Aber über allem steht doch die Befindlichkeit: Da plagt die Autorinnen X und Y die patriarchalische Erwartungshaltung (Umfragen unterstützen sie), Frau D und K wollen ihren persönlichen Lebensweg verteidigen (die Zahlen auf dem Konto geben ihnen recht), Frau M kennt grundsätzlich keine Zahlen (nur Menschen), Herr B ist zuvörderst von wissenschaftlicher Eitelkeit geplagt (es gibt nur wahre und falsche Zahlen, lästige Laien und einen Rechthaber: ihn), während Herr Hin der großen Antithese (sämtliche Zahlen erweisen das Gegenteil des bislang Behaupteten) seine Nische findet – Fortsetzung unerquicklich. Wer politisch eingebunden ist, dürfte von vornherein als Ratgeber ausfallen, zu groß ist der ideologische Ballast (ob Heimchen-Idyll, ob Gender-Zauber), der einem hier ans Bein gekettet wird.
Peter Mersch, Wahl-Frankfurter des Jahrgangs 1949, tritt auf als unbelasteter Denker. Er ist unparteiisch im weiteren Sinne, weder Parteipolitik noch einem Institut (mit entsprechenden Zielvorgaben) untertan, nicht einmal der Hausphilosophie eines Verlags unterstellt und selbst privat auf einem in dieser Hinsicht recht glaubwürdigen Platz zwischen den Stühlen thronend. Mersch ist Vater zweier Kinder, die jedoch getrennt von ihm aufwachsen. Keine Knute ist in Sicht, auch kein Lebensweg, dessen Ausrichtung es um jeden Preis zu verteidigen gilt; es walten Belesenheit und nüchterne Logik. Mersch ist Mathematiker und Informatiker, war Jahre seines Lebens im Spacelab-Projekt, später in führender Position in der Finanzindustrie beschäftigt, heute ist er Freiberufler und – nebenbei! – Vielschreiber.
Nun gilt es nicht eben als 1a-Empfehlung, eigene, noch dazu fachfremde (im akademischen Sinne) Erkenntnisse zu einem „Allerweltsthema” (siehe oben) in einem lektoratsfreien Selbstmach-Verlag wie Books on Demand zu veröffentlichen. Solche Publikationsweise birgt nicht nur Mängel (hier sind es kleine, in der Hauptsache formaler Art), denen mit einem professionellen Lektorat abgeholfen wäre, sondern auch Nachteile bezüglich Reputation und Verbreitung. Daß gute Literatur ihren Weg finden werde: im Normalfall ein reichlich naiver Glaube. Daß Mersch hier eine Ausnahme ist, sollte man ihm wünschen, immerhin deutet es sich an: Er verkauft – gerade nach einer Besprechung im Deutschlandfunk – einigermaßen gut.
Mersch konstatiert zunächst den Rückgang kinderreicher Familien (Land ohne Kinder. Wege aus der demographischen Krise, Norderstedt: BoD 2006, 212 Seiten, 22.00 €) sowie den negativen Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Kinderzahl. Das individuelle Reproduktionsverhalten führt er – Romantiker werden seufzen – auf eine (unbewußte) Kosten-Nutzen-Rechnung zurück: drei Vorteile (Konsumnutzen: vorrangig emotionaler, auch repräsentativer Art; Einkommensnutzen: Kindergeld und Steuerersparnisse; Sicherheitsnutzen: tendiert negativ, da eigene Kinder heute der Altersvorsorge nicht sicher zuträglich sind) stehen zwei Nachteile gegenüber: direkte und Opportunitätskosten (durch Einschränkung der beruflichen und freizeitlichen Optionen). Ausführlich entwickelt Mersch dann eine evolutionstheoretisch basierte Fertilitätsanalyse – freilich in vollem Bewußtsein darüber, daß dieser Ansatz als politisch inopportun gilt. Genau aus dieser Einsicht ergibt sich für Mersch (der stets auf der Höhe der Zeit und Wissenschaft argumentiert; seine Quellen belegen dies) das aktuelle Dilemma: „Wendet man die Evolutionsprinzipien auf menschliche Gesellschaften an, wird dies rasch als Sozialdarwinismus diskreditiert. Läßt eine Gesellschaft dagegen zu, daß ihr Reproduktionsverhalten nicht den Evolutionsprinzipien entspricht, verletzt sie die Generationengerechtigkeit.”
