Jenseits des Tellerrands – DDR und ’68

pdf der Druckfassung aus Sezession 23/April 2008

sez_nr_231von Siegmar Faust

DDR und '68 läßt sich leicht auf einen Nenner bringen: An eine Studentenrevolte war dort nicht zu denken, und mit der Jahreszahl „1968" erinnerte man sich vor allem der Niederschlagung des „Prager Frühlings". Alexander Dubcˇek wurde nämlich im Januar 1968 zum Chef der Kommunistischen Partei (KP) seines Landes gewählt. Er legte in Moskau ein Reformprogramm vor, das die volle Zustimmung der UdSSR bekam. Als er es dann umsetzte, stieß er bei den Partnern im Ostblock auf Ablehnung, allen voran bei Walter Ulbricht. Im April bildete sich eine neue Regierung unter Oldrich Cernik, und sofort wurden Reformprozesse eingeleitet, die das Parteiorgan Rudé Pravo mit den Worten „tschechoslowakischer Weg zum Sozialismus" zusammenfaßte. Die Gesellschaft sollte liberalisiert werden und der Sozialismus ein „menschliches Antlitz" bekommen. Die Zensur wurde abgeschafft und die bürgerliche Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit garantiert. Dubcˇek wurde zur weltweit berühmten Symbolfigur des „Prager Frühlings". Auf einem Gipfeltreffen im August versuchten die „sozialistischen Bruderländer" letztmalig, die Abtrünnigen zur Umkehr zu bewegen. Dubcˇek jedoch hielt an den Reformen fest und genoß die Sympathie der Bevölkerung. In der Nacht vom 20. zum 21. August walzten die Truppen des Warschauer Paktes mit Panzerketten den Prager Frühling nieder. Dubcˇek wurde nach Moskau verschleppt. Dort unterzeichnete er die Kapitulationsurkunde des Reformprozesses sowie die Einführung politischer Verhältnisse nach altem Muster.


Auch in Polen bro­del­te es. Die März-Unru­hen kenn­zeich­ne­ten eine poli­ti­sche Kri­se, die mit Stu­den­ten­de­mons­tra­tio­nen begann, beson­ders in War­schau, Dan­zig und Kra­kau. Die Auf­säs­sig­kei­ten wur­den durch Ein­hei­ten der Miliz und Reser­vis­ten der Volks­ar­mee nie­der­ge­schla­gen. Am 30. Janu­ar 1968 kam es zu einer Empö­rung vor dem Denk­mal Adam Mickie­wicz’ gegen die Abset­zung des Stücks „Toten­fei­er” im War­schau­er Volks­thea­ter. Die Vor­füh­run­gen waren stets aus­ver­kauft, stän­dig gab es Sze­nen­bei­fall. Nach dem Vor­stel­lungs­en­de wur­de skan­diert: „Wir wol­len Kul­tur ohne Zen­sur!” Die Miliz lös­te die Kund­ge­bung gewalt­sam auf und 35 Demons­tran­ten wur­den fest­ge­nom­men. Zwei Stu­den­ten wur­den zwangs­exma­tri­ku­liert (dar­un­ter der 1981 mit dem Gro­ßen Bun­des­ver­dienst­kreuz der Bun­des­re­pu­blik aus­ge­zeich­ne­te Adam Mich­nik), da sie mit Repor­tern der fran­zö­si­schen Pres­se gespro­chen hatten.
