Auch in Polen brodelte es. Die März-Unruhen kennzeichneten eine politische Krise, die mit Studentendemonstrationen begann, besonders in Warschau, Danzig und Krakau. Die Aufsässigkeiten wurden durch Einheiten der Miliz und Reservisten der Volksarmee niedergeschlagen. Am 30. Januar 1968 kam es zu einer Empörung vor dem Denkmal Adam Mickiewicz’ gegen die Absetzung des Stücks „Totenfeier” im Warschauer Volkstheater. Die Vorführungen waren stets ausverkauft, ständig gab es Szenenbeifall. Nach dem Vorstellungsende wurde skandiert: „Wir wollen Kultur ohne Zensur!” Die Miliz löste die Kundgebung gewaltsam auf und 35 Demonstranten wurden festgenommen. Zwei Studenten wurden zwangsexmatrikuliert (darunter der 1981 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik ausgezeichnete Adam Michnik), da sie mit Reportern der französischen Presse gesprochen hatten.
In den Folgemonaten organisierte die KP Polens eine Kampagne gegen die „Aufrührer und Verräter der Nation”. Sündenböcke waren schon zuvor ausgespäht worden: Überlebende des Holocausts und deren Nachfahren. Sie wurden als „Zionisten” verunglimpft, denn sie seien vom Ausland finanzierte Konterrevolutionäre, die bloß Jugendliche den Imperialisten in die Arme treiben wollten. „Arbeiter” demonstrierten für die „Entfernung aller zionistischen Elemente aus Staat und Partei”. Zehntausende Juden sollen ihre Stellung verloren, einige Selbstmord begangen haben, knapp 20.000 verließen das Land. Mit der Ausreise verloren sie automatisch die polnische Staatsbürgerschaft und wurden staatenlos.
Ganz andere Probleme hatte man 1968 in Wien. Dort machte im Juni eine Revolte der besonderen Art von sich reden. Im Hörsaal 1 der Universität Wien fand eine Aktion unter dem Titel „Kunst und Revolution” vor rund 300 Zuschauern statt und wurde von den Aktionisten Brus, Export, Muehl und Wiener ausgeführt. Die nahezu vollständig versammelten Hauptdarsteller des Wiener Aktionismus brachen dort gleich mehrere Tabus: Nacktheit, das Verrichten der Notdurft, Masturbation, Auspeitschen, Selbstverstümmelung, das Verschmieren der eigenen Exkremente am nackten Körper und das Erbrechen durch Reizung der Speiseröhre – all das unter dem Absingen der Nationalhymne auf der ausgebreiteten österreichischen Nationalflagge. Die von Journalisten aufgeschreckte Öffentlichkeit prägte lediglich den Begriff „Uni-Ferkelei”.
An solches war in Ost-Berlin nicht zu denken: Die Volksregierung der deutschen „Volksrepublik” beglückte ihre durch Volkspolizei, Volksarmee und die Volksgenossen von der unsichtbaren Front in Schach gehaltenen Untertanen mit einem neuen Verfassungsentwurf, nachdem die Volkskammer erst im Januar einstimmig ein neues Strafgesetzbuch mit Strafverschärfung für politische Delikte beschlossen hatte. Das erste Mal durfte das Volk am 6. April 1968 per Volksabstimmung darüber mit Ja oder Nein abstimmen. Worüber durfte abgestimmt werden? Zunächst wurde die DDR als „sozialistischer Staat deutscher Nation” definiert, in dem die Führungsrolle der SED auf alle Zeiten festgeschrieben wurde. Außerdem erlaubte der Artikel 27 nur demjenigen seine „Meinung frei und öffentlich zu äußern”, der mit den Grundlagen der Verfassung übereinstimmte. Kritik an der Sowjetunion verbot sich von selber, denn im Artikel 6 stand wörtlich: „Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet.” Das überbot sogar Hitlers Anmaßung vom „Tausendjährigen Reich”. Im Gegensatz zur ersten Verfassung von 1949 sollte die neue jetzt nicht mehr fürs ganze Deutschland gelten. Es war nur noch die Rede von der „Herstellung und Pflege normaler Beziehungen” und der „Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten”. Als neu galt, daß Volksabstimmungen quasi abgeschafft wurden. Deshalb blieb die Verfassungsabstimmung 1968 die einzige dieser Art in der DDR.
Studenten der Leipziger Karl-Marx-Universität um Jürgen Rudolph sowie den christlichen Biologen Christof Tannert verteilten in Hausbriefkästen selbstgefertigte Flugblätter, auf denen dezent darauf aufmerksam gemacht wurde, daß man dieses Mal wirklich abstimmen dürfe. Auf den Flugblättern stand: „Nein oder Ja. Laß Dein Gewissen entscheiden!” Die Stasi brauchte lange, den Wahlhelfern auf die Spur zu kommen, die mittlerweile schon übers Land verteilt im Berufsleben standen. Doch ab 1971 saßen sie wieder in Leipzig ein, recht unbequem in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt. Dort wurde ihre Wahlhilfe als „psychologisch ausgeklügelte und deshalb besonders raffinierte Form der staatsfeindlichen Hetze” bewertet. Das verkündete Wahlergebnis sorgte für Überraschung: Mehr als fünf Prozent der DDR-Bewohner stimmten gegen die neue Verfassung. Ansonsten wurde ungern mehr als ein Prozent Nein-Stimmen zugegeben.
