In der Diskussion, die sich daran anschloß, wurde der blinde Fleck heftig bestritten. Doch gemessen an der Wucht des Ereignisses, konnten nur wenige Gegenbeispiele angeführt werden. Gewiß, es gab die Tagebücher und den Bericht Der Untergang von Hans Erich Nossack, der den Vernichtungsangriff auf Hamburg im Juli 1943 erlebt hatte. Gert Ledigs Vergeltung, ein vergessener Roman aus den fünfziger Jahren, von dem noch die Rede sein wird, erlebte eine verdiente Renaissance. Im Roman Die Bertinis von Ralph Giordano wird in panischen Bildern gleichfalls vom Angriff auf Hamburg berichtet. Andere Werke haben wenigstens mittelbar mit dem Bombenkrieg zu tun. Heinrich Bölls frühe Erzählungen spielen in zerbombten Trümmerlandschaften. Gleiches gilt für Erzählungen von Anna Seghers, die sie nach der Rückkehr aus dem mexikanischen Exil 1947 verfaßte und in denen der Vergleich der äußeren mit den Trümmern im Innern der Menschen einen durchgehenden Topos bildet. Der Roman Wem die Steine Antwort geben von Hildegard Maria Rauchfuß spielt im zerstörten Dresden. Die Mitarbeit am Wiederaufbau des Zwingers führt eine Bürgertochter zu der Entscheidung für die DDR. Inzwischen müßte noch auf jeden Fall Walter Kempowskis Echolot hinzugefügt werden. Doch keines der deutschen Prosawerke hat eine Bekanntheit wie der Roman Schlachthof 5 des Amerikaners Kurt Vonneguts erlangt.
Vonnegut hatte als Kriegsgefangener im Keller eines Schlachthauses den Angriff auf Dresden miterlebt.
Was ist die Ursache der dichterischen Abstinenz? Sebald: »Das nahezu gänzliche Fehlen von tieferen Verstörungen im Seelenleben der deutschen Nation läßt darauf schließen, daß die neue bundesrepublikanische Gesellschaft die in der Zeit ihrer Vorgeschichte gemachten Erfahrungen einem perfekt funktionierenden Mechanismus der Verdrängung überantwortet hat, der es ihr erlaubt, ihre eigene Entstehung aus der absoluten Degradation faktisch anzuerkennen, zugleich aber aus ihrem Gefühlshaushalt völlig auszuschalten, wenn nicht gar zu einem Ruhmesblatt im Register dessen zu machen, was man erfolgreich und ohne ein Anzeichen innerer Schwäche alles überstanden hat.« Das ist eine Paraphrase des BRD-Klassikers Die Unfähigkeit zu trauern von Margarete und Alexander Mitscherlich. Sie erklärten die emotionale Teilnahmslosigkeit der Nachkriegsgesellschaft damit, daß die nationalsozialistische Dehumanisierung weitgehend verinnerlicht worden war. Die Deutschen konnten sich, so die These, keine Trauer um eigene Verluste und Leiden gestatten, weil sie auch ihre Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen, aus denen ihr Leid hervorgegangen war, verdrängten und beschwiegen.
Die von Sebald erwähnte Degradation war die ins Körperliche eingesenkte totale Niederlage. Der Bombenkrieg führte zur faktischen Termitenexistenz Millionen Deutscher. Es war weniger Verhärtung als natürliche Scham, die ein Schweigen darüber gebot. Zudem legten die außen- und bündnispolitischen Konstellationen im Kalten Krieg nahe, sich nicht auf die Erinnerung an den Bombenkrieg zu kaprizieren. Die Mächte, die Deutschland eben noch bombardiert hatten, gewährten der Bundesrepublik nun Schutz vor der Sowjetunion. Daraus ergaben sich Bündnisverpflichtungen politischer und moralischer Art, die faktisch auf ein Trauerverbot hinausliefen. Es empfahl sich, die eigene Trauer wenigstens für die Öffentlichkeit auf Eis zu legen oder sukzessive die Lesart des Siegers zu übernehmen.
