Öffentliche Trauer: Nach dem Selbstmord von Robert Enke

"Enkes Selbstmord wirkte auf einmal wie ein beliebiger Anlass für eine massenhafte Lust am eigenen Gefühlsrausch", schreibt der Publizist Richard Wagner in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

 

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

Die gest­ri­ge Trau­er­fei­er mit ca. 35 000 Besu­chern im Sta­di­on von Han­no­ver 96 war eine der größ­ten seit Bestehen der Bun­des­re­pu­blik – das ist unglaub­lich. Vor dem Sta­di­on wur­de eine Groß­lein­wand für wei­te­re Zuschau­er auf­ge­baut, fünf Fern­seh­sen­der über­tru­gen live und gefühl­te 90 Pro­zent der Zei­tun­gen ver­ar­bei­te­ten über Tage hin­weg den tra­gi­schen Selbst­mord des Fuß­ball­na­tio­nal­tor­warts (acht Län­der­spie­le) in Titelstorys.

Bei der Trau­er­fei­er schließ­lich spra­chen nicht nur Sport­funk­tio­nä­re, son­dern auch Poli­ti­ker. Nie­der­sach­sens Minis­ter­prä­si­dent Chris­ti­an Wulff (CDU) beton­te: „Die Welt ist nicht im Lot.“ Die Men­schen soll­ten aus dem Selbst­mord des an Depres­sio­nen lei­den­den Enke ler­nen. Für Jeder­mann müs­se es mög­lich sein, Schwä­chen zu zei­gen. „Wir brau­chen kei­ne feh­ler­frei­en Robo­ter“, so der Ministerpräsident.

Die gest­ri­ge Trau­er­fei­er war ein mas­sen­me­di­al zele­brier­tes Makro­ri­tu­al, bei dem gesell­schaft­li­che Wer­te neu ver­han­delt wur­den und eine Läu­te­rung insze­niert wur­de. Wenn dies zu mehr Sen­si­bi­li­tät gegen­über an Depres­sio­nen erkrank­ten Men­schen und zu maß­vol­le­rem Leis­tungs­den­ken füh­ren soll­te, dann hat die Fei­er ihre Funk­ti­on erfüllt.

Ich habe aber Zwei­fel dar­an. Für wahr­schein­li­cher hal­te ich es, daß nach dem Erlö­schen der Auf­merk­sam­keit für den Fall alles so wei­ter­läuft wie bis­her und beim Fuß­ball geht es eben dar­um, zu gewin­nen. Die Fas­zi­na­ti­on des Wett­streits „Sieg oder Nie­der­la­ge“ könn­te auch die kol­lek­ti­ve Anteil­nah­me am Schick­sal von Robert Enke erklä­ren, denn er ver­kör­pert durch sei­nen Frei­tod den sym­pa­thi­schen „Anti-Hel­den“, der letzt­lich an der Grö­ße sei­ner per­sön­li­chen Auf­ga­be geschei­tert ist.

Die Medi­en haben die­se dra­ma­tur­gi­sche Kostel­la­ti­on für sich gewinn­brin­gend genutzt. Chris­ti­an Paschwitz von Sport1.de kri­ti­siert zurecht, daß sie die Trau­er­fei­er zu einem unver­hält­nis­mä­ßig gro­ßen Event auf­ge­baut haben:

Gefehlt hät­te schließ­lich nur noch eine Fan-Mei­le mit Robert-Enke-Devo­tio­na­li­en und der Bau eines Mau­so­le­ums. Doch auch so schon wirft die mor­bi­de Anteil­nah­me und der Qua­si-Todes-Tou­ris­mus ein Schlag­licht auf die mora­li­sche Beschaf­fen­heit unse­res Lan­des. Denn: Respekt und Ehr­furcht gegen­über einem Toten neh­men sich irri­tie­rend-selt­sam aus, wenn das Ster­ben der deut­schen Num­mer eins plötz­lich eine grö­ße­re Wahr­neh­mung erfährt als Robert Enkes Leben. Viel­leicht ist es auch ver­que­rer Zeit­geist, der eigent­li­ches Sen­sa­ti­ons­ge­hei­sche mit öffent­lich­keits­wirk­sa­mem Mit­ge­fühl zu ver­wäs­sern sucht. Beglei­tet zudem von einem immer stär­ker wer­den­den Betrof­fen­heits­jour­na­lis­mus, der gera­de bei den selbst erklär­ten Gut­men­schen offe­ne Türen einrennt.