Im August 1968, nach dem Einmarsch ins „Bruderland”, als der Versuch, „Sozialismus mit menschlichem Antlitz” zu installieren, gescheitert war und sich der Philosophiestudent Jan Palach auf dem Wenzelsplatz aus Protest öffentlich verbrannte, veränderten sich viele Biographien bis dahin loyaler und sozialistisch denkender DDR-Bewohner. Während Wolf Biermann als Kritiker des realen und Lobsänger des humanen Sozialismus in dieser Situation um sein Leben fürchtete und sich versteckte, hißten seine Jünger (darunter Funktionärssöhne wie der spätere Schriftsteller Thomas Brasch oder die Söhne des Dissidenten Professor Robert Havemann oder Sandra Weigel und die Liedermacherin Bettina Wegner) in Berlin die tschechoslowakische Flagge und verteilten Flugblätter. Andere schrieben lediglich wie der spätere Kabarettist und Schriftsteller Bernd-Lutz Lange „Dubcˇek” an Häuserwände und wurden ins Gefängnis gesteckt oder zu Spitzeldiensten erpreßt. Die Intervention war auch für den aus dem Vogtland stammenden Bernd Eisenfeld ein Schock. Er schrieb der tschechoslowakischen Botschaft: „Halten Sie stand – Behalten Sie Hoffnung.” Auf einer Schreibmaschine stellte er Flugblätter mit Lenin-Zitaten her, die er in Halle verteilte. Er wurde verhaftet und zu 30 Monaten Freiheitsentzug verurteilt.
Im Mai 1968 wurde auf Geheiß Walter Ulbrichts in Leipzig die 1240 geweihte Paulinerkirche gesprengt, weil das Gotteshaus, das über 400 Jahre als Aula, Begräbnisstätte und Ort akademischer Feierlichkeiten das geistige Zentrum der Universität war, Kommunisten provozierte. Dietrich Koch wurde bei einer Protestansammlung vor der Kirche festgenommen und von der Deutschen Akademie der Wissenschaften, in der er als Physiker arbeitete, fristlos entlassen. Bald danach entrollte sich zum internationalen Bachwettbewerb in der Leipziger Kongreßhalle in Anwesenheit hoher Funktionäre automatisch ein Plakat mit einer Zeichnung der Kirche und der Aufschrift „Wir fordern Wiederaufbau”. Koch hatte zusammen mit seinem Bruder Eckhard den Weckerauslösemechanismus gebaut. Nachdem die Initiatoren Welzk und Fritsche in den Westen geflohen waren, verhaftete der Staatssicherheitsdienst zwei Jahre später mehrere Leipziger, darunter auch Koch. Sie wurden durch einen westdeutschen Linken bei der Stasi denunziert. Koch ist der einzige wegen dieses Plakatprotestes Verurteilte und hat in dem dreibändigen Werk Das Verhör. Zerstörung und Widerstand berichtet, wie die Stasi in einem zweijährigen Ermittlungsverfahren dieses „Verbrechen” aufzuklären suchte.
Die Stasi hatte 1968 im wahrsten Wortsinn alle Hände voll zu tun. Leipziger Medizinstudenten weigerten sich, Blut für Vietnam zu spenden, was natürlich ihre Strafversetzung in die Produktion bewirkte. Schauspielstudenten erlaubten sich, ein pazifistisches Pamphlet zu verfassen, ausgerechnet in diesem Jahr des verschärften Klassenkampfes, wo die Funken der Rebellion nicht nur aus dem Westen, sondern auch aus dem Osten ins Musterländle des Sozialismus stoben. Daß die männlichen Studierenden zur Armee eingezogen wurden, versteht sich von selber.
Und dann gab es noch diese „Lyrik-Spinner”, wie Stasi-Offiziere sie zu nennen pflegten. Da Ulbricht ängstlich erwog, das renommierte Literatur-Institut in Leipzig zu schließen, das Diplomschriftsteller unter privilegierten Bedingungen heranzog, wurde dort schon im Frühjahr eine Säuberungswelle eingeleitet, der fast ein Drittel der Studenten zum Opfer fiel. Aber diese nach freiem Ausdruck suchenden Jungpoeten ließen sich nicht entmutigen, sondern mißbrauchten ein volkseigenes Ausflugsboot auf einem Stausee zu einer Lyrik-Lesung, darunter: Heide Härtl, die 1987 illegal den „bergen-verlag” als ersten unabhängigen Verlag der DDR gründete; ihr damaliger Mann, der spätere Uwe-Johnson-Preisträger Gert Neumann; der Lyriker und Erzähler Kristian Pech; der spätere Gebrüder-Grimm-Preisträger Andreas Reimann (der 1968 als erster aus dem Freundeskreis verhaftet und wegen staatsfeindlicher Hetze zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde); Bernd-Lutz Lange (der vor allem durch den Aufruf der „Leipziger Sechs” bekannt wurde und dazu beitrug, daß die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 mit über 70.000 Teilnehmern friedlich verlief) oder die Maler Dietrich Gnüchtel und Michael Flade (der ebenfalls übers Gefängnis in den Westen freigekauft wurde und sich dort, entsetzt über die linke Kulturszene, 1982 das Leben nahm), sowie der Verfasser dieser Zeilen, der damals als Motorbootfahrer die Aktion steuerte und mit Zitaten aus dem Programm der Prager Reformkommunisten die „Riverboatparty” anheizte.
