Heiner Müller und Ernst Jünger – eine deutsche Konstellation

pdf der Druckfassung aus Sezession 22/Februar 2008

sez_nr_228von Siegfried Gerlich

Er hatte ihn bereits in seiner frühen Jugend gelesen, und derlei Lektüren begleiten einen nicht selten bis zuletzt. Sein Plan, den über Hundertjährigen nach Berlin zu laden und im Berliner Ensemble mit einer großen Lesung aus seinen Werken zu feiern, ließ sich nicht mehr verwirklichen, aber der langgehegte Wunsch nach einer persönlichen Begegnung war in Erfüllung gegangen. Der Ältere kannte das Werk des Jüngeren nicht, und so stellte sich Heiner Müller mit taktisch klugen Worten Ernst Jünger vor: „Wir haben einen gemeinsamen Feind: Wolfgang Harich." - „Kommen Sie!"


Und er kam nach Wilf­lin­gen, heim­lich, die Mau­er war noch nicht gefal­len. Der Umstand, daß der mar­xis­ti­sche Phi­lo­soph Harich Jün­ger als Weg­be­rei­ter des Faschis­mus und Mül­ler als defai­tis­ti­schen Rene­ga­ten, mit dem kein sozia­lis­ti­scher Staat zu machen sei, atta­ckiert hat­te, bot ein schö­nes bil­let d’en­trée; Annä­he­run­gen erga­ben sich dann in Gesprä­chen über Rausch und Dro­gen, und am Ende spra­chen Lieb­ha­ber von Kata­stro­phen miteinander.
Es darf von einer Wahl­ver­wandt­schaft zwei­er Män­ner gespro­chen wer­den, die zeit­le­bens von vie­len ange­fein­det wur­den, und die doch wuß­ten, daß sie zu ande­rer Zeit ein­an­der auch als Fein­de hät­ten begeg­nen kön­nen. Die Schlag­wor­te aber, die den geis­ti­gen Habi­tus Jün­gers tref­fen, sind auch für Mül­ler schla­gend: aris­to­kra­ti­scher Dan­dy­is­mus, preu­ßi­scher Anar­chis­mus, heroi­scher Nihi­lis­mus. In bei­der Lebens­werk sind Rausch, Krieg und Tod all­ge­gen­wär­tig, und der Todes­ver­ach­tung des zwei­ma­li­gen Welt­krie­gers ver­wandt erscheint auch die stoi­sche Gelas­sen­heit, mit wel­cher der „Krie­ger ohne Schlach­ten” ster­bend sei­nem Tod ins Auge sah. Das Leben war ihm der Güter höchs­tes nicht: „Was zählt ist das Bei­spiel, der Tod bedeu­tet nichts.”
Das Bei­spiel, das Hei­ner Mül­ler gab, war ein Leben, das sich im per­ma­nen­ten Ein­satz für eine unzeit­ge­mä­ße Sache ver­zehr­te: die Wie­der­ge­burt der Tra­gö­die aus dem Geis­te der Revo­lu­ti­on. Eine grau­sa­me Kul­tur­re­vo­lu­ti­on war die tra­gi­sche Uto­pie, das schwarz­ro­man­ti­sche Leit­mo­tiv sei­nes Lebens und Schaf­fens. Die Beharr­lich­keit, mit wel­cher der letz­te Tra­gi­ker von Rang dem hohen Anspruch sei­nes Pro­gramms zu genü­gen such­te, zeugt nicht nur von sei­nem im bes­ten Sin­ne deut­schen Eigen­sinn, der ihn wider­stän­dig mach­te glei­cher­ma­ßen gegen die poli­ti­sche Gän­ge­lung der Kul­tur im Osten wie gegen deren öko­no­mi­sche Ver­nut­zung im Wes­ten. Sie ver­rät auch den hei­li­gen Ernst eines Dich­ters in dürf­ti­ger Zeit, der fürch­ten muß­te, daß, was blei­ben wer­de, nicht die Dich­ter, son­dern die Bom­ben stif­ten, und den­noch uner­bitt­lich blieb in sei­nem Kampf auf ver­lo­re­nem Posten.
Den exis­ten­ti­el­len Hero­is­mus des ein­sa­men Wol­fes hat Mül­ler frei­lich nie so pla­ka­tiv her­aus­ge­stellt wie Jün­ger. Noto­risch bedien­te sich die­ser rote Wer­wolf der List des Odys­seus, sich ein Nie­mand zu nen­nen, wenn ande­re nach dem Namen frag­ten. Sei­ne mas­ken­haf­te Phy­sio­gno­mie schütz­te den Ver­letz­li­chen vor den Bli­cken der Zudring­li­chen und sicher­te dem Dra­ma­ti­ker die erha­be­ne Frei­heit, mit sei­nen Figu­ren zu spie­len wie die grie­chi­schen Göt­ter mit den Schick­sa­len der Sterb­li­chen. Im Unter­schied jedoch zu der Göt­ter grau­sa­mem Spiel barg Mül­lers Thea­ter der Grau­sam­keit vor allem sei­nen eige­nen Schmerz. Jün­ger moch­te als Mensch uner­schüt­ter­li­cher wir­ken, und doch hin­ter­ließ gera­de er eine gan­ze Ästhe­tik des Schmer­zes. Mit den Wor­ten des jun­gen Lukács möch­te man bei­de zu jenen „tie­fe­ren Geis­tern” zäh­len, „die ihr ent­strö­men­des Blut zu pur­pur­nem Stahl zu erstar­ren und zum Pan­zer zu schmie­den ver­su­chen, damit ihre Wun­den ewig ver­bor­gen bleiben.”