In den Fol­ge­mo­na­ten orga­ni­sier­te die KP Polens eine Kam­pa­gne gegen die „Auf­rüh­rer und Ver­rä­ter der Nati­on”. Sün­den­bö­cke waren schon zuvor aus­ge­späht wor­den: Über­le­ben­de des Holo­causts und deren Nach­fah­ren. Sie wur­den als „Zio­nis­ten” ver­un­glimpft, denn sie sei­en vom Aus­land finan­zier­te Kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re, die bloß Jugend­li­che den Impe­ria­lis­ten in die Arme trei­ben woll­ten. „Arbei­ter” demons­trier­ten für die „Ent­fer­nung aller zio­nis­ti­schen Ele­men­te aus Staat und Par­tei”. Zehn­tau­sen­de Juden sol­len ihre Stel­lung ver­lo­ren, eini­ge Selbst­mord began­gen haben, knapp 20.000 ver­lie­ßen das Land. Mit der Aus­rei­se ver­lo­ren sie auto­ma­tisch die pol­ni­sche Staats­bür­ger­schaft und wur­den staatenlos.

Ganz ande­re Pro­ble­me hat­te man 1968 in Wien. Dort mach­te im Juni eine Revol­te der beson­de­ren Art von sich reden. Im Hör­saal 1 der Uni­ver­si­tät Wien fand eine Akti­on unter dem Titel „Kunst und Revo­lu­ti­on” vor rund 300 Zuschau­ern statt und wur­de von den Aktio­nis­ten Brus, Export, Muehl und Wie­ner aus­ge­führt. Die nahe­zu voll­stän­dig ver­sam­mel­ten Haupt­dar­stel­ler des Wie­ner Aktio­nis­mus bra­chen dort gleich meh­re­re Tabus: Nackt­heit, das Ver­rich­ten der Not­durft, Mas­tur­ba­ti­on, Aus­peit­schen, Selbst­ver­stüm­me­lung, das Ver­schmie­ren der eige­nen Exkre­men­te am nack­ten Kör­per und das Erbre­chen durch Rei­zung der Spei­se­röh­re – all das unter dem Absin­gen der Natio­nal­hym­ne auf der aus­ge­brei­te­ten öster­rei­chi­schen Natio­nal­flag­ge. Die von Jour­na­lis­ten auf­ge­schreck­te Öffent­lich­keit präg­te ledig­lich den Begriff „Uni-Fer­ke­lei”.
An sol­ches war in Ost-Ber­lin nicht zu den­ken: Die Volks­re­gie­rung der deut­schen „Volks­re­pu­blik” beglück­te ihre durch Volks­po­li­zei, Volks­ar­mee und die Volks­ge­nos­sen von der unsicht­ba­ren Front in Schach gehal­te­nen Unter­ta­nen mit einem neu­en Ver­fas­sungs­ent­wurf, nach­dem die Volks­kam­mer erst im Janu­ar ein­stim­mig ein neu­es Straf­ge­setz­buch mit Straf­ver­schär­fung für poli­ti­sche Delik­te beschlos­sen hat­te. Das ers­te Mal durf­te das Volk am 6. April 1968 per Volks­ab­stim­mung dar­über mit Ja oder Nein abstim­men. Wor­über durf­te abge­stimmt wer­den? Zunächst wur­de die DDR als „sozia­lis­ti­scher Staat deut­scher Nati­on” defi­niert, in dem die Füh­rungs­rol­le der SED auf alle Zei­ten fest­ge­schrie­ben wur­de. Außer­dem erlaub­te der Arti­kel 27 nur dem­je­ni­gen sei­ne „Mei­nung frei und öffent­lich zu äußern”, der mit den Grund­la­gen der Ver­fas­sung über­ein­stimm­te. Kri­tik an der Sowjet­uni­on ver­bot sich von sel­ber, denn im Arti­kel 6 stand wört­lich: „Die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik ist für immer und unwi­der­ruf­lich mit der Uni­on der Sozia­lis­ti­schen Sowjet­re­pu­bli­ken ver­bün­det.” Das über­bot sogar Hit­lers Anma­ßung vom „Tau­send­jäh­ri­gen Reich”. Im Gegen­satz zur ers­ten Ver­fas­sung von 1949 soll­te die neue jetzt nicht mehr fürs gan­ze Deutsch­land gel­ten. Es war nur noch die Rede von der „Her­stel­lung und Pfle­ge nor­ma­ler Bezie­hun­gen” und der „Zusam­men­ar­beit der bei­den deut­schen Staa­ten”. Als neu galt, daß Volks­ab­stim­mun­gen qua­si abge­schafft wur­den. Des­halb blieb die Ver­fas­sungs­ab­stim­mung 1968 die ein­zi­ge die­ser Art in der DDR.