Ein wei­te­rer Punkt stimmt mich nach­denk­lich: In den letz­ten Tagen wur­de von fast allen, die öffent­lich das Wort zu Enke ergrif­fen haben, der Anschein erweckt, Depres­sio­nen kön­ne man nur gesamt­ge­sell­schaft­lich hei­len. Ganz nach dem Mot­to: Jedes Pro­blem bedarf einer kol­lek­ti­ven Lösung. Die Wort­füh­rer über­schät­zen dabei ihre Hei­lungs­kräf­te maß­los. Ich bin auf dem Gebiet zwar ein Laie, aber – ganz all­ge­mein aus­ge­drückt – gera­de bei psy­chi­schen Krank­hei­ten kommt doch dem per­sön­li­chen Umfeld eine Schlüs­sel­rol­le zu. Viel­leicht soll­te man, anstatt immer gleich nach gesell­schaft­li­chen Lösun­gen zu schrei­en, dar­über nach­den­ken, wie funk­tio­nie­ren­de Gemein­schaf­ten gestärkt wer­den könn­ten. Das wäre weni­ger popu­lär, aber lang­fris­tig viel­leicht der rich­ti­ge Ansatz, um die „Volks­krank­heit Depres­sio­nen“ (vier Mil­lio­nen erkrank­te Deut­sche) einzudämmen.

Felix Menzel

Felix Menzel ist Chefredakteur des Schülerblogs blauenarzisse.de.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (20)

Sauerteig

16. November 2009 19:18

Wahrscheinlich ist die beinahe kollektive Trauer um Robert Enke Ausdruck eines verloren gegangenen Wir-Gefühls, das sich hier diffus ventiliert.

Ist auch kein Zufall, dass als Ersatz von Religiosität und Heldentum der Fußball dafür der ideale Nährboden zu sein scheint.

Warum soll die deutsche Volksseele nicht kollektiv trauern dürfen. Billigt man ihr doch zu, wenigstens umgangssprachlich, manchmal zu kochen.

Seinem ursprünglichen Sinn entgegen hat sich ja bei öffentlichen Reden der Volkstrauertag zum Volksreuetag gewandelt. Ist doch der Volkstrauertag der Deutschen mehrheitlich denen gewidmet wird, welchen wir Leid angetan haben.

Ein Volk will aber wohl doch trauern, die Seele will (soll) trauern um zu gesunden.

In Ermangelung nationaler Identität sucht sich etwas Verborgenes, meinetwegen auch Dumpfes, ganz unbewusst, einem Triebe gleich, allen Widerständen zum Trotz, den Weg zum Licht, um so zu wachsen.