In hochentwickelten menschlichen Gemeinschaften sind die Anforderungen sowohl an produktive Tätigkeiten (etwa durch Technologisierung, Globalisierung, insgesamt verstärkten Wettbewerb) als auch an reproduktive Leistungen (vor allem an die Erziehung) gestiegen. Jegliche „Vereinbarungsmaßnahme” der Politik läuft auf eine Addition beider Bereiche hinaus, so daß am Ende nicht nur Kinder und Karriere, sondern auch der Mensch in Mitleidenschaft gezogen wird. Wo dem Individuum zugestanden und nachgerade abgefordert wird, sich auf berufliche Leistung zu konzentrieren und seinen Lebensweg frei zu wählen, müssen zwangläufig auftretende Defizite (Mersch nennt: Herstellen von Sicherheit, Weitergabe von Wissen, Aufziehen von Nachwuchs, Pflege Älterer) von Dritten und damit häufig (und ebenso häufig ungenügend) vom Sozialstaat übernommen werden. Da die sexuelle Arbeitsteilung – weil sie die Frau ökonomisch abhängig hält – nicht mehr greifen will (Die Emanzipation – ein Irrtum! Warum die Angleichung der Geschlechter unsere Gesellschaft restlos ruinieren wird, Norderstedt: BoD 2007, 15.80 €), haben wir das bekannte Problem: Qualifizierte, gutbezahlte Berufstätigkeit korreliert mit einer geringen Kinderzahl. Die Folge: Eigenschaften (zuvörderst genetische, aber auch durch Erziehung erreichte), die beruflichen Erfolg begünstigen, scheiden sukzessive aus dem Spiel der Evolution aus. Umgekehrt: Wer dem Arbeitsmarkt wenig zu bieten hat, bekommt eventuell hochsubventionierte Kinder mit ungewisser Bildungsbiographie (Hurra, wir werden Unterschicht! Zur Theorie der gesellschaftlichen Reproduktion, Norderstedt: BoD 2006, 268 Seiten, 19.90 €).
Erfolgreiche Unternehmen, so Mersch, organisierten sowohl ihre produktiven als auch ihre reproduktiven Bereiche marktwirtschaftlich. In modernen Staaten sehe das anders aus: „Die Reproduktion ihres wichtigsten Produktes („Humankapital”) wird privat von den Bürgern finanziert und erbracht, der Nutzen daraus steht allen zu (wird sozialisiert).” Nach Mersch ein „fundamentaler Organisationsfehler”. Längst sind Individuen nicht mehr auf Kinder angewiesen – Gesellschaften aber sehr wohl. Der Autor setzt nun auf eine Professionalisierung der Erziehungsarbeit in Form eines Berufs: dem „Familienmanager” (Die Familienmanagerin, Norderstedt: BoD 2007, 224 Seiten, 19.80 €).
Konkret: Jeder Bürger müßte für ein Kind Unterhalt zahlen. Von dieser Verpflichtung könnte er sich durch das Aufziehen eines eigenen Kindes befreien. Die Differenz zu einer bestandserhaltenden Geburtenrate könnte dann von staatlich beschäftigten „Familienberufstätigen” abgedeckt werden, die in aller Regel größere Familien mit drei oder mehr Kindern gründen. Solche Familienfrauen (oder ‑männer) hätten sich entsprechend (Mersch schlägt eine Ausbildung auf akademischem Niveau vor) zu qualifizieren und fortzubilden; entsprechende „freie Stellen” würden Staat oder Bundesland ausschreiben.
Mersch sieht sich als Zusammendenker und Stichwortgeber und hütet sich deshalb davor, seinen prägnant formulierten Ansatz ins kleinste Detail fortzuschreiben. Gleichwohl decken seine Überlegungen zahlreiche Eventualitäten (die noch kinderlose Berufseinsteigerin, mögliche Bildung vielfältiger Netzwerke; aber auch Scheidung, Ende der Erziehungsphase etc.) ab. Ein Grundgehalt von 500 Euro sowie weitere 500 (sozialversicherungspflichtig, Arbeitslosenversicherung ausgenommen) für jedes selbst betreute Kind (das kein eigenes sein muß, wie sich auch das Gehalt nicht am Kind, sondern der qualifizierten, vertraglich vereinbarten Erziehungsleistung bemißt) erscheint ihm als probates Finanzierungsbeispiel.
Einwände zuhauf? Merschs Bücher sind mittlere Wälzer, voller Beispielrechnungen, Modelle und weiterführender Querverweise. Wo ein Wille ist (soll man ihn bei den Verantwortlichen voraussetzen?), führt eigentlich kein Weg an Merschs Konzept vorbei.