Und schließlich: Welchem Schriftsteller wäre es erlaubt worden, mit Büchern über den Bombenkrieg Karriere zu machen? Sebald weist selber darauf hin, daß die Autoren der »inneren Emigration« nichts darüber schrieben, weil eine wirklichkeitsnahe Schilderung des Grauens sie bei den Alliierten in Mißkredit gebracht hätte. Er spricht von einer »so gut wie restlos diskreditierten Gesellschaft«, die gehemmt und befangen war, »weil ein Volk, das Millionen von Menschen in Lagern ermordet und zu Tode geschunden hatte, von den Siegermächten unmöglich Auskunft verlangen konnte über die militärische Logik, die die Zerstörung der deutschen Städte diktierte«.
Sehen wir einmal vom impliziten Kollektivschuld-Vorwurf ab. Ein Schuldgefühl war zweifellos verbreitet in Deutschland. Der Lübecker Pfarrer Karl Friedrich Stellbrink nannte in seiner Predigt zum Palmsonntag 1942 den Angriff auf die Stadt vom Vortag ein Gottesgericht (was er mit dem Leben bezahlte). Die Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, die einer Widerstandsgruppe angehörte und untergetauchte Juden versorgte, führte in dieser Zeit ein Tagebuch, das sie stets mit in den Luftschutzkeller nahm und das nach dem Krieg unter dem Titel Der Schattenmann veröffentlicht wurde. Darin werden die Bombenangriffe sehr plastisch geschildert und zugleich ein Schuldzusammenhang hergestellt. Am 28. Februar 1943, an einem Sonntag, hält sie die Verhaftung von Berliner Juden fest. Zwei Tage später notiert sie: »Die Engländer haben die Untat gerächt. Mit einem Großangriff auf Berlin, wie er bisher nicht seinesgleichen sah. 160.000 Menschen, sagt man, sind obdachlos geworden. Es brennt in der Stadt und in allen West- und Südwestvororten. Schwefelgelb raucht die Luft. (…) Kaum einer versteht, daß die Folge von heute der Anlaß von gestern sein kann. Der Anlaß Coventry, der Anlaß Dünkirchen, der Anlaß Judengreuel, Städte ausradieren und Konzentrationslager. Der Besen, der Deutschland judenrein kehrt, will nicht mehr in die Ecke zurück. Und die Geister, die man rief, die wird man nun nicht los.« Hier ist die Mystifikation der Vergeltungslogik in ihrer ganzen Verwirrung auf den Punkt gebracht. Die Industriestadt Coventry mit ihren Fahrzeug- und Flugmotorenwerken sowie den Munitionsfabriken war am 14. November 1940 Ziel eines deutschen Luftangriffs, bei dem dreiviertel der über die Stadt verteilten Industrie zerstört wurden. 568 Menschen kamen ums Leben – ein Ausmaß, das vom moral bombing der Briten gegen die deutsche Zivilbevölkerung weit übertroffen wurde. Und im nordfranzösischen Dünkirchen war im Frühjahr 1940 die britische Expeditionsarmee durch einen Haltebefehl Hitlers in die Lage versetzt worden, sich über den Kanal nach England zu retten. Den Briten wurde so eine schmachvolle Niederlage erspart, vielleicht um ihnen einen gesichtswahrenden Friedensschluß zu ermöglichen.
Die verquere Logik findet sich auch in Luise Rinsers Roman Der schwarze Esel. Rinser war 1984 von den Grünen als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten aufgestellt worden. 1944 hatte man sie wegen defätistischer Äußerungen verhaftet, weshalb sie den Ruf einer Widerständlerin genoß. Im Schwarzen Esel ist von einem Pfarrer die Rede, der in seiner Kirche von einer Bombe getötet wurde. Eine Gedenktafel vermerkt, daß er starb, während er für die Rettung der Stadt betete. Im Verlauf der Handlung ergibt sich jedoch, daß er wahrscheinlich für die Vernichtung der Stadt betete, und zwar in der Nachfolge eines Fluchs, den eine deportierte Jüdin ausgestoßen hatte. Als Luise Rinser Mitte der achtziger Jahre zu einem Vortrag in Leipzig weilte, fragte ich sie nach dem beabsichtigten Inhalt des Gebets. Sie sagte sehr klar: »Feuer auf diese Stadt!« Jahre später stellte sich heraus, daß Rinser auf Hitler ein Huldigungsgedicht verfaßt hatte. Aus solchen »Jugendsünden« entsteht oft das Bedürfnis, sich nachträglich desto vehementer auf die Seite zu stellen, die moralisch und historisch als die richtige galt.
