1911
Jünger schließt sich der Ortsgruppe Wunstorf des Wandervogels an.
Jeder Genuß lebt durch den Geist. Und jedes Abenteuer durch die Nähe des Todes, den es umkreist. Ich entsinne mich eines Bildes, das ich gesehen habe, als ich kaum lesen gelernt hatte, und das „Der Abenteurer” hieß: ein Seefahrer, ein einsamer Konquistador, der den Fuß auf den Strand einer unbekannten Insel setzt. Vor ihm ein Furcht erweckendes Gebirge, sein Schiff im Hintergrund. Er ist allein …Von jenem „Abenteurer” haben sich mir nur Einzelheiten schärfer in der Erinnerung erhalten: der Strand war mit Knochen besät, mit Schädeln und Gebeinen der beim gleichen Wagnis Gescheiterten. Das begriff ich und zog auch den Schluß, den der Maler beabsichtigt hatte: daß da hinaufzusteigen zwar verlockend, doch gefährlich sei. Das sind die Knochen der Vorgänger, der Väter und endlich auch die eigenen. Der Strand der Zeit ist von ihnen bedeckt. Wenn ihre Wellen uns an ihn herantrugen, wenn wir landen, schreiten wir über sie hinweg. Das Abenteuer ist das Konzentrat des Lebens: wir atmen schneller, der Tod rückt näher heran.
(Annäherungen. Drogen und Rausch)
1913
Jünger geht über die Grenze nach Frankreich und tritt in die Fremdenlegion ein, setzt nach Algerien über, wird aber vom Vater unter Vermittlung deutscher Stellen freigekauft.
Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch.
(In Stahlgewittern)
1914
Unmittelbar nach Kriegsausbruch meldet sich Jünger als Kriegsfreiwilliger.
Die glühenden Gefilde, die uns erwarten, hat noch kein Dichter in seinen Träumen geschaut. Da sind eisige Kraterfelder, Wüsten mit feurigen Palmeninseln, rollende Wände aus Feuer und Stahl und ausgestorbenen Ebenen, über die rote Gewitter ziehen. Da schwärmen Rudel von stählernen Vögeln durch die Luft, und gepanzerte Maschinen fauchen über das Feld. Und alles, was es an Gefühlen gibt, vom gräßlichsten körperlichen Schmerz bis zum höchsten Jubel des Sieges, wird dort zu einer brausenden Einheit, zu einem blitzartigen Sinnbild des Lebens zusammengeballt.
(Das Wäldchen 125)
1915
Nach kurzer Ausbildung kommt er mit seinem Regiment an die Westfront. Am 24. April wird Jünger zum ersten Mal verwundet. Im Sommer nimmt er an einem Offizierslehrgang teil, kehrt als Fähnrich an die Front zurück und wird kurz darauf zum Leutnant befördert
Was soll ich eure Nerven schonen? Lagen wir nicht selbst einmal vier Tage lang in einem Hohlweg zwischen Leichen? Waren wir da nicht alle tote und Lebendige, mit einem dichten Teppich großer, blauschwarzer Fliegen bedeckt? Gibt es noch eine Steigerung? Ja: es lag dort mancher, mit dem wir manche Nachtwache, manche Flasche Wein und manches Stück Brot geteilt hatten. Wer darf vom Kriege reden, der nicht in unserem Ringe stand?
(Der Kampf als inneres Erlebnis)
1916
Zweite Verwundung im August; während Jünger im Lazarett liegt, wird sein ganzer Zug bei Guillemont vernichtet. Dritte Verwundung im November, am 16. Dezember erhält Jünger das Eiserne Kreuz erster Klasse
Vielleicht spürt man nirgends schärfer als hier im Graben, wie der Geist einer Zeit als brüchiges Gewand in Stücken herunterfällt. Die Art, in der Gedanken, die man noch vor kurzem für bare Münze nahm, sich entleeren und gleichgültig werden, hat etwas Unheimliches; es ist, als ob man inmitten gewaltiger Schuttfelder den Geistern ver-storbener Bekannter begegnete, mit denen man eine schattenhafte Unterhaltung führt.
(Das Wäldchen 125)
1917
Jünger rückt zum Kompanieführer auf; bei neuerlichen Kämpfen auf dem Schlachtfeld von Langemarck rettet er seinem Bruder Friedrich Georg das Leben.
1918
Nach vierzehn Verwundungen und tollkühnen Aktionen als Stoßtruppführer erhält Jünger am 22. September 1918 den Pour le Mérite als höchste Tapferkeitsauszeichnung.