Löffelstiel

16. November 2009 21:03

Da ist etwas in Tränen und Trauer hervorgebrochen, ohne Zweifel ein Zeichen dafür, dass die traditionellen Tage im November und in der Karwoche dafür nicht mehr genutzt werden. Die Zeichen an der Wand werden (nicht mehr) verstanden. DAs war schon so, als AIDS ausbrach.
Vor noch nicht allzulanger Zeit waren am Volkstrauertag/Karfreitag, sogar in der DDR, die Kneipen geschlossen, die Radiosender brachten getragene Musik. Auflösungserscheinung ins Vage allenthalben. Heutzutage fühlen sich die Instanzen nicht mehr dafür verantwortlich, obwohl sie doch die Verantwortlichen sein wollen, dafür gewählt wurden und dafür bezahlt werden. Das ist jedem selbst überlassen, sagt man. Das nennt sich Freiheit. Individuelle Freiheit. Es fehlen die Rituale. Der kleinste gemeinsame Nenner von Gemeinschaft zufällig; beliebig (Weltmeisterschaft; Roland Enke). Die Mächtigen zelebrieren Rituale, allerdings ohne das Volk (Sarkossi-Merkel, 20. Jahrestag mit Absperrungen ohne Ende) Jeder Würdenträger in tausendjähriger Geschichte war weniger abgesichert, abgeschottet vom Volk als Abertausende sog. und selbsterwählte Verantwortungs-Träger.
Depression - 'nur' eine Krankheit? Auche ein gängiger Begriff in der Finanzwelt. Zufall?

godeysen

16. November 2009 21:34

Zwei unbequeme Einsichten:
1. Auch wenn die Psychiater und Psychotherapeuten dies bestreiten: Depressionen sind offenbar eine Zivilisationskrankheit. Unsere Gesellschaft (bzw. der Einzelne in unserer Gesellschaft) neigt aber dazu, alle psychischen Störungen an ihrer Oberfläche zu kurieren. Das ist beim "Zappelphilipp-Syndrom" nicht anders.
2. Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungen ist nach wie vor nicht erwiesen. Psychotherapie ist ein Versuch, der auf bestimmten unbewiesenen Annahmen beruht. - Woher psychische Störungen wirklich kommen, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen.

Eine wirklich sinnvolle Konsequenz aus dieser Gewißheit der Ungewißheit bestünde darin, die gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne grundsätzlich in Frage zu stellen: Hochleistungserwartung, Ackermann-Gehälter, Glamour ebenso wie das heillose Wachstum einer leistungsunfähigen Unterschicht, kulturelle Beliebigkeit, den Verlust innerer Heimat.
Könnte es sein, dass ein Mensch, der Millionen für das Halten von Bällen bekommt, immer mehr das Mißverhältnis zwischen dem Sinn seiner Arbeit und dem materiellen Wert spürt, den die Gesellschaft dieser Arbeit zumißt? Könnte es sein, daß so ein Mensch, wenn er nachdenklich ist, es nicht mehr erträgt, daß sein Status nur nach diesen Augenblicksleistungen definiert wird? Fragen, die Theresa Enke vielleicht beantworten könnte.

PB

16. November 2009 23:27

Einige der ikonographisch anmutenden Szenenbilder vom Samstag kamen einem von irgendwoher bekannt vor: die schlichte Beschaffenheit des Sarges (>> JP II), die Musik zum Film (>>9/11), das Wegtragen des Leichnams (über die Stufen des Reichstags, >>W.B. 92). Und es existieren Fotos davon, wie auf einer gesperrten Autobahn sich ein Fahrzeugkonvoi zur letzten Ruhestätte Enkes bewegt. Die optische Analogie zu diesem aktuellen Vorgang schwankt ungefähr zwischen der Überführung Diana Spencers nach Althorp (1997) und der letzten Rheinfahrt Adenauers auf dem Heck eines Schnellboots der Bundesmarine nach Rhöndorf im Jahr 1967.

Mir wäre es sicher aufgefallen, wenn auch nur einer der öffentlich-rechtlichen Kommentatoren dieses Vorgangs einen Vergleich gezogen hätte zu ganz ähnlichen Erscheinungsformen der Rührung und Anteilnahme zahlreicher Mitmenschen an dem Schicksal von Verstorbenen, die es während einer bestimmten Phase unserer Geschichte in großer Zahl gegeben hat.

Aber einen solchen, unerhörten Vergleich zu ziehen, der in vielerlei Hinsicht doch so nahegelegen hätte, hat sich nun doch keiner dieser auf- und abgeklärten Welterklärer getraut: haben denn nicht schon A.H. (= 18 *g) und seine psychologisch hochprofessionellen Propagandaberater alles daran gesetzt, die dunkle, metaphysisch-irrationale Seite der menschlichen Psyche sich zu Nutze zu machen ?

