Bekannt wurde Sofsky mit dem Traktat über die Gewalt, das sich phänomenologisch den menschlichen Abgründen näherte. Den eigentlichen Kern der Gewalt sah Sofsky in seiner kulturstiftenden Funktion: Weil wir uns gegenseitig bedrohen, schließen wir Verträge ab – in der Hoffnung, daß sich alle daran halten. Damit könnte die Geschichte zu Ende sein und die Utopie vom friedlichen Zusammenleben in Erfüllung gehen.
Der Grund für das Scheitern solcher Hoffnungen liegt im Menschen selbst. Die Resultate der Philosophischen Anthropologie lassen keinen anderen Schluß zu, egal ob man ihn als Mängelwesen, als weltoffenes oder exzentrisches Wesen auffaßt. Der Mensch ist aus »krummem Holz« (Kant) geschnitzt und kann sich sowohl von der Vernunft als auch dem Bösen leiten lassen. Die Charaktereigenschaften, die dafür verantwortlich sind, bezeichnet man als Laster. Das Buch der Laster (München: C.H. Beck 2009. 272 S, geb, 19.90 €) hat Wolfgang Sofsky geschrieben, um noch einmal eindringlich auf die Ursache menschlicher Schlechtigkeit hinzuweisen. Es ist weniger »das Böse« oder der gezielte Regelverstoß, der die Ordnung zum Einsturz bringt, als die ganz normalen und weitverbreiteten Laster und Unsitten, denen man oft auf den ersten Blick nicht ansieht, welche Folgen sich aus ihnen ergeben können.
Sofsky hat dazu den klassischen Katalog weit aufgefächert. Die sieben Hauptlaster (oftmals auch unter der Bezeichnung »sieben Todsünden « zu finden, was nicht ganz korrekt ist, da sie erst die Todsünden, etwa den Abfall vom Glauben, ermöglichen) erweitert Sofsky auf achtzehn Laster, die sehr unterschiedlich sind. So reicht das Spektrum von der Gleichgültigkeit über die Torheit und den Hochmut bis hin zur Grausamkeit. Die erste Frage wäre, wodurch sich diese Eigenschaften als Laster qualifizieren. Da der religiöse Hintergrund bei Sofsky vollständig ausgeblendet ist, muß es ein anderes Maß geben als das der gottgewollten Lebensweise und Tugenden. Bei Sofsky ist das Maß der Mensch – das Ich – und der andere Mensch und damit die Gemeinschaft. Jede dieser Eigenschaften ist Ursache für eigene Unfreiheit (man leidet an sich selbst oder den anderen) oder Zerrüttung der gesellschaftlichen Norm.
Die metaphysische Frage nach dem Bösen interessiert Sofsky dabei nicht. Er geht von einer konzentrierten Beschreibung des jeweiligen Lasters aus und versucht dann die Ursachen und Folgen dieser Eigenschaft nachzuverfolgen. In diesen knappen Charakterisierungen zeigt sich Sofskys sprachliche Meisterschaft. Vulgarität: »Nicht aus Unkenntnis, Gedankenlosigkeit oder Protest mißachtet der Rüpel die Etikette, sondern aus innerer Unfreiheit. Da er keinen Abstand zu sich hat, ist er jeder Neigung ausgeliefert. Fortwährend müßte er sich entschuldigen, bemerkte er nur, wie er andere beunruhigt, erschreckt, beleidigt. « Hochmut: »Ein wenig zu hoch trägt er die Nase, schwer lasten die Lider auf den Augen, müde betrachtet er, was vor sich geht, ein kurzes Aufblitzen, ein spöttisches Lächeln in den Mundwinkeln, dann wieder der Blick der Langeweile, der längst alles gesehen hat.« Die Laster grenzt Sofsky dabei gegen andere, läßliche Unsitten ab, so beispielsweise den Hochmut gegen Prahlerei und Selbstgefälligkeit. In anderen Fällen gelingt das Sofsky nicht so eindeutig: Wo verläuft die Grenze zwischen Geiz und Sparsamkeit? Der Grat, der zwischen einem bloßen Laster und der Möglichkeit einer daraus entspringenden außergewöhnlichen Leistung verläuft, ist oftmals schmal: »Elite ist derjenige, der geringschätzt, was ihm mühelos zufällt, und seiner nur würdig erachtet, was mit Anstrengung zu erreichen ist.« Entscheidend ist dann, wie er auf die »Minderleister« herabblickt.