Mit die­sem durch Kampf und Schmerz gestähl­ten Ethos stan­den Jün­ger und Mül­ler in der ver­fem­ten Tra­di­ti­on der deut­schen Kriegs­li­te­ra­tur des zer­ris­se­nen Kleist, des visio­nä­ren Höl­der­lin, des wahn­haf­ten Nietz­sche. Im Jahr­hun­dert der tota­len Mobil­ma­chung indes­sen soll­te eine neu­ar­ti­ge Figur das Schlacht­feld betre­ten, und es war der Natio­nal­bol­sche­wist Jün­ger, wel­cher der tra­di­tio­nel­len Gestalt des Krie­gers die moder­ne des Arbei­ters zur Sei­te stell­te und auch die­sen zur Kampf­ma­schi­ne zurüstete.
Der Kom­mu­nist Mül­ler dage­gen funk­tio­nier­te das Thea­ter zur Kriegs­ma­schi­ne für die Auf­bau­schlacht des Arbei­ter­staa­tes um. Sei­ne Mobi­li­sie­rung des zöger­li­chen Ham­let zur zyni­schen Ham­let­ma­schi­ne aber setz­te einen so grau­sa­men Exor­zis­mus in Sze­ne, daß in Stahl­ge­wit­tern klir­rend kal­ter Buch­sta­ben mit den Fein­den der Revo­lu­ti­on auch alle schö­ne Büh­nen­li­te­ra­tur in Staub ver­sank. Einer aus den Fugen gera­te­nen Welt bescher­te der Dra­ma­ti­ker heil­lo­se Unter­gän­ge in absur­den End­spie­len und ero­ti­schen Hor­ror­ka­bi­net­ten, in deren alle­go­ri­scher Apo­ka­lyp­tik schließ­lich der baro­cke Ursprung des deut­schen Trau­er­spiels wie­der auf­brach. Die Aus­nah­me­zu­stän­de aber, in denen die Hoch­span­nung zwi­schen for­ma­ler Stren­ge und inhalt­li­cher Brü­chig­keit kol­la­bier­te, trie­ben Mül­ler in eine nack­te Mimi­kry mit dem Tod: sei­ne dis­pa­ra­ten Frag­men­te nähr­ten sich von den zer­stü­ckel­ten Kör­pern der Schlacht­fel­der, das Blut der Opfer war dar­in zu toten Buch­sta­ben geron­nen, und weil kei­ne Hoff­nung für die Toten ist, ver­wei­ger­ten man­che Tex­te ihren Sinn.
In aller dia­lek­ti­schen Über­rei­zung des his­to­ri­schen Ver­frem­dungs­thea­ters blieb frei­lich Mül­lers Leit­bild Brecht bis zuletzt gegen­wär­tig, und ster­nen­weit ent­fernt von des­sen Gefil­den forsch­te ein Jün­ger demü­tig nach einer zei­tent­rück­ten Hie­ro­gly­phik des Seins und Strah­lun­gen beson­de­rer Art. In der epi­schen Natur des gra­zi­len Jün­ger war eine ruhi­ge Klar­heit her­an­ge­reift, wäh­rend der dra­ma­ti­sche Geist des fra­gi­le­ren Mül­ler unauf­hör­lich nur die höchs­ten Wel­len über sich zusam­men­schla­gen ließ.