Welchen anderen Zweck hätten denn sonst die zahllosen Totenfeiern verfolgt, die während der Zeit des "Dritten Reiches" abgehalten wurden, wenn nicht den, einen künstlich und absichtsvoll geschaffenen Moment kollektiv erlebbarer Irrationalität dazu zu benutzen, die situative Gemeinschaftlichkeit auf die bei dieser Gelegenheit unterschwellig propagierten Ziele zu projizieren.

Die planvolle Choreographie des Schreitens eines zeitgeschichtlichen Idols durch die Mitte einer Menschenaufstellung, der Moment einer simulierten "Zwiesprache" mit der anschließenden , teils erlösenden, teils sich mit neuen Problemen aufladenen rituellen "Rückkehr" in den Alltag: all dies wurde der Erlebnisgeneration hundertfach vorexerziert und hat sich in Filmdokumenten auch den Zuschauern der Gegenwart zumindest als optische Überlieferung erhalten.

Schon damals haben derartige Inszenierungen die Beobachter zu Tränen gerührt. Wer sich heute eingesteht, dass ihm sowas angesichts der Bilder von Hannover widerfahren ist, wird einräumen müssen, dass die Generation der Großväter und Großmütter lediglich den gleichen Emotionen nachgegeben hat, denen nachgegeben zu haben ihnen ihre Enkel allzu häufig - gedankenlos - vorzuwerfen pflegen.

nico

16. November 2009 23:40

Mir stößt diese distanzlose Anteilnahme von Hinz und Kunz auch irgendwie auf. Böse wird es wohl keiner meinen, aber die meisten nutzen das wohl irgendwie als "Event", als Abwechslung, und andere um ihnen dienliche Ziele zu erreichen (wir brauchen mehr Engagement, also Geld, für dies und das).
Im Ntv-Ticker war gestern zunächst die Meldung "DFB will Thema Depression enttabuisieren" zu lesen, gefolgt von "DFB will Homosexualität enttabuisieren". Und wieder sind kreative Quantensprünge in der Kausalitätenbildung zu verzeichnen.
Zu Enke selbst: Ich wundere mich, dass es in der "Debatte" nur um Versagensängste und Depressionen geht. Auch ich bin ein Laie auf dem Gebiet, aber als ich den Vater Enkes im Interview gehört habe, der sagte, dass Enke am Bett seiner kleinen Tochter schlief, als diese im Krankenhaus lag und er durch gescheiterte Reanimierungsversuche aufgeweckt worden sei, da habe ich ihn das erste mal verstehen können.
Lichtschlag hat auf ef geschrieben, dass ein Mann an sowas vielleicht auch einfach zerbrechen könne.
Das klingt für mich nachvollziehbarer, als das Gequatsche über das harte Fußballgeschäft, das Gekreische nach mehr Betreuung (war Enke nicht in Behandlung?, nur genützt hat es offenbar nichts) oder auch die Vermutung meines "Vorredners", Enke habe sich überbezahlt gefühlt.

Rudolf

17. November 2009 01:25

Es ist natürlich recht erstaunlich, dass sich diese Emotionen nun ausgerechnet beim (Frei)Tod eines Fußballspielers, der zu Lebzeiten noch nicht einmal wahnsinnig populär war, entladen.

Unglaublich oder negativ finde ich das ganze aber nicht.

Stellen wir uns einmal vor, eine solche Anteilnahme gäbe es auch für politik-relevante Vorfälle.

Stellen wir uns vor 30.000 Menschen nähmen Anteil am nächsten von (üblicherweise migrantischen) Jugendlichen erstochenen oder totgeschlagenen ÖPNV-Nutzer...

Philipp

17. November 2009 10:37

@godeysen

Oh ja, die Moderne und die technisierte und atomisierte Welt ist Schuld an Depressionen und ein verlorengegangener Gemeinschaftssinn.