„In Stahlgewittern”. Der Abschied des Kriegers von den homerischen Helden mit ihrem Kampfspiel, ihrem Ruhm. Noch glaubt er, dem Titanismus standhalten zu können; er sieht nur die neuen Mittel, nicht die Weltmacht, die dahintersteht. Er tauscht die bunte Uniform gegen das graue Arbeitskleid. Der Soldat ist als Lebender unsichtbar geworden, als Toter unbekannt. Noch möchte er die Feuerwelt dem überlieferten Ethos anpassen. Doch herrschen andere Gesetze dort. Mit den Flugzeugen erscheint der Vogel Phönix in neuem Gewand.
(Siebzig verweht)
1919
Der hochdekorierte Leutnant wird in das kleine 100 000-Mann-Heer übernommen und erarbeitet Infanterievorschriften. Sein Tagebuch arbeitet Jünger zu einem Buch um: In Stahlgewittern erscheint 1920 im Selbstverlag und wird zum Bestseller. 1922 folgt der Deutungsversuch Der Kampf als inneres Erlebnis.
1923
Jünger scheidet aus der Reichswehr aus und nimmt in Leipzig das Studium der Zoologie auf. 1925 heiratet er Gretha von Jeinsen, bricht das Studium ab und wird freier Schriftsteller. Als weitere Kriegstagebücher erscheinen: Das Wäldchen 125 und Feuer und Blut.
Jede Gemeinschaft, die durch aufeinander angewiesene Männer gebildet wird, entwickelt sich nach den Gesetzen der organischen Natur. Sie wird aus der Verschmelzung verschiedener Keime erzeugt und wächst heran wie ein Baum, der seine Eigenart einer Reihe von Umständen verdankt. Die erste Begegnung ist eine im Grunde feindliche, man schleicht maskiert umeinander herum, jeder gibt sich, wie er scheinen möchte, und späht die schwachen Stellen des anderen aus. Allmählich beginnen Sympathien zu spielen, gemeinschaftliche Abneigungen und Leidenschaften werden entdeckt.
(Sturm)
1926
Sohn Ernst wird geboren. Jünger ist als Publizist und Herausgeber an zahlreichen nationalrevolutionären Blättern beteiligt.
Was diese Wärme ergreifen und umfassen möchte, ist noch sehr verschiedenartiger Natur: aber das, wovon sie sich abwendet, ist immer und überall dasselbe: Die eisige Kälte, die noch die alten Formen beherrscht. Ob wir diese Kälte in der Politik als Liberalismus, in der Wissenschaft als mechanistischen Betrieb, in der Kunst als Artistik, in der Religion als Unglauben, oder im Reiche der Liebe als Egoismus bezeichnen, – es ist überall derselbe Mangel an Anteilnahme, Begeisterung und Opferwilligkeit, der uns abschreckt und entsetzt. Es ist nicht eigentlich Feindschaft, was wir demgegenüber empfinden, denn Feindschaft kann auch dem Edlen gelten, und unter unseren Gegnern von heute verbirgt sich so mancher zukünftige Freund. Es wirkt vielmehr die große Leere und Unfruchtbarkeit, die kalte Arbeit von Gehirnen, die kein Schlag des Herzens mehr erwärmt, wie ein mattes unpersönliches und verhaßtes Medium, das durch Feuerluft gereinigt werden muß.
(Geleitwort zum Vormarsch)
1927
Jünger wendet sich von tagespolitischen Fragen ab und den metapolitischen, geschichtsphilosophischen zu. Umzug nach Berlin. Freundschaft mit Carl Schmitt.
Politische Gestaltung ist nicht der erste, sondern der letzte Schritt des Nationalismus; sie ist der Abschluß einer Erscheinung, die nicht gemacht werden kann, sondern die auf Wachstum angewiesen ist. Der Anfang des Nationalismus wird nicht bezeichnet durch die Gründung einer Partei, eines programmatischen Gehäuses, in dem die alten Dinge neu gemischt werden. Dieser Anfang gleicht vielmehr dem Keime, in dem sich die zarte Kraft des Lebens verkörpert.
(Revolution um Karl Marx)
1929
Jünger veröffentlicht die erste Fassung von Das abenteuerliche Herz, ein Jahr später den Sammelband Krieg und Krieger, in dem sein Aufsatz Die totale Mobilmachung enthalten ist; fast zeitgleich erscheint in der von Franz Schauwecker herausgegebenen Novellensammlung Mondstein Jüngers Sizilianischer Brief an den Mann im Mond.
