenigstens umgangssprachlich, manchmal zu kochen.
Seinem ursprünglichen Sinn entgegen hat sich ja bei öffentlichen Reden der Volkstrauertag zum Volksreuetag gewandelt. Ist doch der Volkstrauertag der Deutschen mehrheitlich denen gewidmet wird, welchen wir Leid angetan haben.
Ein Volk will aber wohl doch trauern, die Seele will (soll) trauern um zu gesunden.
In Ermangelung nationaler Identität sucht sich etwas Verborgenes, meinetwegen auch Dumpfes, ganz unbewusst, einem Triebe gleich, allen Widerständen zum Trotz, den Weg zum Licht, um so zu wachsen.