Das – neben Gert Ledigs – beste Belletristik-Werk zum Thema ist Jörg Friedrichs Der Brand, obwohl es sich um ein Sachbuch handelt. Sein Erfolg verdankt sich wesentlich seiner Erzählweise, die von Kritikern als »reißerisch« bezeichnet worden ist: Ein abwegiger Einwand, denn Friedrich war etwas gelungen, was normale Wissenschaftsprosa nicht erfüllen konnte: Er schuf Empathie, Einfühlung, indem er Ablauf und Wirkung der Bombardements in die narrativen Strukturen einsenkte. Das Stakkato der kurzen Sätze steht für die dichte Sequenz der Einschläge, die gestauchte Syntax für ihre Wucht: Die Bombe »zerstört Materie, Stein, Gestell, Körper. « Die Bedrohung am Himmel heißt »Bomber Command«. Der Begriff meint zum einen das britische Oberkommando über die Bomberflotte als Ganzes (und seinen wohl berühmtesten Oberbefehlshaber Arthur Harris), aber auch die jeweiligen Bomberpulks im Anflug auf deutsche Städte. Mit diesem metonymischen Verfahren wird herausgestellt, daß der Luftkrieg von Individuen befohlen und betrieben wurde, die zugleich Teil eines zwanghaften Zusammenhangs waren, der sie entpersonalisierte. Das Mechanische und Entmenschte des Vorgangs, die Abwesenheit von Moral, ist in jedem Satz gegenwärtig. Bei der Beschreibung der Städte und ihrer baulichen Schönheiten läßt Friedrich den Tonfall der Elegie anklingen. Elegien sind Totenklage, aber auch Beschwörung von Ideen, die die materiellen Verluste überdauern. Friedrichs Buch ist sprachlich beeindruckend und viel mehr als ein Geschichtsbuch, eine bittere »Comédie humaine«. Im Nachfolgebuch, dem Fotoband Brandstätten, hat er dieses Niveau nicht mehr erreicht. Um der Wirkung der grausamen Bilder zu entsprechen, versuchte er die Sprache in noch suggestivere Höhen zu schrauben, aus der sie jedoch in das seichte Gewässer falscher Metaphern abstürzt. Der Abwehrschirm aus Radaranlagen, Abfangjägern und Scheinwerferbatterien, den Deutschland gegen die Bomber spannte, wird mythisch überhöht: »Das Reich wähnte sich dahinter unverletzlich wie der hürnene Siegfried. Der anfliegende Feind muß die Schutzhülle überwinden, wird kenntlich, durchbohrt und kommt zu Fall.« Doch in der Nibelungensage wird Siegfried durch einen Speer getötet, den Hagen in die verwundbare Stelle seiner Schulter bohrt. Die feindlichen Bomber entsprechen dem Speer. Dem wortgewaltigen Verfasser unterlief eine Katachrese, ein Verstoß gegen die Einheit des gewählten Bildes, was die Schwierigkeit unterstreicht, den Bombenkrieg sprachlich und künstlerisch zu bewältigen.
