Der mediale Grundtenor zur Demokratiefrage lautet so: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sondern Ergebnis historischer Entwicklungen, auf denen man sich nicht ausruhen soll. Demokratie bleibt reformbedürftig, ihre Vitalisierung hängt von der Eindämmung fremdenfeindlicher Einstellungen ab, Partizipation ist dabei der Schlüssel zur Integration in die demokratische Gesellschaft.
Es war jedoch stets die Leistung philosophischer Kulturkritik, das Modell des sich „demokratisch” proklamierenden Staates zu entlarven, um aus dem Fortschrittsglauben, der politischen und damit auch demokratischen Utopie einer realisierten Mündigkeit herauszutreten. Die Vermassung in Großstädten, die Standardisierung der Verhaltensweisen sowie das Erschleichen sozialer Bindungen durch wuchernde und entmündigende staatliche Bürokratien wurden zum Thema der Wissenschaft. Die Benennungen jener Tendenzen, sind breit gefächert. Bei Karl Jaspers war es der Apparat, bei José Ortega y Gasset die Massengesellschaft und bei Oswald Spengler die Zivilisation.
Ein Blick auf die politische Gegenwart bestätigt: Die Wertbestimmung des Menschen innerhalb jenes von den Philosophen beschriebenen Zustandes erfolgt auf Basis seiner Funktionsbestimmung im System, die der Mündigkeit des Bürgers entgegensteht. Frühere politische Systeme hoben den Menschen, das staatenbildende Wesen, hervor. Jetzt ist dieser Mensch in Kategorien und Tarife des Systems eingepaßt, die ihm bequem den sozialen Frieden bei immer weniger Arbeit ermöglichen. Das öffentliche Bewußtsein spiegelt es wider, und jeder, der Meinhard Miegels Epochenwende (2005) gelesen hat, weiß, daß zwischen 1950 und 1975 das Pro-Kopf-Volkseinkommen real auf das Vierfache anstieg, während das Pro-Kopf-Arbeitsvolumen um ein Viertel abnahm.
Die Medienlandschaft sollte eigentlich die Mündigkeit des Bürgers gewährleisten, Prozesse durchschaubar gestalten. Durchgesetzt hat sich in der deutschen Nachkriegsdemokratie ein Prozeß, in dem der Einzelne gegenüber der Suggestion der Medien und den sozialen Konditionierungen noch nie so verwundbar war wie heute. Das Desinteresse am Gemeinwesen zugunsten einer Flucht in private Belange wie Karriere, Konsum und Freizeit liegen auf der Hand. So werden Masse und Mündigkeit zu sich ausschließenden Konfigurationen innerhalb eines Staates, welcher politische Regulierung vornehmlich durch Verhandlung bewerkstelligt und der als eine Partei unter anderen am Tisch sitzt und die Moderatorenrolle innehat. Die Demokratie wird selbst zum Problem, predigt Zivilcourage und Bürgerbeteiligung, deren Vitalität sich im Gegenzug dadurch reduziert, daß es nur noch um die Verwaltung eines Zustandes potentieller Unverantwortlichkeit geht. Kurz: Reale staatsbürgerliche Partizipation wird zur Farce.
Michael Erdinger benannte in der Wochenzeitschrift Das Parlament 2003 im Hinblick auf diese Input- und Outputprobleme einer semiauthentischen Politik drei Aspekte als ursächlich: ein umfassender Katalog wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben, die regierungsimmanenten Blockademöglichkeiten und vor allem den erwähnten Autonomieverlust der Politik aus der Sicht des Bürgers. Der quasi-mythische Anspruch der herrschenden Minderheit, den Sinn des geschlossenen Staatsvertrags und den Willen des Volkes zu interpretieren, wird heute zudem durch Wahlen hinfällig, die keine eindeutigen Mehrheiten mehr hervorbringen, bisher nie gekannte Koalitionen erzwingen und aufgrund niedriger Wahlbeteiligung nicht mehr repräsentativ sind. Und dennoch schallt es hämisch: Der Bürger hat entschieden!