Die Gedichte des späteren Büchner-Preisträgers Wolfgang Hilbig nahmen auf dem Boot „den größten Raum der Diskussion” ein, wie der smarte Dichter, Student und aus Magdeburg stammende Domprediger-Sohn Odwin Quast nachträglich seiner „Firma” berichtete, für die er bis zum Ende als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) tätig war: „Die zahlreichen Gedichte Hilbigs haben fast durchgehend den gleichen Inhalt: das nicht Zurechtkommen in dieser Gesellschaft, das sich ausgestoßen fühlen. Daraus resultieren dann verallgemeinerte Angriffe gegen diesen Staat, seine Gesellschaftsordnung und seine Menschen … Ein Grundthema seiner Lyrik ist die Deutschlandproblematik ausgehend von einem imaginären Deutschland, wobei er die tatsächlichen Grenzverhältnisse mutwillig mißachtet.”
Derweil hüpften im Westen diejenigen, die gegen den „Muff von 1000 Jahren unter den Talaren” anrannten, mit Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Geschrei durch die Straßen und streckten die Konterfeis kommunistischer Massenmörder in die Höhe. Insbesondere der Vietnamkrieg bot den Ansatz zur „Entlarvung” des von vielen Jugendlichen als unerträglich empfundenen Widerspruchs zwischen märchenhaften Idealen und der desillusionierenden Realität westlicher Demokratien. Ein Blick über den Tellerrand hinaus in Richtung Osten hätte sie eines Besseren belehren können. Er wurde aber nicht gewagt, und so kam es zur Aufkündigung des antitotalitären Konsenses zugunsten Stalins Antifaschismus und zur Radikalisierung des linken Spektrums. Trotz der Regierungsbeteiligung einer von dem Antikommunisten Kurt Schumacher weit abgerückten SPD, wurden Prinzipien westlichen Demokratieverständnisses verworfen zugunsten utopischer Sozialismusvorstellungen aller Varianten – von Marx, Lenin und Trotzki bis hin zu Mao, Castro, Che Guevara, Kim Il Sung oder Enver Hoxha. Keine massenmörderische Peinlichkeit wurde ausgelassen. So konnte eine Außerparlamentarische Opposition (APO) den Boden für den Terrorismus bereiten. Parallel dazu lief der von Rudi Dutschke nach chinesischem Vorbild ausgerufene „lange Marsch durch die Institutionen” an.
Was diese Generation eigentlich angerichtet hat, brachte die 1971 geborene und in einem linken Kinderladen aufgewachsene Sophie Dannenberg mit ihrem Buch Das bleiche Herz der Revolution auf den Punkt: „Die 68er waren groß im Zerstören von Institutionen und Werten: Die deutschen Universitäten haben sie auf dem Gewissen, die Familie, das Leistungsprinzip, Etikette und Anstand, Verläßlichkeit und Geborgenheit … Was die 68er damals ideologisch legitimierten, hat sich gesellschaftlich vollzogen, aber nicht als Utopie, sondern als Verwahrlosung.” Die antizivilisatorische Bewegung der 68er, die viele nur selber an die Tröge der Macht und eines spießigen, herrschsüchtigen Wohllebens brachte, verkörpert den Abschaum auf dem Fluß der Geschichte. Es ist vonnöten, die untergründige Bewegung zum Vorschein zu bringen. Oberflächlich betrachtet, mag es, wie Der Spiegel behauptet, eine „heterogene Masse mit unterschiedlichen Auffassungen” gewesen sein, aber das, was sich heute alles der Achtundsechziger-Generation zugehörig fühlt und deren Wesen verschleiert, ist auf den Kern zu reduzieren, um diese Bewegung und ihre Auswirkungen benennen zu können.
Jean-Maria Lustiger, der sich einst als Jude vor den Nationalsozialisten verstecken mußte, konvertierte 1940 zum Katholizismus und gelangte 1983 zu Kardinalswürden. Als Chef der Pariser Studentenpfarrer erlebte er 1968 die Revolte, an deren Spitze der heutige EU-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit stand. Lustiger erkannte sofort die Richtung, aus der diese Bewegung kam, und urteilte: „Hohle Phrasen, verbaler Radikalismus. Dieses Wiederaufleben des Irrationalen ist eine Spiegelung des Nazismus.”