Stu­den­ten der Leip­zi­ger Karl-Marx-Uni­ver­si­tät um Jür­gen Rudolph sowie den christ­li­chen Bio­lo­gen Chris­tof Tan­nert ver­teil­ten in Haus­brief­käs­ten selbst­ge­fer­tig­te Flug­blät­ter, auf denen dezent dar­auf auf­merk­sam gemacht wur­de, daß man die­ses Mal wirk­lich abstim­men dür­fe. Auf den Flug­blät­tern stand: „Nein oder Ja. Laß Dein Gewis­sen ent­schei­den!” Die Sta­si brauch­te lan­ge, den Wahl­hel­fern auf die Spur zu kom­men, die mitt­ler­wei­le schon übers Land ver­teilt im Berufs­le­ben stan­den. Doch ab 1971 saßen sie wie­der in Leip­zig ein, recht unbe­quem in der Sta­si-Unter­su­chungs­haft­an­stalt. Dort wur­de ihre Wahl­hil­fe als „psy­cho­lo­gisch aus­ge­klü­gel­te und des­halb beson­ders raf­fi­nier­te Form der staats­feind­li­chen Het­ze” bewer­tet. Das ver­kün­de­te Wahl­er­geb­nis sorg­te für Über­ra­schung: Mehr als fünf Pro­zent der DDR-Bewoh­ner stimm­ten gegen die neue Ver­fas­sung. Ansons­ten wur­de ungern mehr als ein Pro­zent Nein-Stim­men zugegeben.

Im August 1968, nach dem Ein­marsch ins „Bru­der­land”, als der Ver­such, „Sozia­lis­mus mit mensch­li­chem Ant­litz” zu instal­lie­ren, geschei­tert war und sich der Phi­lo­so­phie­stu­dent Jan Palach auf dem Wen­zels­platz aus Pro­test öffent­lich ver­brann­te, ver­än­der­ten sich vie­le Bio­gra­phien bis dahin loya­ler und sozia­lis­tisch den­ken­der DDR-Bewoh­ner. Wäh­rend Wolf Bier­mann als Kri­ti­ker des rea­len und Lob­sän­ger des huma­nen Sozia­lis­mus in die­ser Situa­ti­on um sein Leben fürch­te­te und sich ver­steck­te, hiß­ten sei­ne Jün­ger (dar­un­ter Funk­tio­närs­söh­ne wie der spä­te­re Schrift­stel­ler Tho­mas Brasch oder die Söh­ne des Dis­si­den­ten Pro­fes­sor Robert Have­mann oder San­dra Weigel und die Lie­der­ma­che­rin Bet­ti­na Weg­ner) in Ber­lin die tsche­cho­slo­wa­ki­sche Flag­ge und ver­teil­ten Flug­blät­ter. Ande­re schrie­ben ledig­lich wie der spä­te­re Kaba­ret­tist und Schrift­stel­ler Bernd-Lutz Lan­ge „Dub­cˇek” an Häu­ser­wän­de und wur­den ins Gefäng­nis gesteckt oder zu Spit­zel­diens­ten erpreßt. Die Inter­ven­ti­on war auch für den aus dem Vogt­land stam­men­den Bernd Eisen­feld ein Schock. Er schrieb der tsche­cho­slo­wa­ki­schen Bot­schaft: „Hal­ten Sie stand – Behal­ten Sie Hoff­nung.” Auf einer Schreib­ma­schi­ne stell­te er Flug­blät­ter mit Lenin-Zita­ten her, die er in Hal­le ver­teil­te. Er wur­de ver­haf­tet und zu 30 Mona­ten Frei­heits­ent­zug verurteilt.