Aber Jün­ger besaß ein­mal, was Brecht immer schon gefehlt hat­te: ein Sinn für das Tra­gi­sche – und des­sen Glut­kern übte auf Mül­ler zeit­le­bens eine abgrün­di­ge Fas­zi­na­ti­on aus. Jün­gers Werk stand exem­pla­risch für die den­ke­ri­sche Durch­drin­gung jener epo­cha­len Erfah­rung des Tra­gi­schen, die den Mate­ri­al­schlach­ten des Ers­ten Welt­krie­ges abge­run­gen war und Gestalt ange­nom­men hat­te im Sozia­lis­mus des Schüt­zen­gra­bens, um sich dann in den Kon­flikt jener feind­li­chen Brü­der auf­zu­spal­ten, die sich schließ­lich im Welt­bür­ger­krieg der Ideo­lo­gien zer­mal­men soll­ten: Kom­mu­nis­mus und Faschis­mus. Im Gegen­satz zu Brecht attes­tier­te Jün­ger bei­den Bewe­gun­gen die his­to­ri­sche Not­wen­dig­keit gleich­ran­gi­ger Erschei­nungs­for­men des mobi­li­sier­ten Arbei­ters. Für Mül­ler wie­der­um muß­te sich gera­de deren äuße­rer Wider­streit und inne­re Wider­sprüch­lich­keit zur tra­gi­schen Visi­on erhe­ben. Wer die Tra­gö­die des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts schrei­ben woll­te, konn­te sich nicht mit der Logik des Zer­falls der bür­ger­li­chen Welt begnü­gen; er muß­te vor allem ihren Kon­flikt mit der sozia­lis­ti­schen Welt zum Dra­ma gestal­ten, nicht ohne zuletzt noch deren eige­nen tra­gi­ko­mi­schen Unter­gang als Far­ce darzubieten.
Als mit dem Sieg des glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus die mar­xis­ti­sche Idee der Revo­lu­ti­on als Loko­mo­ti­ve der Welt­ge­schich­te end­gül­tig aus­ge­spielt hat­te, wur­den für den uner­müd­li­chen Kämp­fer die Ideen einer kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on wie­der viru­lent: Mül­ler dach­te sie sich mit Ben­ja­min als Griff des in den Abgrund rasen­den Men­schen­ge­schlechts nach der Not­brem­se; mit Carl Schmitt als Auf­hal­ter des dro­hen­den Unter­gangs; vor allem aber mit Jün­ger als anar­chi­schen Auf­stand des Lebens gegen eine tech­no­kra­tisch ver­wal­te­te Welt­zi­vi­li­sa­ti­on. Sein letz­tes Ziel war eine apo­ka­lyp­ti­sche Kul­tur­re­vo­lu­ti­on, die gera­de die irra­tio­na­len Kräf­te zurück­er­obern soll­te, die der Kom­mu­nis­mus zu Unrecht dem Faschis­mus über­las­sen hat­te. So muni­tio­nier­te sich der spä­te Mül­ler mit den vita­lis­ti­schen Impul­sen des jun­gen Jün­ger, um die schmerz­haf­te Wun­de einer unab­ge­gol­te­nen Uto­pie wie­der auf­zu­rei­ßen und den Blut­strom einer ver­narb­ten Mensch­heit erneut zum Flie­ßen zu brin­gen. Für Jün­ger hin­ge­gen, der bereits nach dem Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges sei­ne Frie­dens­schrift zu Papier gebracht hat­te, war der Krieg längst nicht mehr „das letz­te Refu­gi­um des Huma­nen”, als wel­chen ein tra­gi­scher Huma­nis­mus Mül­ler ihn zu sehen gelehrt hatte.

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