Das ist doch alles Unfug. Die Ursachen von Depressionen liegen zum Großteil genetischen Einflußfaktoren und daraus resultierend Störungen bestimmter Neurotransmittersysteme zurgrunde und werden nicht durch irgendwelche Missverhältnisse im Realleben ausgelöst. Das hat auch nichts mit schlecht drauf sein oder so zu tun.

Und von wegen Wirksamkeit etwaiger Therapien. Es gibt da definitiv zuverlässige Medikamente, die dazu in der Lage sind die diversen Neurotransmitterspiegel wieder ins Gleichgewicht zu bringen

Waddi

17. November 2009 12:32

Ich finds eher unglaublich und dabei auch äußerst negativ. Lady Di, Michael Jackson. War ja klar, dass sich die deutschen Medienverantwortlichen da nicht verstecken wollen und praktisch dazu gezwungen wurden, das spektakulärste Megatrauerevent zu veranstalten. Wozu hat man denn Jahrelang irgendwas mit Medien studiert ;)

Robert Enke - die Lady Di der Deutschen

venator

17. November 2009 13:24

Diese massenhysterischen Phänomene nehmen zu, das ist ein gefährliches Vorzeichen: Klimawahn (Die Erde geht unter!), Kampf gegen Rechts (als moderne Inquisition), Schweinegrippe sieben Millionen Tote!) und jetzt das Heldengedenken für einen depressiven Torwart. Die kollektive Seele ist zurzeit eindeutig disponiert, sich massenhysterisch zu entladen. Hieran sind die Medien als Verstärker natürlich entscheidend beteiligt. Auch Kriege beginnen mit solchen Massenhysterien nebst kollektiven Hass- und Paranoia-Ausbrüchen. Kann es sein, dass in einem langen Frieden die Bereitschaft zur Hysterie wächst, wie es ja auch vor dem I. WK zu beobachten war? Das lässt nichts Gutes für die Zukunft ahnen.

Hesperiolus

17. November 2009 14:40

Depression als leitpathologischer Schlagschatten der spätmodernen Verfassung scheint mir unabweisbar. Jedes Zeitalter m a c h t sich seine Krankheiten, wie Friedell es sagt, die ebenso zu seiner Physiognomie gehören wie alles andere, was es hervorbringt: sie sind gerade so gut seine spezifischen Erzeugnisse wie seine Kunst, seine Strategie, seine Religion, seine Physik, seine Wirtschaft, seine Erotik und sämtliche übrigen Lebensäußerungen, sie sind gewissermaßen seine Erfindungen und Entdeckungen auf dem Gebiete des Pathologischen. Es ist der Geist, der sich den Körper baut: immer ist der Geist das Primäre, beim einzelnen wie bei der Gesamtheit.
Die Masse reagiert auf den Sturz eines ihrer Gladiatoren, aus dem Nationaltor unter den Vorortzug ermisst dieser die Extreme des Bühnenraums und streicht ihn durch, anders als bei Adolf Merckle stürzt aber eine Ikone und verglüht als Symbol. Die Affektlogik des Betroffenheitskollektivs ist weitaus konsequenter als bei Diana Spencer und inszeniertem Sentimentalismus zu Trotz auch angemessener.
Entgegen allen Soma-Szientokraten sei festgehalten: Zu einem von beiden läd brave new world ein: Selbstabschaffungs- oder Umsturzplänen!

M.L.

17. November 2009 15:09

Die Ursachen von Depressionen liegen zum Großteil genetischen Einflußfaktoren und daraus resultierend Störungen bestimmter Neurotransmittersysteme zurgrunde und werden nicht durch irgendwelche Missverhältnisse im Realleben ausgelöst.

Wenn, dann ist eher das Unfug und zwar ein gründlicher.