Damit wäre nicht mehr gewonnen als eine unterhaltsame und eindringliche Beschreibung der menschlichen Laster, in der man sich nicht selten wiederfindet. Es gibt graduelle Abstufungen, sowohl zwischen den Lastern als auch in der Intensivität, mit der eine Person einem oder mehreren Lastern frönen kann. Alltäglich sind nicht die Extreme, sondern die Anfälligkeit für das moralische Versacken überhaupt. Sofsky stellt gleich am Anfang fest: »Die moralische Verbesserung des Gattungswesens ist ausgeblieben. Die Hoffnung auf die Vervollkommnung des Menschengeschlechts, die einst zu den Grundpfeilern der modernen Ideologie gehörte, hat sich nicht erfüllt.« Daß es mit der Güte und Besonnenheit des Menschen nicht weit her sein kann, war die Grundüberzeugung der biblischen Überlieferung, die mit der Aufklärung in Frage gestellt wurde. Sofsky nennt als gängige Erklärungsmuster die Indifferenz gegenüber den eigenen Lastern und denen anderer, den Relativismus, der als Toleranz getarnt Unsitten akzeptiert und den Kausalismus, der moralische Entlastung verspricht, indem er auf Bedingungen des Handelns verweist, die wir nicht steuern können.
Aber die Welt geht nicht auf und Sofsky formuliert mit Nietzsche: »Was seine moralische Verfassung anbelangt, ist der Mensch mitnichten festgelegt. Er ist und bleibt riskant und gefährlich. Wegen seiner Zukunftsoffenheit bedarf er der Moral.« Moral versteht Sofsky dabei nicht als Gutsein, sondern als Abwehr des Bösen, insbesondere, um die Menschen vor Übergriffen anderer zu schützen. Sein Buch bezeichnet er daher als »ein bescheidenes, negatives Programm zur Verteidigung der Freiheit«. Die »Kritik der Laster« will die Verwahrlosung und den Stumpfsinn aufhalten, ohne ihm ein positives Gegenprogramm entgegenzustellen – einfach aus der Erwägung heraus, daß die Natur des Menschen zu mildern, aber nicht zu ändern ist. Es liegt ein großer Unterschied zwischen der Gedankenlosigkeit, mit der unmoralisch gehandelt wird, und dem Vorsatz, sich den Normen der Moral ganz bewußt zu verweigern. Allen ist jedoch die Verantwortung für ihr Tun zugeschrieben: »Nicht die Pflicht, sondern die Verpflichtung gegen sich selbst, nicht die Norm, sondern der Charakter, nicht Absichten, sondern Haltungen lenken das Handeln der Person. « Insofern ist die Lasterhaftigkeit des Menschen von seinem Verhältnis zu sich selbst abhängig, was bedeutet, daß er den Lastern entsagen kann. Die Nichtfestlegung des Menschen hat in beide Richtungen bestand.
Sofsky legt dabei großen Wert auf die Verantwortung des Einzelnen für sein Handeln. Das setzt voraus, daß es ihm wirklich möglich ist, von den Lastern zu lassen. Und das nicht einfach durch eine abschreckende Strafe, die noch Kant für jeden empfahl, der meinte, er könne nicht anders, sondern durch Einsicht. Dennoch ist, wie Sofsky betont, das Projekt der Verbesserung gescheitert. Woran liegt das? Zweifellos an der Natur des Menschen, die offenbar einen Hang zum Laster und nicht zur Tugend hat. Wenn dies vergessen wird, nimmt der Ansporn ab, sich um das Gute zu bemühen, weil der Mensch sich in der ruhigen Gewißheit wiegt, von Natur aus zum Guten zu tendieren. Nicht umsonst, so Sofsky, gehört Leichtgläubigkeit »zu den Grundlagen moderner Demokratie«. Auch sie ist ein Laster.