Wirksam geblieben ist er trotzdem. Am Beispiel der beiden grundverschiedenen Autoren Hartmut Lange und Helene Hegemann läßt sich veranschaulichen, wie es heute um dieses Phänomen bestellt ist und welche hemmende oder befreiende Wirkung von ihm ausgeht.
Nach dem Nihilismus leben heißt, keine Vorstellung mehr davon zu besitzen, wie es war, vor dem Nihilismus gelebt zu haben. Doch damit ist der Nihilismus als Zustand natürlich nicht aus der Welt. Er hat nur seine Erscheinungsform gewechselt.
Die vielleicht treffendste Definition, was Nihilismus überhaupt sei, formulierte Martin Heidegger in den frühen vierziger Jahren: »Der »Nihilismus « ist die zur Herrschaft kommende Wahrheit, daß alle bisherigen Ziele des Seienden hinfällig geworden sind. … ›Nihilismus‹, klassisch gedacht, heißt vielmehr jetzt die Befreiung von den bisherigen Werten als Befreiung zu einer Umwertung aller (dieser) Werte. … Zu diesem Wandel gehört, daß nicht nur die bisherigen Werte einer Entwertung anheimfallen, sondern daß vor allem das Bedürfnis nach Werten der bisherigen Art und an der bisherigen Stelle – nämlich im Übersinnlichen – entwurzelt wird. Die Entwurzelung der bisherigen Bedürfnisse geschieht am sichersten durch eine Erziehung zur wachsenden Unkenntnis der bisherigen Werte, durch ein Auslöschen der bisherigen Geschichte auf dem Weg eines Umschreibens ihrer Grundzüge.« – Genau das passierte in den drei großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts: im Bolschewismus, im Faschismus, in der 68er Bewegung.
Die Auswirkungen dieser »kulturellen Katastrophen« bestimmen bis heute nachhaltig unser Denken. Viele, die sich von der radikalen Moderne totalitärer Bewegungen beeindrucken ließen, erlagen der Versuchung, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen. Praktizierter Nihilismus überwinde den gefühlten, verspreche geistige »Erneuerung« und »Rettung« aus der verfahrenen Situation »zivilisatorischer« Verhältnisse, die vor allem als Verlust sämtlicher Formen oder als »Entfremdung« wahrgenommen wurde.
Der Versuch mißlang gründlich. Eine Folge davon war, daß der Nihilismus als Phänomen hinter den Ereignissen seiner Wirkung verschwand. War den Menschen der Nihilismus als Phänomen vor dessen politischer, also praktischer Umsetzung geistig vielerorts gegenwärtig, so ist uns heute der Nationalsozialismus als repräsentativste Mutation des Nihilismus noch viel gegenwärtiger. Statt über den Nihilismus reden wir heute über den Nationalsozialismus. Denn der ist greifbarer, weniger abstrakt. Indem uns das Ereignis des Nationalsozialismus bis in jeden Winkel unseres Daseins hinein verfolgt, kämpfen wir unseren Stellvertreterkrieg gegen den Nihilismus.
Dabei verlangen wir nach einer »reinigenden Handlung«, die rituell vollzogen werden kann und dadurch den »Fluch des verdrängten Nihilismus « zu bannen hilft. Weil der Nationalsozialismus so mörderisch wie notwendig scheitern mußte, stiftet der täglich geführte Kampf gegen ihn heute den vielleicht letzten Sinn »ideeller« politischer Handlungen.