Die Krise der repräsentativ-demokratischen Vertretung sowie die Abspeisung des Bürgers durch vorgefertigte Argumentationslinien aus dem Deutschen Bundestag sind trotzdem Erfahrungswerte geworden. Damit steht die Forderung nach Demokratisierung im Raum. Ernst genommen kann sie aber nur werden, wenn sie nicht selbst von den systemimmanenten Akteuren stammt. Am Ende bleibt immer wieder die Frage bestehen, wie von außen eine auf Mündigkeit basierende Demokratisierung erfolgen kann, wenn bisher weniger das kritische Urteilsvermögen gefragt ist als vielmehr die automatische Wirkung der durch Gewohnheit gebildeten Gedankenverbindung in den Medien. Denn vorrangig durch die Medien als (dem Anspruch nach) Garanten freier Meinungsbildung verliert die vitale Politik den Charakter eines Zustandes, in dem echte Optionen politischer Teilhabe noch gegeben und Aufgaben noch gestellt sind. Die Folge: Politikverdrossenheit und das Streben nach Direktdemokratie. Gerade auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 2 GG ist es den Ländern im Rahmen ihrer Verfassungshoheit erlaubt, Modifikationen der plebiszitären Demokratie einzuführen. Die partizipative Revision vor Augen würde dies zur Stärkung der Responsivität der Politik beitragen.
In der Tat wird eine dermaßen geartete partizipative Revolution in den kommenden Jahren nicht mehr auszuschließen sein. Sie wäre in der Lage, den beschriebenen Schematismus von Wohlstand, erzeugten politischen und historischen Szenen, die für Wirklichkeit gehalten werden, zu kompensieren. Denn diese an den Begriff der „Kulturindustrie” der Frankfurter Schule erinnernde Tatsache läßt die „mündige” Masse bisher in Illusionen leben. Es herrscht bestenfalls eine halbe Mündigkeit.
Mag diese Analyse des gegenwärtigen Zeitalters auch als Spengler-Reprise anmuten, mit der ein Mensch zu befürchten steht, der aller tragenden Kräfte beraubt ist (Fellachisierung), so ist nicht mehr von der Hand zu weisen, daß der Rückzug ins Privatleben mit der Krise der Demokratie verknüpft ist. Hinzu kommen die Krise des Sozialstaates, der Verlust nationaler Identität und ein quasitotalitärer Liberalismus, die nur einige Merkmale eines unverantwortlichen Konformismus innerhalb einer pathologischen Normalität sind.
Mag man auch täglich von Mündigkeit und Zivilcourage hören – die Formen des inneren Niedergangs der Demokratie sind längst ausgemacht. Sie liegen gerade in der Monotonie dieser Forderungen. Wie sonst ist es zu erklären, daß die Hälfte der Bevölkerung im Begriff ist, aus dem politischen System auszusteigen. Die großen Ideen der Volkssouveränität und Repräsentation verlieren ihren Nimbus. Es gibt aber keine reale Demokratie ohne umfassend mündige Staatsbürger, die eine politische Gemeinschaft bilden und sich auf gemeinsame Ziele berufen. Es gibt keine Demokratie im realen Sinne, die an echter Volkssouveränität vorbeikommt. So also mündet das eingangs erwähnte Credo der Kulturkritik in dem Fakt, daß eine Person, die keine Bindung mehr hat, kein vollkommen freies und mündiges Wesen ist, sondern ein charakterloses ohne moralische Tiefe. Mündig sind jene denkenden Menschen, für die das Element des Politischen nicht im frontalen Aufeinanderprallen der Parteien liegt. Demokratisch agiert derjenige, der dem jeweils dominierenden Prinzip „Demokratie” der Gegenwart die Vollkommenheit abspricht, um sich selbstbewußt dem Anspruch von Demokratie als stets zu optimierender und zu hinterfragender Staatsform zu stellen. Damit wären die Bausteine zur ganzen Mündigkeit benannt.