Man kann sich heute nicht in Gesellschaft um Deutschland bemühen; man muß es einsam tun wie ein Mensch, der mit seinem Buschmesser im Urwald Bresche schlägt und den nur die Hoffnung erhält, daß irgendwo im Dickicht andere an der gleichen Arbeit sind.
(Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung)
1932
Die Hanseatische Verlagsanstalt bringt Jüngers Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Zahlreiche Reisen nach Dalmatien, Italien, Spanien, Frankreich.
Mein neues Buch beschäftigt sich mit der Herrschaft und Gestalt des Arbeiters. Das erste Ge-fühl, das mich veranlaßte, mich diesem Thema zuzuwenden, war das einer gewissen Neugierde. Unterstellt, lautete die Fragestellung ungefähr,der Arbeiter vollendet seinen Weg zur Macht, auf dem er in vielen Staaten und unter mannigfaltigen Formulierungen bereits weit vorgedrungen ist, so bezeichnet dieser Punkt für ihn keinen Abschluß, sondern erst den Beginn seiner Existenz. In dem gleichen Augenblick, in dem die Herrschaft gewährleistet ist, wächst auch der Umkreis der Verantwortung. Man kann dies auch so formulieren, daß in dem gleichen Augenblick, in dem die Herrschaft zur Tatsache wird, die Ansprüche von Schichten, die sich wirtschaftlich oder sozial benachteiligt fühlen, nicht mehr genügen, sondern daß eine umfassende, sich auf die Totalität des Lebens beziehende Befehlssprache erwartet werden muß, wie sie zu allen Zeiten das Kennzeichen einer neuen Aristokratie gewesen ist.
(Rundfunkansprache zum Erscheinen des Arbeiters)
1933
Jünger geht zu den Nationalsozialisten auf Distanz. Im Dezember zieht er von Berlin nach Goslar. 1934 wird Sohn Alexander geboren, Blätter und Steine. 1936 Umzug nach Überlingen, Afrikanische Spiele. 1938 Das abenteuerliche Herz (zweite Fassung).
Die schlechte Rasse wird daran erkannt, daß sie sich durch den Vergleich mit anderen zu erhöhen, andere durch den Vergleich mit sich zu erniedrigen sucht.
(Blätter und Steine)
1939
Umzug nach Kirchhorst bei Hannover. Jünger wird reaktiviert und rückt im September zur Truppe ein, im Oktober erscheint Auf den Marmorklippen. Als Hauptmann Führer einer Infanteriekompanie im Westen, ab 1941 im Stab des Militärbefehlshabers in Paris. 1942 Inspektionsreise in den Kaukasus, Gärten und Straßen erscheint.
Die Führung des Tagebuches, das heißt, die Ordnung des Anfalls von Fakten und Gedanken, zählt zum Kursus, zur Aufgabe, die sich der Autor stellt. Darin liegt eine einsame Tröstung, deren er bedarf. In einem Zustand, in dem der Techniker den Staat verwaltet und nach seinen Ideen umformt, sind nicht nur die musischen und die metaphysischen Exkurse, sondern ist auch die reine Lebensfreude von Konfiskation bedroht.
(Gärten und Straßen)
1944
Die Schrift Der Friede kursiert in Abschriften. Im September Entlassung aus dem Heer, wegen des Verdachts der Beteiligung an der Verschwörung gegen das NS-Regime; der Sohn Ernst fällt im November in Italien.
Daneben wird niemand übersehen, daß in der Welt der Tatsachen der Nihilismus sich den letzten Zielen annähert. Nur war beim Eintritt in seine Zone der Kopf bereits gefährdet, der Leib dagegen noch in Sicherheit. Nun ist es umgekehrt. Das Haupt ist jenseits der Linie.
(Über die Linie)
1945
Jünger wird von den Besatzungsbehörden als Wegbereiter des Nationalsozialismus eingestuft, er weigert sich, den „Fragebogen” auszufüllen und erhält Publikationsverbot. 1948 Umzug nach Ravensburg.
1949
Das Publikationsverbot wird aufgehoben, Strahlungen und Heliopolis erscheinen. Armin Mohler tritt als Sekretär bis 1953 in Jüngers Dienste. 1950 Umzug nach Wilflingen, wo man zunächst ins Schloß, später in das gegenüberliegende Forsthaus zieht. Über die Linie (1950), Der Waldgang (1951).