Das literarische Werk Hartmut Langes, überwiegend Novellen und Essays, ist von einer tiefen Melancholie durchzogen, die aus eben jenem Scheitern des Menschen an der Überwindung der Formlosigkeit und »Entfremdung« resultiert. Geistig fest im 20. Jahrhundert verwurzelt, leistet Lange eine Art stiller Trauerarbeit. Sein Nihilismus ist »bürgerlich«, leise, manchmal etwas betulich. Und er wird bewußt reflektiert. Es gibt ein paar wirklich grandiose Novellen von Lange, und das sind bezeichnenderweise gerade die, in denen er das oben beschriebene Trauma zu verarbeiten sucht. Er hat, Jahrgang 1937, die Totalitarismen und insbesondere den Nationalsozialismus so tief verinnerlicht, daß sie ihn bis heute in einer Art melancholischer Gefangenschaft halten. Mitte der achtziger Jahre rang Lange mehrmals heftig mit den großen Äußerungen praktizierten Nihilismus, danach beschrieb er fast nur noch Wege ihres Nachlebens. 1983 erschienen die Aufzeichnungen Deutsche Empfindungen. Tagebuch eines Melancholikers, wenig später, 1984, unter dem Titel Die Waldsteinsonate, fünf Novellen von zeitloser Kraft und Schönheit, die bis heute den einsamen Gipfelpunkt in Langes Schaffen darstellen dürften. 1986 legte er mit der Novelle Das Konzert noch einmal nach, indem er den Stoff der Abschlußnovelle Die Heiterkeit des Todes aus der genannten Sammlung erneut aufgriff. In beiden Texten geht es um junge ermordete Juden, die im Berlin der Gegenwart als »Gespenster« erscheinen, um – und darin besteht die Originalität – in Anwesenheit oder sogar in Verbindung mit ihren Mördern fortzusetzen, woran sie ihr früher Tod einst gehindert hat: »Da uns das Leben unglücklich macht, geschehen im Tod die Zeichen und Wunder!« Diese Bemühungen, die das damalige Publikum stark polarisierten, können als jene »reinigenden Handlungen« verstanden werden, von denen oben die Rede war. Denn das kennzeichnet den Nihilismus »alten Schlages«, der wie bei Lange ein »belastender«, »bedrückender«, »gewissenhafter« und »moralisch-deutscher« Nihilismus ist, daß er nach einer solchen »Reinigung« verlangt.
Ganz anders Helene Hegemann, die mit Axolotl Roadkill ein weitgehend unterschätztes Psychogramm posthistorischen Bewußtseins geliefert hat. Ihr Nihilismus ist kein bewußt reflektierter, sondern ein verinnerlichter, ein gelebter, der deshalb auch gar nicht mehr explizit ausgesprochen werden muß. Statt »belastend« wirkt er »entlastend«, statt »bedrückend« »entrückend«, statt »gewissenhaft« »cool«, und statt »moralischdeutsch « »amoralisch-weltverloren«. Und genau darin besteht das Besondere, das Erfrischende, das Überraschende dieser erst achtzehnjährigen Autorin. Denn: »Es kommt nämlich darauf an, was man aus seinem Nihilismus macht.« (Gottfried Benn)
Bekanntlich hat das Feuilleton Hegemann – die bereits 2009 mit ihrem grandiosen Debütfilm Torpedo aufgefallen war und einer einflußreichen Intellektuellenfamilie entstammt – eifrig als Wunderkind gefeiert, um sich dann wochenlang über ein paar Plagiate zu echauffieren, die so gering sind, daß sie auf die Bedeutung des Buches wirklich keinen Einfluß haben. Aber jeder mußte über sie reden, denn »Helene ist ein Mädchen, dem Erwachsene gern gefallen wollen. In ihrer Nähe fühlen sie sich hip. Ein Teenager, der klüger ist als die meisten Dreißigjährigen – ein bißchen schräg, aber irgendwie cool.« (Jan Simon)
Die Spielregeln und Funktionsweisen des Betriebs sind festgefahren und bekannt, jeder weiß, wie Bücher »gemacht« werden, wer mit welchen Themen oder »Provokationen« wo landet. – Und doch scheint das System langsam etwas durchlässiger zu werden. Die oft seltsam oberflächlichen Reaktionen auf Axolotl Roadkill deuten jedenfalls in diese Richtung.
