Mohler bezog sich vor allem auf den Mann der Betrachtungen eines Unpolitischen, jenes zuerst 1918 erschienenen Buches, das der Autor später zu korrigieren, dann vergessen zu machen suchte, als er auf die Seite der liberalen Demokratie übergegangen war, das ihn aber unter die Geburtshelfer der Konservativen Revolution stellt. In seinem Kommentar zu den Betrachtungen, der jetzt als Band 13 der Großen Frankfurter Ausgabe von Manns Werken erschien, hat Hermann Kurzke nicht nur Seite für Seite die Anspielungen, die Zitate, Übernahmen und Exzerpte erläutert, sondern auch die Entstehungsund Wirkungsgeschichte des Buches rekonstruiert.
Das Werden des Buches zu klären, war um so schwieriger, als Mann seine Tagebücher aus der Zeit des Ersten Weltkriegs während der Jahre im amerikanischen Exil verbrannt hat und Kurzke auf Briefe, die erhaltenen Teile der Bibliothek und Rückschlüsse aus dem Inhalt angewiesen war. Was er zu Tage fördert, ist im einzelnen wenig überraschend, etwa die Menge direkter oder indirekter Bezugnahmen auf Nietzsche oder Taine, Dostojewski oder Lagarde, Carlyle oder Hegel, die Bedeutung der konservativen Tagespresse, der Süddeutschen Monatshefte oder der Traktatliteratur und die Selbstverständlichkeit, mit der alle Topoi der »Ideen von 1914« vorkommen. Erstaunlicher schon, in welchem Maß sich Mann bei anderen Autoren bedient hat, wie viele ausgesprochen glänzende Formulierungen eigentlich nicht auf ihn selbst zurückgehen. Solche Unselbständigkeit macht sich auch im weltanschaulichen Kern bemerkbar, und man wird angesichts dessen, was Kurzke anführt, seinem Urteil kaum widersprechen: »So stellt Thomas Mann sich zwar in die Tradition des konservativen Denkens, kennt aber deren klassische Texte (Burke, Gentz, Tocqueville) und Gegentexte (Rousseau, Robespierre, Proudhon) nicht oder nur marginal und sekundär.«
Was die Kommentierung der Betrachtungen und die Darstellung ihrer Entstehungsgeschichte angeht, hat Kurzke eine gültige, in ihrer Gelehrsamkeit beeindruckende Arbeit vorgelegt. Auch das längst anerkannte Bild des politisierenden Schriftstellers Mann, der sich seiner Sache nie ganz sicher war, mit seiner scharfen Absage an den »Zivilisationsliteraten« doch auch sich selbst meinen mußte und das ironisch wieder zurücknahm; der mit der Dekadenz kokettierte, wenn er an ihr litt, wird kaum zu bestreiten sein. Aber es gibt bei Kurzke eine Neigung, diese Aspekte überzubetonen und Mann auch da politisch nicht ernstzunehmen, wo er es verdient hätte, oder genauer: wo seine Umwelt der Meinung war, daß er ernstgenommen werden mußte und er den Verlauf der politischen beziehungsweise metapolitischen Debatte mitbestimmte. Dieses Defizit hat zu tun mit einer partiellen Wahrnehmungsschwäche Kurzkes im Hinblick auf die Rezeption der Betrachtungen. Er kennt offenbar einen Teil der Quellen nicht oder nicht genau genug, die hätten herangezogen werden müssen, vor allem die Zeitschriften der Konservativen Revolution. Das Bild der Diskussion in den Zirkeln der altund neurechten Intelligenz, das er zeichnet, hätte dadurch ergänzt, teils korrigiert werden können. Die Wirkung der Betrachtungen war jedenfalls nicht episodisch. Sie ist auch nicht mit einem Verweis auf den Widerwillen von Adolf Bartels zu erledigen, wie Kurzke nahelegt. Die Enttäuschung über den »gewendeten« Thomas Mann, den man zum eigenen Lager gerechnet hatte, wirkte lange nach. Das von Kurzke herangezogene Material ist dafür nicht repräsentativ, wohl aber die Erbitterung und Enttäuschung eines so rabiaten Bürgerfeindes und Nationalisten wie Friedrich Georg Jünger, der noch 1928 (in einer Rezension des Zauberbergs) mit dem Gesinnungswandel haderte.
Das Bemühen, die Betrachtungen eines Unpolitischen zu marginalisieren, als eine Art Fehltritt und für unerheblich zu erklären, entspricht Wünschen der Mann-Verehrer wie der Mann-Verächter. Die einen hätten ihn am liebsten nur als Schriftsteller, die anderen sehen in ihm einen vaterlandslosen Gesellen, den, wenn sonst nichts, dann seine Rundfunkbeiträge für die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs richten. Aber so einfach kann man es sich mit diesem Autor und den Betrachtungen nicht machen. Um noch einmal auf die Parallele Mann-Maurras zu kommen: David Levy schrieb, niemand könne von sich sagen, daß er zur Rechten gehöre, wenn er nicht bei der Lektüre von Maurras regelmäßig das Empfinden habe: »So ist es!« Dasselbe ließe sich von der Lektüre der Betrachtungen sagen.
(Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd 13.1 (Text) und Bd 13.2 (Kommentar), herausgegeben, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Hermann Kurzke, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2009. 644 + 781 S., in Kassette, 80.00 €)