Dies ist jedoch einem anderen Schriftsteller gelungen: Gert Ledig in seinem Roman Vergeltung, der 1956 in der Bundesrepublik erschien. Hier ist festgehalten, was in die deutsche Nachkriegsliteratur so selten Eingang fand: die Rache der Sieger, die Leiden der Besiegten. Das Buch schildert einen mehr als einstündigen Bombenangriff auf eine deutsche Stadt, wahrscheinlich München, am 2. Juli 1944. Es besteht aus einer kurzen Einleitung und 13 Kapiteln, denen jeweils Selbstporträts von Opfern vorangestellt sind: eine Kontoristin, ein Germanist, ein Rentner, eine Milchverkäuferin, ein Arzt, der Fähnrich eines Sonderkommandos im Osten und andere. Auch ein abgeschossener amerikanischer Flieger torkelt in einen Luftschutzkeller und stirbt. Das Buch beginnt: »Lasset die Kindlein zu mir kommen. – Als die erste Bombe fiel, schleuderte der Luftdruck die toten Kinder gegen die Mauer. Sie waren vorgestern in einem Keller erstickt. Man hatte sie auf den Friedhof gelegt, weil ihre Väter an der Front kämpften und man ihre Mütter erst suchen mußte. Man fand nur noch eine. Aber die war unter den Trümmern zerquetscht. So sah die Vergeltung aus.« In der Schlußszene reißen die Bomben in einer Kirche Jesus vom Kreuz und in einer Entbindungsstation den Säuglingen die Haut vom Kopf. Ein getöteter Flakhelfer schreibt posthum an seine Mutter: »Nach der siebzigsten Minute wurde weiter gebombt. Die Vergeltung verrichtete ihre Arbeit. Sie war unaufhaltsam. Nur das Jüngste Gericht. Das war sie nicht.«
Ledig war, als er den Roman beendete, 35 Jahre alt. Sein Buch war und bleibt einzigartig in der deutschen Nachkriegsliteratur und übertrifft zum Beispiel alles, was der populäre Heinrich Böll über das Kriegserlebnis geschrieben hat. Dennoch wurde es von der Kritik und vom Publikum zurückgewiesen. Zehn Jahre nach dem Krieg, so ein Rezensent, lehne der Leser Darstellungen ab, »die jeden positiv gerichteten metaphysischen Hintergrund und Ausblick vermissen lassen«. Doch welcher metaphysische Hintergrund und Ausblick wäre das gewesen? Als Katharsis, der den Menschen auf seinen existentiellen Kern zurückführte, ließ der Bombenkrieg sich nicht deuten, denn er zielte dezidiert auf dessen materielle und immaterielle Zerstörung. Das hatte Ledigs Buch klar gezeigt. Den Ausweg, das mechanisierte und unterschiedslose Morden als das Walten einer höheren Gerechtigkeit zu interpretieren, sei es im religiösen oder im geschichtsphilosophischen Sinne, hatte Ledig mit dem letzten Satz seines Buches ausdrücklich verschlossen. Doch sehnten die deutschen Leser sich nach solchen Notausgängen. Die Selbstbegegnung hingegen, die Ledig ihnen zumutete, war ihnen unerträglich. Und sie war wohl auch politisch nicht gewollt. Im Kulturbetrieb blieb Ledig ein Außenseiter. Die »diskreditierte Gesellschaft« war eben auch eine entwurzelte und restlos besiegte.
Sebalds Vorlesungen wurden in der deutschen Presse ausführlich rezipiert, und wie so oft war vom »Tabubruch« die Rede. Doch kann rückblickend keine Rede davon sein, daß seine Vorträge einen neuen Abschnitt in der Literatur eingeleitet oder vorbereitet hätten. Er hatte zur anhaltenden Selbstblockade beigetragen, indem er eine Diskussion über die Voraussetzungen, die den monierten Defiziten zugrunde lagen, präventiv abwehrte. Laut Sebald mußte jede Beschäftigung mit dem Luftkrieg zur Voraussetzung haben, daß es »lange vor dem Anlaufen der Luftkriegskampagne der Alliierten im gesamten Machtbereich der Deutschen zur Entrechtung, Enteignung, Exilierung und systematischen Vernichtung der Juden« gekommen war.
Auch das ist eine Hilfskonstruktion, denn bei der Planung des alliierten Bombenkriegs spielte der Holocaust keine Rolle. Jörg Friedrich zitiert im Brand Winston Churchill. Für den Fall, daß die deutsche Westfront 1918 hielt, hatte der damalige britische Kriegsminister für 1919 einen Tausend-Bomber-Angriff auf Berlin vorgesehen. Die Schlacht wurde nicht geschlagen, aber ihre Ideen lebten weiter. »Zum ersten Mal«, schrieb Churchill 1925, »bietet sich einer Gruppe gesitteter Menschen die Möglichkeit, die andere Gruppe zu völliger Hilflosigkeit zu verdammen.« Ein Zustand, der sich 65 Jahre nach Kriegsende im Zustand der Wortlosigkeit fortschreibt.