Im Mai 1968 wur­de auf Geheiß Wal­ter Ulb­richts in Leip­zig die 1240 geweih­te Pau­li­ner­kir­che gesprengt, weil das Got­tes­haus, das über 400 Jah­re als Aula, Begräb­nis­stät­te und Ort aka­de­mi­scher Fei­er­lich­kei­ten das geis­ti­ge Zen­trum der Uni­ver­si­tät war, Kom­mu­nis­ten pro­vo­zier­te. Diet­rich Koch wur­de bei einer Pro­test­an­samm­lung vor der Kir­che fest­ge­nom­men und von der Deut­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten, in der er als Phy­si­ker arbei­te­te, frist­los ent­las­sen. Bald danach ent­roll­te sich zum inter­na­tio­na­len Bach­wett­be­werb in der Leip­zi­ger Kon­greß­hal­le in Anwe­sen­heit hoher Funk­tio­nä­re auto­ma­tisch ein Pla­kat mit einer Zeich­nung der Kir­che und der Auf­schrift „Wir for­dern Wie­der­auf­bau”. Koch hat­te zusam­men mit sei­nem Bru­der Eck­hard den Wecker­aus­lö­se­me­cha­nis­mus gebaut. Nach­dem die Initia­to­ren Welzk und Frit­sche in den Wes­ten geflo­hen waren, ver­haf­te­te der Staats­si­cher­heits­dienst zwei Jah­re spä­ter meh­re­re Leip­zi­ger, dar­un­ter auch Koch. Sie wur­den durch einen west­deut­schen Lin­ken bei der Sta­si denun­ziert. Koch ist der ein­zi­ge wegen die­ses Pla­kat­pro­tes­tes Ver­ur­teil­te und hat in dem drei­bän­di­gen Werk Das Ver­hör. Zer­stö­rung und Wider­stand berich­tet, wie die Sta­si in einem zwei­jäh­ri­gen Ermitt­lungs­ver­fah­ren die­ses „Ver­bre­chen” auf­zu­klä­ren suchte.

Die Sta­si hat­te 1968 im wahrs­ten Wort­sinn alle Hän­de voll zu tun. Leip­zi­ger Medi­zin­stu­den­ten wei­ger­ten sich, Blut für Viet­nam zu spen­den, was natür­lich ihre Straf­ver­set­zung in die Pro­duk­ti­on bewirk­te. Schau­spiel­stu­den­ten erlaub­ten sich, ein pazi­fis­ti­sches Pam­phlet zu ver­fas­sen, aus­ge­rech­net in die­sem Jahr des ver­schärf­ten Klas­sen­kamp­fes, wo die Fun­ken der Rebel­li­on nicht nur aus dem Wes­ten, son­dern auch aus dem Osten ins Mus­ter­länd­le des Sozia­lis­mus sto­ben. Daß die männ­li­chen Stu­die­ren­den zur Armee ein­ge­zo­gen wur­den, ver­steht sich von selber.
Und dann gab es noch die­se „Lyrik-Spin­ner”, wie Sta­si-Offi­zie­re sie zu nen­nen pfleg­ten. Da Ulb­richt ängst­lich erwog, das renom­mier­te Lite­ra­tur-Insti­tut in Leip­zig zu schlie­ßen, das Diplom­schrift­stel­ler unter pri­vi­le­gier­ten Bedin­gun­gen her­an­zog, wur­de dort schon im Früh­jahr eine Säu­be­rungs­wel­le ein­ge­lei­tet, der fast ein Drit­tel der Stu­den­ten zum Opfer fiel. Aber die­se nach frei­em Aus­druck suchen­den Jung­poe­ten lie­ßen sich nicht ent­mu­ti­gen, son­dern miß­brauch­ten ein volks­ei­ge­nes Aus­flugs­boot auf einem Stau­see zu einer Lyrik-Lesung, dar­un­ter: Hei­de Härtl, die 1987 ille­gal den „ber­gen-ver­lag” als ers­ten unab­hän­gi­gen Ver­lag der DDR grün­de­te; ihr dama­li­ger Mann, der spä­te­re Uwe-John­son-Preis­trä­ger Gert Neu­mann; der Lyri­ker und Erzäh­ler Kris­ti­an Pech; der spä­te­re Gebrü­der-Grimm-Preis­trä­ger Andre­as Rei­mann (der 1968 als ers­ter aus dem Freun­des­kreis ver­haf­tet und wegen staats­feind­li­cher Het­ze zu zwei Jah­ren Haft ver­ur­teilt wur­de); Bernd-Lutz Lan­ge (der vor allem durch den Auf­ruf der „Leip­zi­ger Sechs” bekannt wur­de und dazu bei­trug, daß die Mon­tags­de­mons­tra­ti­on am 9. Okto­ber 1989 mit über 70.000 Teil­neh­mern fried­lich ver­lief) oder die Maler Diet­rich Gnüch­tel und Micha­el Fla­de (der eben­falls übers Gefäng­nis in den Wes­ten frei­ge­kauft wur­de und sich dort, ent­setzt über die lin­ke Kul­tur­sze­ne, 1982 das Leben nahm), sowie der Ver­fas­ser die­ser Zei­len, der damals als Motor­boot­fah­rer die Akti­on steu­er­te und mit Zita­ten aus dem Pro­gramm der Pra­ger Reform­kom­mu­nis­ten die „River­boat­par­ty” anheizte.
Die Gedich­te des spä­te­ren Büch­ner-Preis­trä­gers Wolf­gang Hil­big nah­men auf dem Boot „den größ­ten Raum der Dis­kus­si­on” ein, wie der smar­te Dich­ter, Stu­dent und aus Mag­de­burg stam­men­de Dom­pre­di­ger-Sohn Odwin Quast nach­träg­lich sei­ner „Fir­ma” berich­te­te, für die er bis zum Ende als Inof­fi­zi­el­ler Mit­ar­bei­ter (IM) tätig war: „Die zahl­rei­chen Gedich­te Hil­bigs haben fast durch­ge­hend den glei­chen Inhalt: das nicht Zurecht­kom­men in die­ser Gesell­schaft, das sich aus­ge­sto­ßen füh­len. Dar­aus resul­tie­ren dann ver­all­ge­mei­ner­te Angrif­fe gegen die­sen Staat, sei­ne Gesell­schafts­ord­nung und sei­ne Men­schen … Ein Grund­the­ma sei­ner Lyrik ist die Deutsch­land­pro­ble­ma­tik aus­ge­hend von einem ima­gi­nä­ren Deutsch­land, wobei er die tat­säch­li­chen Grenz­ver­hält­nis­se mut­wil­lig mißachtet.”

Der­weil hüpf­ten im Wes­ten die­je­ni­gen, die gegen den „Muff von 1000 Jah­ren unter den Tala­ren” anrann­ten, mit Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Geschrei durch die Stra­ßen und streck­ten die Kon­ter­feis kom­mu­nis­ti­scher Mas­sen­mör­der in die Höhe. Ins­be­son­de­re der Viet­nam­krieg bot den Ansatz zur „Ent­lar­vung” des von vie­len Jugend­li­chen als uner­träg­lich emp­fun­de­nen Wider­spruchs zwi­schen mär­chen­haf­ten Idea­len und der des­il­lu­sio­nie­ren­den Rea­li­tät west­li­cher Demo­kra­tien. Ein Blick über den Tel­ler­rand hin­aus in Rich­tung Osten hät­te sie eines Bes­se­ren beleh­ren kön­nen. Er wur­de aber nicht gewagt, und so kam es zur Auf­kün­di­gung des anti­to­ta­li­tä­ren Kon­sen­ses zuguns­ten Sta­lins Anti­fa­schis­mus und zur Radi­ka­li­sie­rung des lin­ken Spek­trums. Trotz der Regie­rungs­be­tei­li­gung einer von dem Anti­kom­mu­nis­ten Kurt Schu­ma­cher weit abge­rück­ten SPD, wur­den Prin­zi­pi­en west­li­chen Demo­kra­tie­ver­ständ­nis­ses ver­wor­fen zuguns­ten uto­pi­scher Sozia­lis­mus­vor­stel­lun­gen aller Vari­an­ten – von Marx, Lenin und Trotz­ki bis hin zu Mao, Cas­tro, Che Gue­va­ra, Kim Il Sung oder Enver Hox­ha. Kei­ne mas­sen­mör­de­ri­sche Pein­lich­keit wur­de aus­ge­las­sen. So konn­te eine Außer­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­ti­on (APO) den Boden für den Ter­ro­ris­mus berei­ten. Par­al­lel dazu lief der von Rudi Dutsch­ke nach chi­ne­si­schem Vor­bild aus­ge­ru­fe­ne „lan­ge Marsch durch die Insti­tu­tio­nen” an.
Was die­se Gene­ra­ti­on eigent­lich ange­rich­tet hat, brach­te die 1971 gebo­re­ne und in einem lin­ken Kin­der­la­den auf­ge­wach­se­ne Sophie Dan­nen­berg mit ihrem Buch Das blei­che Herz der Revo­lu­ti­on auf den Punkt: „Die 68er waren groß im Zer­stö­ren von Insti­tu­tio­nen und Wer­ten: Die deut­schen Uni­ver­si­tä­ten haben sie auf dem Gewis­sen, die Fami­lie, das Leis­tungs­prin­zip, Eti­ket­te und Anstand, Ver­läß­lich­keit und Gebor­gen­heit … Was die 68er damals ideo­lo­gisch legi­ti­mier­ten, hat sich gesell­schaft­lich voll­zo­gen, aber nicht als Uto­pie, son­dern als Ver­wahr­lo­sung.” Die anti­zi­vi­li­sa­to­ri­sche Bewe­gung der 68er, die vie­le nur sel­ber an die Trö­ge der Macht und eines spie­ßi­gen, herrsch­süch­ti­gen Wohl­le­bens brach­te, ver­kör­pert den Abschaum auf dem Fluß der Geschich­te. Es ist von­nö­ten, die unter­grün­di­ge Bewe­gung zum Vor­schein zu brin­gen. Ober­fläch­lich betrach­tet, mag es, wie Der Spie­gel behaup­tet, eine „hete­ro­ge­ne Mas­se mit unter­schied­li­chen Auf­fas­sun­gen” gewe­sen sein, aber das, was sich heu­te alles der Acht­und­sech­zi­ger-Gene­ra­ti­on zuge­hö­rig fühlt und deren Wesen ver­schlei­ert, ist auf den Kern zu redu­zie­ren, um die­se Bewe­gung und ihre Aus­wir­kun­gen benen­nen zu können.
Jean-Maria Lus­ti­ger, der sich einst als Jude vor den Natio­nal­so­zia­lis­ten ver­ste­cken muß­te, kon­ver­tier­te 1940 zum Katho­li­zis­mus und gelang­te 1983 zu Kar­di­nals­wür­den. Als Chef der Pari­ser Stu­den­ten­pfar­rer erleb­te er 1968 die Revol­te, an deren Spit­ze der heu­ti­ge EU-Par­la­men­ta­ri­er Dani­el Cohn-Ben­dit stand. Lus­ti­ger erkann­te sofort die Rich­tung, aus der die­se Bewe­gung kam, und urteil­te: „Hoh­le Phra­sen, ver­ba­ler Radi­ka­lis­mus. Die­ses Wie­der­auf­le­ben des Irra­tio­na­len ist eine Spie­ge­lung des Nazismus.”

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