»Ficken, Kotzen, Tanzen: So stellen sich berufsjugendliche berlinbesoffene Feuilletonisten das Jungsein gern vor. Hegemann gibt ihnen, was sie verdienen«, urteilte Denis Scheck. Stimmt wohl, greift aber zu kurz. Die Konservativen stoßen sich am Jargon, an der Fäkalsprache, an der augenscheinlich kaputten Welt, die Hegemann als aktiver Teil beschreibt. Und die machtverwöhnten Linken müssen unzufrieden sein, weil sie eine Gefahr dort wittern sollten, wo ihre verlogenen Lebensentwürfe scheitern und sich in Form von Literatur (zunächst!) gegen die Verursacher zu richten beginnen. Sie bemerken, daß die anerzogenen Reflexe, über die ganze Generationen zu guten Sozial-Demokraten abgerichtet wurden, auf Respektlosigkeit stoßen und an Kraft verlieren. Vielleicht löst sich die Generation der heute Achtzehnjährigen tatsächlich aus dem Bann der moralischen Abhängigkeiten ihrer Eltern und Großeltern, was nicht nur auf die Literatur ungeheuer befreiend wirken dürfte.
Denn wer hätte noch vor zehn Jahren – selbst wenn er die Tochter des ehemaligen Chefdramaturgen der Berliner Volksbühne, Carl Hegemann, ist – Sätze schreiben dürfen wie diese, ohne dafür ungedruckt oder wenigstens vom Betrieb ignoriert zu bleiben: »Und dein Vater?« »Der ist eins von diesen linken, durchsetzungsunfähigen Arschlöchern überdurchschnittlichen Einkommens, die ununterbrochen Kunst mit Anspruch auf Ewigkeit machen und in der Auguststraße wohnen.«
Natürlich hat Carl Hegemann – direkt oder indirekt – an diesem Buch kräftig mitgewirkt (er wird in der Danksagung deutlich hervorgehoben), aber solche Passagen eben nicht verhindert. Gewiß: In dem Buch wird viel kokettiert, es enthält viel »Volksbühne«, und manchmal hat man den Eindruck, als sei es nicht zuletzt mit Blick auf den herrschenden Typus hiesiger Feuilletonisten geschrieben. Aber ganz gleich, wieviel »Berechnung« in diesem Buch steckt: Die emotionale wie geistige Wohlstandsverwahrlosung als Folge der post-achtundsechziger Konsenskultur kommt drastisch zur Sprache. Und damit auch Kritik an dem Milieu, das sich, je desaströser die Verhältnisse werden, umso trotziger selbst feiert und abschirmt, da es sich für das Beste hält, was diesem Land je widerfahren ist.
Zwar bedeutet das noch keine Wende in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern zunächst nur die Schwächung bestimmter antrainierter Gewohnheiten durch Gleichgültigkeit, aber immerhin. Und es ist diese Nonchalance, die den geistig homogenisierten Betrieb vielleicht langsam für andere Mentalitäten, Charaktere oder Denkweisen öffnen dürfte:
»Mittlerweile sitzen wir am Frühstückstisch, Annika spült eine halbe Ritalin mit Magermilchkakao runter und teilt den Inhalt der zweiten Nordseekrabbenpackung in drei gleich große Portionen auf. Lars, Annika und ich verstehen uns wunderbar. Annika fragt: ›Was hättet ihr denn heute gehabt in der Schule?‹ ›Hä?‹ ›Na ja, was für Fächer? Was für Fächer verpaßt du jetzt? Mathe? Wenn du technisches Werken verpaßt, kriegst du eine Sechs aufs Zeugnis!‹ ›Die fahren irgendwie alle ins KZ heute.‹ ›Großartig!‹«
An die Seite des bedrückenden Nihilismus, der jahrzehntelang das bundesdeutsche Selbstverständnis bildete, gesellt sich nun ein entrückender. Treffen beide Formen aufeinander, entstehen groteske Situationen, die mehr über den Grad der »deutsche Psychose« verraten als alle theoretischen Versuche. In Axolotl Roadkill ist Helene Hegemann die Beschreibung solcher Szenen unterhaltsam gelungen:
»Vor zwei Wochen ist mir wieder so was Komisches passiert, als ich nachts durch die Choriner Straße gelatscht bin und auf der gegenüberliegenden Straßenseite plötzlich so eine megaaggressive Gruppe kleiner Vollprolls gesehen habe. … ›Bleib stehen, du hast sowieso keine Chance‹, sagte der Häßlichste von ihnen … Dann kickte jemand von hinten seinen Fuß in mein Blickfeld, ich konnte gerade noch ausweichen. … Der Häßliche dann irgendwie so: ›Ey, hassu gerade Nazigruß gemacht zu mir oder was?‹ ›Wie bitte?‹ ›Ich hab’s gesehen, du hast gerade Nazigruß gemacht, Alter!‹ ›Nein, hab ich nicht.‹ ›Ich hab’s doch gesehen, ey!‹ ›Spinnst du? Ich hab meine Kopfhörer aufgesetzt, ich bin selber Ausländerin!‹ Die Miene der Typen versteinerte sich, und dann veränderten sie ihre Haltung und waren alle ziemlich verwirrt. ›Kraß, Entschuldigung, wir dachten, Sie wären Nazi.‹ ›Nein, Mann! Ihr könnt doch nicht durch die Choriner Straße laufen und Leute plattmachen.‹ ›Na ja, wir machen das immer so, also Erhan kickt dann immer, und dann liegen die Leute auf dem Boden, und dann gehen die anderen noch mal drauf.‹ Erhan so: ›Ja, sorry, der Kick, zum Glück habe ich nicht getroffen.‹ ›Haben Sie eine Zigarette für uns?‹«
Ein Land, in dem sich solche Szenen abspielen, befindet sich im Zustand fortgeschrittener Degeneration: Die »deutsche Psychose« wird nur noch von denen bemerkt, die nicht von ihr befallen sind. Die »Vitalen« – allen voran jüngere Ausländer – haben das Machtvakuum erkannt, das darin für sie besteht. Der täglich praktizierte Opferkult »reinigender Handlungen« läßt die Praktizierenden selbst zu Opfern werden. Eine ganze Gesellschaft hat sich moralisch zur Handlungsunfähigkeit erzogen, indem sie ihren Stellvertreterkrieg gegen den Nihilismus als doktrinären »Antifaschismus« führt und zur Staatsräson erklärt. Dieser Zustand teilt die Menschen in »Befangene« und »Unbefangene«, in »Deutsche« und »Ausländer«. Und es reicht, wie im Falle der Hauptfigur Mifti, das Bekenntnis zu den »Unbefangenen«, um von der Seite der »Opfer« auf die der »Täter« zu wechseln.
Während der Faschismus für die »dekadent Vitalen« und »moralisch Unbefangenen« nur noch als Ursache der großen Psychose von Interesse ist, werden die sich wie auch immer zur »Betroffenheit« Bekennenden von dieser Psychose nach wie vor beherrscht. Deshalb stellt sich heute – gerade für Angehörige der Zwischengenerationen – die vielleicht größte Grundsatzfrage unserer Zeit: Zu welcher Seite gehöre ich?
Denn das ist der Unterschied zwischen dem gelebten, »schmutzigen« Entlastungsnihilismus einer Hegemann, der tatsächlich im Sinne Benns als schöpferisches »Glücksgefühl« empfunden werden kann, und dem gepflegten »reinigenden« Belastungsnihilismus eines Hartmut Lange, dessen jüngster Novellenband, Der Abgrund des Endlichen, nicht zufällig mit folgenden Worten aus dem Mund eines reuigen Mörders endet: »Helfen Sie mir. Ich habe Angst.« Und: »Es ist mir nicht möglich, ohne Sühne zu sterben.« – Worte, die so ungeheuer wie ungewollt symbolträchtig sind für dieses kranke Land.