Löffelstiel

17. November 2009 17:01

Lieber Godeysen,
Oh ja, die Moderne und die technisierte und atomisierte Welt ist schuld...
Oh ja, wenngleich nicht nur. Oh, ja, gesichert ist in der Psychiatrie seit -zig Jahren die Vererbbarkeit gaewisser Anlagen, genannt '(Familien-Anamnese'). Wer wöllte aber bestreiten, dass Alkohol Leberzirrhose, Rauchen Lungenkrebs, Stress Herzattacken, Adipositas Rückenbeschwerden usw., wenn schon nicht hervorrruft, so doch tiefgreifend zu beeinflussen vermag. Unser Gehirnkasten ist kein abgeschlossener Tressor, sondern durch äußere Begebenheiten mächtig beeinflussbar, im schlimmsten Fall bis zum Wahnsinn, im gelungenen Leben durch Lebens- und Schaffensfreude, im erwählten Fall durch - Erleuchtung. Inzwischen kann dies durch Labor- und Computeruntersuchungen schwarz auf weiß bestätigt werden. Die klinische Diagnostik der Botenstoffe sagt viel aus, aber nicht mehr aus als ein Blutbild. Diagnostische Methodik, aber nicht die Ursachen.
Bei Roland Ehnke handelte es sich sicher um eine schwere Krankheit, aber auch ein Phänomen, eine Metapher über die (politische) Jahreszeit mitten im November, über (deutschen) Schwer-Mut, über allgemeine Konvusion in der Sinnfrage: Was soll ich hier eigentlich auf dieser gottgewollten, gottverdammten Erde... Kaum ein Arzt, Politiker, kein Pfarrer, vor allem kein Psychotherapeut hat heutzutage die segnende Kraft eines Seel-Sorgers für den Gelähmten "Steh auf und wandle..." Man mag über Regligion denken wie man will, wenn alle Trauertage ideologisert, mehrfach politisch besetzt werden, zugleich aber der Volks-Trauertag, der Buß- und Bettag entmündigt werden, darf man sich nicht wundern, wenn sich Pseudoreligiöses, Irrationales Bahn bricht in Bächen von Tränen. Das Fatale daran ist nur, dass dieser Trauermarsch in Windeseile von Machern ohne Ende und Zahl instrumentalisiert und vereinnamt worden ist. Was folgte dem Innehalten? (Herr Zwanziger ist, großspurig wie immer, sofort auf anderen VIP-Veranstaltungen gesichtet worden.)

Nico

17. November 2009 19:48

Dass es hilfreiche Medikamente gibt, will ich nicht bestreiten. Aber bei jemandem, der seine kleine Tochter auf besagte Weise verlor, nur von Depressionen durch Leistungsdruck zu reden, kann ich nicht nachvollziehen (Warum der DFB jetzt auch Homosexualität "enttabuisieren" will, verstehe wer will)
Die tatsache, dass es wirksame Medikamente gibt, spräche ja dafür, dass Enke seine Letztentscheidung nicht an einer medikamentös behandelbaren Depression festmachte. Dann hätte er ja einfach Pillen schlucken können (in "Therapie" soll er ja gewesen sein...).
Also doch ein gebrochenes Herz, das keine Pille flicken konnte?
Darauf mit "ja" zu antworten ist aber nicht so lukrativ und gutmenschlich wie nach Geldern und "Enttabuisierungen" zu schreien.

Thorsten

17. November 2009 21:24

Seltsam Sache das. Irritierend auch das ständige Geklatsche während der "Trauerfeier". Naja, besser wäre wohl der Begriff Fußballfest. Es war dies sicher eines, nur ohne Ball und statt naiver Fröhlichkeit oberflächliche Trauer. Ein Event, an das man sich noch lange erinnert in jedem Fall. Fast besser wie normaler Fußball. Ist ja eh immer dasselbe. Von daher: Guter Abgang vom Enke. Was für ein prächtiges Erlebnis für uns.

M.

17. November 2009 21:42

"Wir blicken auf die Megamaschine der Moderne mit ihren explodierenden, implodierenden und zunehmend konvergierenden Mechanismen ('Globalisierung'), also auf dieses ganz und gar Gemachte, Artefaktische, wie auf ein 'Natur'-Ereignis, das mit der unberechenbaren Eigendynamik einer Urgewalt über uns hereinbricht und nur noch durch bedingungslose Unterwerfung einigermaßen 'beherrscht' werden kann. Gleichzeitig verwandelt sich die ganze Welt der authentischen Person und ihrer Beziehungen in ein bewußt Gestaltbares, Machbares, Herstellbares: Wir kompensieren unsere sklavische Unterwerfung unter das Diktat der mechanistisch-toten Anonymität durch heroische Selbstgestaltungen, die in dieser Form gar nicht realisierbar sind. Auch wenn uns unsere Welt zunehmend entgleitet, und zwar in entwürdigender Weise, so versuchen wir doch alles, um wenigstens noch eine 'gute Figur zu machen'.
Der spätmoderne Mensch präsentiert sich, auf allen Ebenen der Intellektualität, Weltmächtigkeit und auch im Privaten, als ziemlich lächerliche und realitätsflüchtige Figur. Die mentale Selbstversklavung des spätmodernen Typs in Gestalt der erniedrigenden und hoffnungsfrohen Unterwerfung unter den Terror der anonymen Mechanismen und des autistischen Objektivs kann durch nichts in der Welt kompensiert werden."

--J. Erik Mertz, Borderline - Weder tot noch lebendig

godeysen

18. November 2009 00:36

@Philipp

Soso.
Genetische Ursachen sind bei einer so hohen Erkrankungshäufigkeit äußerst unwahrscheinlich. 10% der Bevölkerung mit einem genetischen Defekt dieses Ausmaßes? Sicher nicht.
Pillen gibt es gegen alles Mögliche; sie "stellen den Organismus ein", aber nur, solange man sie nimmt. Doch sie machen weder ein totes Kind wieder lebendig, noch heilen sie die sonstigen vielfältigen äußeren Ursachen der Verzweiflung.

Rudolf

18. November 2009 03:25

M.L. und Philipp:

Soweit mein zu diesem Thema bescheidenes Wissen reicht, gibt es sogenannte endogene, das heißt von innen und ohe erkennbaren äußeren Grund enstandene, und exogene, also durch äußere Einflüsse geschaffene, Depressionen.

Paracelsus

18. November 2009 10:55

@ Phlilipp

"Das ist doch alles Unfug. Die Ursachen von Depressionen liegen zum Großteil genetischen Einflußfaktoren und daraus resultierend Störungen bestimmter Neurotransmittersysteme zurgrunde und werden nicht durch irgendwelche Missverhältnisse im Realleben ausgelöst. Das hat auch nichts mit schlecht drauf sein oder so zu tun. "

Was Herr Philipp hier schreibt, muss leider selbst als UNfug bezeichnet werden.

Es gibt tatsächlich seit Jahrzehnten eine Neurotransmitterhypothese der Depression und anderer psychiatrischer Erkrankungen. Nach wie vor handelt es sich dabei aber nicht um eine gesicherte Erkenntnis, sondern, wie gesagt, um Hypothesen. Es ist mitnichten bekannt, wie sich genau die Erhöhung oder Erniedrigung von beispielsweise Serotoninkonzentrationen im synaptischen Spalt von bestimmten Nervenbahnen auf das Erleben von depressiver Stimmung und z.B. Antriebslosigkeit auswirkt. Es gibt dazu viele kluge Gedanken, aber kein Wissen.
Die Neurotransmitterthese ist also ein brauchbares Modell, um sich Depression biochemisch vorstellen zu können.
Wenn man aber meint, mit diesem Modell andere Seinsebenen des Menschen einfach wegdiskutieren zu können, begibt man sich auf das Gebiet der Scheinwissenschaft. Das hat mit einem klaren naturwissenschaftlichen Denken nichts mehr gemein. (Das gilt auch dann, wenn es heutzutage in Medizinerkreisen üblich geworden ist, genau so zu denken und zu sprechen.)

Die genetische Basis depressiver Erkrankungen ist ebenso eine wichtige Grundlage, aber auch nicht als alleiniges Erklärungsmodell geeigtet. Die Äusserungen von Philipp sind an dieser Stelle ebenso nur als Scheinwissenschaft zu bezeichnen.

Die naturwissenschaftliche Forschung ist in den letzten Jahren dabei, sogenannte "epigenetische" Phänomene zu erforschen, wodurch eine Verbindung von Erleben, beispielsweise von Vernachlässigung in der Kindheit, und genetischer Aktivität von Serotoninrezeptorrelevanten Genabschnitten gefunden wird.

Fazit: es ist immer gut, sich monokausaler Erklärungsmodelle zu enthalten und vielleicht erst einmal zu lauschen, was ein depressiv Erkrankter erlebt hat und welches Heilungspotential in ihm steckt.

Im übrigen sind die bei den hier versammelten Kommentaren abgegebenen Urteile über Psychiatrie und Psychotherapie recht einseitig ausgefallen.
Ob jemand zum Seelsorger oder zum Therapeuten welcher Art auch immer geht: immer sollte bewusst sein, dass Linderung oder Heilung sowohl die Hilfestellung und Begleitung von aussen benötigt, als auch und vor allem die innere Bereitschaft, selbst an sich und z.B. seinen depressiogenen Verhaltensmustern zu arbeiten.

M.

18. November 2009 23:24

"Depression, so argumentieren einige Sozialpsychologen, ist die Folge einer tiefen Ernüchterung, eines besonders klaren Blicks auf das Getriebe der Welt um uns herum. Depressive Verzagtheit entsteht durch die Erkenntnis, dass die Welt unverbesserlich und auch durch noch so große Anstrengung nicht zum Guten zu verändern ist. Depressive sind im Grunde Hyperrealisten, sie sind nicht mehr fähig zu jenen lebensnotwendigen positiven Illusionen, die uns – entgegen der Wahrscheinlichkeit – immer wieder neu beginnen und auch das unmöglich Erscheinende versuchen lassen. Depressive haben die rosarote Brille abgelegt, sie sind 'sadder but wiser' – aber ihre Klugheit macht sie krank. In der Depression liegt die Anerkennung der eigenen Machtlosigkeit: Es hat doch alles keinen Zweck! Positive Illusionen, das zeigt die psychologische Forschung, sind die permanenten und systematischen Selbstüberschätzungen, die wir brauchen, um morgens überhaupt aufzustehen. Nur wenn wir uns mehr zutrauen, als es unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten entspricht, fassen wir Lebensmut und riskieren etwas. Zum gesunden Menschsein gehört offenbar ein Mindestmaß an Verkennung von Realitäten und fast mutwilliger Unterschätzung der Schwierigkeiten. Die Passivität, die mit einer Depression häufig einhergeht, ist nach den Erkenntnissen der neueren Forschung in erster Linie ein Selbstschutzmechanismus der überforderten Psyche. Das erschöpfte Selbst zieht sich in eine Schonhaltung zurück."
- Heiko Ernst, Wie uns der Teufel reitet

Toni Roidl

19. November 2009 09:40

Während der Volkstrauertag völlig vergessen ist und keine Rolle mehr spielt, bringt ein toter Fußballer zehntausende zum Weinen, Scheigen und Händefalten. Das zeigt doch, dass trotz des schäbigen Wegwerfens traditionellen Totengedenkens eine allgemeine Sehnsucht nach solchen spirituellen Riten vorhanden ist. Vielleicht muss man geradezu dankbar sein, dass wenigstens der Fußball dafür noch einen Kristallisationspunkt bietet. Beim Feiern des eigenen Patriotismus ist das ja inzwischen auch so. Fußball als Surrogat für kulturelle Identität.

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.