Dort, wo die Gedanken, die Bilder entspringen, sind Geister versammelt; sie wittern, daß Blut gespendet wird. Die Erde wird vom Geist geführt. Das ist eine Wahrheit, die stets ihr Gewicht behält. So zählt das Amt des Autors zu den höchsten dieser Welt. Wenn er das Wort verwandelt, umdrängen ihn die Geister, die stets nach solcher Spende hungrig sein.
(Strahlungen)
1955
Zum 60. Geburtstag erscheint die Festschrift Freundschaftliche Begegnungen. Seit 1957 ist Jünger vertraglich an den Verlag Klett gebunden. Von 1959 bis 1971 gibt Jünger gemeinsam mit Eliade die Zeitschrift Antaios heraus. An der Zeitmauer (1959).
Antaios’ Kraft ist stets erneut, doch stets dieselbe – das ist einer der Widersprüche von Mannigfaltigkeit und Einheit, auf denen die Dauer in der Zeit beruht. Antaios berührt den gemeinsamen Grund, aus dem die Völker in ihrer Vielzahl als Brüder erwachsen sind.
(Geleitwort zur ersten Ausgabe von Antaios)
1960
Gretha Jünger stirbt im November. Um die erste, zehnbändige Werkausgabe Werke, die zwischen 1960 und 1965 erscheint, entbrennt ein Streit zwischen Jünger und Mohler, weil Jünger sein Frühwerk darin nur in überarbeiteter Form veröffentlicht. 1962 heiratet er Liselotte Lohrer, seine Lektorin.
1965
Seit seinem 70. Geburtstag führt Jünger wieder regelmäßig Tagebuch, später als Siebzig verweht I‑V (1980–1997) publiziert. Annäherungen. Drogen und Rausch (1970), Die Zwille (1973).
JÜNGER: Ich bin ja nie mit Staatsformen zurechtgekommen, sondern schon als Unterprimaner in die Fremdenlegion ausgerissen, offenbar, weil mir die bürgerlichen Umstände nicht zusagten, und das ist eben mein Elend bis heute. Aber im Zusammenhang mit dem Goethepreis habe ich zahllose Briefe bekommen, und da heißt es immer wieder, mit dem Preis gerade an mich deutet sich eine „Tendenzwende” an. Daher wohl auch die Aufregung. Ich wünsche aber gar keine Tendenzwende. Ich bin ja froh, wenn dieser wackelige Wagen, solange ich lebe, noch halbwegs weiterläuft.
SPIEGEL: Dürfen wir die Frage zuspitzen? Trifft es zu, daß Sie im modernen Staat auch den Leviathan, daß Sie in ihm eine Pseudodemokratie sehen?
JÜNGER: Da sehen Sie die Sache schon etwas näher. Was darf man denn heute? Die Sachen, die man darf, sind doch, sagen wir mal, dem Barock gegenüber, gewaltig reduziert.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
JÜNGER: Zum Beispiel dürfen Sie heute nicht sagen: „Ich bin ein Faschist.” Dann sind Sie schon gleich der Unterste. Oder: Sie dürfen nicht auf der linken Seite fahren mit Ihrem Automobil. Das greift tief in das Individuum ein. Noch meine Väter, meine Großväter, haben viel freier gelebt als heute.
(Interview aus Anlaß der Verleihung des Goethe-Preises)
1978
Die zweite Werkausgabe Sämtliche Werke erscheint bis 1983 in 18 Bänden. Die Verleihung des Goethepreises 1982 rückt Jünger wieder in das Licht der Öffentlichkeit, es kommt zu politischen Anfeindungen. Zahlreiche Reisen, Preise und Publikationen. Eine gefährliche Begegnung (1985), Die Schere (1990). 1993 nimmt sich Sohn Alexander das Leben.
1995
Der 100. Geburtstag! Jünger erreicht das unwahrscheinliche Alter im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte. 1996 erfolgt die Konversion zum Katholizismus in aller Stille. Siebzig verweht V (1997).
1998
Ernst Jünger stirbt am 17. Februar kurz vor seinem 103. Geburtstag. Zahlreiche Briefwechsel Jüngers, etwa mit Carl Schmitt und Gerhard Nebel, werden in den folgenden Jahren ediert. 2001 erscheint Jüngers Politische Publizistik (1919–1933), 2003 liegt der vierte und letzte Supplement-Band der Sämtlichen Werke vor.
Mögen wir niemals so alt werden, daß wir das rechte Lachen verlieren über die Taten derer, die plötzlich als Taugenichtse auf und davon gingen, weil ihnen die Bücher den Kopf verdrehten. Mögen wir im Gegenteil immer bei denen sein, die eines Morgens ausziehen…
(Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung)