Kirche als Institution

pdf der Druckfassung aus Sezession 18/Juni 2007

sez_nr_181Der Konservative befindet sich heute in einem nahezu unauflöslichen Dilemma. Zu seinem Selbstverständnis gehört es, daß er dem Menschen und damit auch sich selbst skeptisch gegenübersteht. Ohne Institutionen, so die von Gehlen paradigmatisch formulierte These, drohe der Mensch sich selbst zu verlieren: „Die Institutionen einer Gesellschaft sind es also, welche das Handeln nach außen und das Verhalten gegeneinander auf Dauer stellen (...) Diese Stabilisierung besteht darin, daß die Menschen sich je zu ganz bestimmten, vereinseitigten, perspektivischen Inhalten der Außenwelt, ihrer eigenen menschlichen Natur und ihrer Denkbarkeiten entscheiden, und daß sie diese Entscheidungen eben durch ihre Institutionen hindurch festhalten."

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.


Mit ande­ren Wor­ten: Das welt­of­fe­ne und damit instinkt­un­si­che­re Män­gel­we­sen Mensch ist auf Füh­rung ange­wie­sen. Insti­tu­tio­nen sind die zwei­te Natur des Men­schen. Ohne sie gibt es kei­ne Frei­heit, weil nur sie den Men­schen aus der Unmit­tel­bar­keit des Lebens her­aus­lö­sen kön­nen und damit Kul­tur ermög­li­chen. Dar­aus folgt, daß der Kon­ser­va­ti­ve gewohnt ist, auch sei­ne Gegen­wart skep­tisch zu betrach­ten. Für ihn steht fest, daß die Fül­le (und die Fes­tig­keit der Insti­tu­tio­nen) am Anfang war und die Geschich­te ein ewi­ger, viel­leicht sehr lang­sam vor­an­schrei­ten­der Ver­falls­pro­zeß ist. Die gegen­wär­ti­gen Insti­tu­tio­nen sind dabei, sich selbst zu besei­ti­gen und damit den Men­schen zu ver­ra­ten. Die­se Situa­ti­on stellt den Kon­ser­va­ti­ven vor einen unauf­lös­ba­ren Wider­spruch. Stützt er, was sei­ne natür­li­che Regung ist, die Insti­tu­tio­nen, muß er in Kauf neh­men, daß er sich selbst ver­rät. Tut er es nicht, droht er die Bedürf­tig­keit sei­nes Nächs­ten zu ver­ges­sen. Und auch er ver­rät sich.
Als der 18jährige Karl Jas­pers, der spä­te­re Psy­cho­pa­tho­lo­ge und Exis­tenz­phi­lo­soph, sei­nem Vater den Ent­schluß mit­teil­te, daß er aus der Kir­che aus­tre­ten wol­le, ant­wor­te­te ihm sein Vater fol­gen­des: „Es ist leicht, nein zu sagen, wenn man nichts bes­se­res weiß. Die Welt ist zu gutem Teil des Teu­fels. Die mensch­li­chen Ord­nun­gen soll man ach­ten, wenn sie nicht offen­bar scha­den. Man kennt das Unheil nicht, das ent­steht, wenn sie zer­bre­chen. Wir sind nicht allein auf der Welt. Solan­ge man lebt, hat man die Ver­pflich­tung, an alle ande­ren zu den­ken. Wenn du ein­mal sieb­zig Jah­re alt sein wirst, von allen Ämtern zur Ruhe gesetzt bist und vor dem Tode stehst, dann kannst du rei­nen Tisch machen und aus der Kir­che aus­tre­ten, ohne es öffent­lich bekannt wer­den zu las­sen. Über­le­ge dir, daß du kein fal­sches Bei­spiel gibst.”

Der Vater war selbst kein gläu­bi­ger Christ, besuch­te die Kir­che nur an Weih­nach­ten und trat den­noch erst im hohen Alter aus, ohne es publik zu machen. Karl Jas­pers selbst ist nie aus­ge­tre­ten, obwohl er an den Kern des Chris­ten­tums, daß Gott in Chris­tus Mensch gewor­den ist, nicht geglaubt hat. Von daher stel­len sich zwei Fra­gen: Gilt für die Kir­che noch, wie es vor mehr als ein­hun­dert Jah­ren galt, daß sie nicht offen­bar scha­det? Und inwie­fern ist die Bewer­tung der Kir­che als Insti­tu­ti­on von mei­ner per­sön­li­chen Glau­bens­ent­schei­dung abhän­gig? Denn dar­um geht es in den Wor­ten von Jas­pers’ Vater: Ich glau­be nicht an den Grund, auf dem die Kir­che errich­tet ist und blei­be den­noch ihr Mit­glied, weil ich mei­ner Ver­ant­wor­tung gerecht wer­den will.
Aus die­sen Wor­ten spricht ein hohes Ethos, das für unse­re Zeit offen­sicht­lich nicht mehr vor­aus­ge­setzt wer­den kann: Per­sön­lich­kei­ten, die öffent­lich wahr­ge­nom­men wer­den und Posi­tio­nen ein­neh­men, die ein hohes Maß an Vor­bild­funk­ti­on mit sich brin­gen, füh­ren oft­mals kein vor­bild­haf­tes Leben, Franz Becken­bau­er und Josch­ka Fischer mögen als Beleg dafür gel­ten. Und für die meis­ten von uns stellt sich das Pro­blem so oder so in einer weni­ger dra­ma­ti­schen Situa­ti­on, da wir nicht davon aus­ge­hen müs­sen, daß das, was wir tun, von ande­ren als bei­spiel­haft betrach­tet wird. Wir sind auf uns selbst zurück­ge­wor­fen und müs­sen die gestell­te Fra­ge in die­sem Sin­ne beant­wor­ten. Selbst das Vor­bild für den klei­nen Kreis ist oft nicht mehr gefragt. Das bedeu­tet nichts ande­res, als daß wir uns nicht mehr mit dem Bild her­aus­re­den kön­nen, das wir nach außen erzeu­gen: Es inter­es­siert in Zei­ten des auf die Spit­ze getrie­be­nen Indi­vi­dua­lis­mus nie­man­den mehr.
In solch einer Zeit gibt es die Kir­che, ohne daß deut­lich wür­de, was sie bedeu­tet. All­ge­mein kann dort von Kir­che gespro­chen wer­den, wo eine his­to­ri­sche Kon­ti­nui­tät (sub­jek­ti­ve Sei­te), eine geis­ti­ge Kon­for­mi­tät (objek­ti­ve Sei­te) und eine öku­me­ni­sche Gesin­nung (das unter­schei­det die Kir­che von der Sek­te) bestehen.
Die Beto­nung der zwei Sei­ten macht deut­lich, daß die Kir­che eine Insti­tu­ti­on ist, die eine beson­de­re Betrach­tung erfor­dert, näm­lich eine, die bei­de Sei­ten in den Blick nimmt: „Eine Kir­che gibt es nur im Chris­ten­tum. (…) Sie ist der Leib Chris­ti und ent­zieht sich als sol­cher jedem Ver­ste­hen. Sie ist selbst erst die Vor­aus­set­zung allen Ver­ste­hens. Zwar ist sie auch Volk und Bund, aber immer nur unter der Vor­aus­set­zung der Anwe­sen­heit Chris­ti, des ‚Herrn‘, der das Band sowohl im Zusam­men­schluß (Beru­fung, Erwäh­lung), als in der Gege­ben­heit (Schöp­fungs­mit­t­ler) ist. Dar­um ist sie sicht­bar-unsicht­bar, mensch­lich orga­ni­siert und mys­tisch belebt, geis­tig und kos­misch. Sie wird nicht kon­sta­tiert, son­dern geglaubt.”

Die übli­che Reli­gi­ons­so­zio­lo­gie inter­es­siert sich für Reli­gi­on nur inso­fern, als sie sich in dem Ver­hal­ten, der Stel­lung und der sozia­len Umwelt des Indi­vi­du­ums insti­tu­tio­na­li­siert. Kir­che ist dann eine Insti­tu­ti­on, die vor sub­jek­ti­ver Will­kür bewahrt, Glau­ben­de bei der Stan­ge hält, Gemein­schaft lebt, Frei­raum gegen­über der Gesell­schaft schafft, den dau­ern­den Ent­schei­dungs­druck dis­pen­siert und so den per­sön­li­chen Glau­ben erst ermög­licht. In die­sem Sin­ne hat­te Geh­len Insti­tu­tio­nen als Ein­rich­tun­gen defi­niert, die auf unlös­ba­re Wider­sprü­che dau­er­haft Ant­wor­ten geben. Die Kir­che selbst wird dar­auf eine ande­re Ant­wort geben müssen.
In den ver­schie­de­nen Kon­fes­sio­nen bestehen Unter­schie­de im Ver­ständ­nis der Kir­che. In Deutsch­land betrifft das vor allem Katho­li­ken und Pro­tes­tan­ten, die jeweils etwa drei­ßig Pro­zent der deut­schen Bevöl­ke­rung ausmachen.
Nach Luther ist die Kir­che die „Gemein­schaft der Hei­li­gen” und damit der von Gott Gerecht­fer­tig­ten. Wer das ist, weiß nur Gott. Sie ist das im Hei­li­gen Geist ver­sam­mel­te Volk Got­tes, ihrem geist­li­chen Wesen nach ver­bor­gen, sicht­bar sind nur Tau­fe, Abend­mahl und Ämter. Des­halb ist die Kir­che im evan­ge­li­schen Ver­ständ­nis nicht die empi­risch greif­ba­re Insti­tu­ti­on (die es natür­lich auch gibt). Ihren Ursprung hat die­ses Ver­ständ­nis in der Situa­ti­on, in der die Refor­ma­ti­on statt­fand: Die Insti­tu­ti­on der katho­li­schen Kir­che soll­te bekämpft wer­den, nicht der christ­li­che Glau­be, wie er in den Evan­ge­li­en und durch Pau­lus gelehrt wird.
Im Katho­li­zis­mus ist dage­gen die eigent­li­che Kir­che, die sozio­lo­gisch greif­ba­re Gemein­schaft der Getauf­ten, die den wah­ren Glau­ben beken­nen und in Gemein­schaft mit Papst und Bischö­fen leben. Infol­ge des unter­schied­li­chen Insti­tu­tio­nen­ver­ständ­nis­ses erge­ben sich ver­schie­de­ne Schluß­fol­ge­run­gen. In der Papst­kir­che wird gemacht, was der Papst sagt. Der ein­zel­ne Gläu­bi­ge hat offen­sicht­lich rela­tiv wenig Ein­fluß auf die Gestalt der Kir­che. Das heißt nicht, daß die katho­li­sche Kir­che wie ein Fels im Meer des Zeit­geis­tes ste­hen wür­de. Auch sie ist von all dem betrof­fen, was die Gegen­wart an Auf­lö­sungs­er­schei­nun­gen mit sich bringt.
Der Unter­schied zum Pro­tes­tan­tis­mus liegt insti­tu­tio­nell gese­hen vor allem dar­in, daß die­ser auf dem Prin­zip beruht, daß der ein­zel­ne Gläu­bi­ge Gott nicht fer­ner steht als der Pas­tor, so daß ein „Pries­ter­tum aller Gläu­bi­gen” besteht. Hier ist etwas kon­se­quent umge­setzt, was sich im Grun­de seit dem Hel­le­nis­mus als zwangs­läu­fig abzeich­ne­te, die Zunah­me des indi­vi­du­el­len Frei­heits­raums des ein­zel­nen Men­schen. Das hat zwei Sei­ten: Einer­seits wird der Ein­zel­ne in sei­ner Mün­dig­keit akzep­tiert, ande­rer­seits lie­gen in die­ser Mün­dig­keit die höchs­ten Anfor­de­run­gen, die sich den­ken las­sen. Ohne die Sicher­heit im Glau­ben droht die Frei­heit zur Belie­big­keit zu werden.
Der Pro­tes­tan­tis­mus zeich­net sich dadurch aus, daß er über kei­ne ein­heit­li­che Gestalt ver­fügt. Er setzt sich aus Luthe­ra­nern, Refor­mier­ten (Cal­vi­nis­ten), Angli­ka­nern, Bap­tis­ten, Metho­dis­ten und Pfingst­lern zusam­men. Ihnen sind die indi­vi­du­el­le Glau­ben­s­ein­sicht und ein insti­tu­ti­ons­kri­ti­scher Grund­zug gemein­sam, was man unter dem Schlag­wort „Geist statt Kir­che” zusam­men­fas­sen könn­te. Der Mensch ist auf sich selbst zurück­ge­wor­fen, sei­ne Inner­lich­keit bedeu­tet ihm eine ele­men­ta­re Unverfügbarkeit.

Der dar­aus resul­tie­ren­de Indi­vi­dua­lis­mus kann als aris­to­kra­ti­sche Ethik ver­stan­den wer­den, die einen leis­tungs­ethi­schen Eli­ten­pro­tes­tan­tis­mus ins­be­son­de­re dort erzeugt, wo sich Pro­tes­tan­ten in der Min­der­heit befin­den, wie bei­spiels­wei­se in Frank­reich. Es gibt kei­ne, im katho­li­schen Sin­ne, hei­li­gen, reli­giö­sen Räu­me: Gott ist über­all, ins­be­son­de­re im All­tag anwe­send, so daß jede Tätig­keit auf Gott bezo­gen ist. Daher rührt die pro­tes­tan­ti­sche Nei­gung zu einer „mora­lisch-reli­giö­sen Über­le­gi­ti­mie­rung des Poli­ti­schen”. Unter­gangs­ge­sän­ge beglei­ten den Pro­tes­tan­tis­mus seit jeher. Er ver­fügt aber, als Fol­ge sei­ner frei­en Viel­ge­stal­tig­keit, über die Fähig­keit, sich stän­dig selbst zu erneu­ern. So daß es schließ­lich heißt: „Der freie Got­tes­geist läßt sich nicht insti­tu­tio­nell fixie­ren, er wirkt, wo er will.” (Fried­rich Wil­helm Graf)
In Deutsch­land ist der Pro­tes­tan­tis­mus durch die zeit­wei­se enge Bin­dung an den Staat und die Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit zwei tota­li­tä­ren Dik­ta­tu­ren ver­kirch­lich­ter als in vie­len ande­ren Län­dern, was gegen­wär­tig offen­bar nicht zu sei­nem bes­ten aus­schlägt. Jeg­li­cher Ver­druß, der sich gegen die gegen­wär­ti­ge Gesell­schaft wen­det, fin­det sein Ziel auch in der Amts­kir­che. Für die Alter­na­ti­ve, sich in Frei­kir­chen zu orga­ni­sie­ren, sieht der evan­ge­li­sche Theo­lo­ge Karl-Her­mann Kand­ler, wenig Aus­sicht den Anspruch, der „eine Leib” des einen Herrn zu sein, zu erfül­len, da sich bei ihnen das „Pro­blem der zwei­ten und drit­ten Gene­ra­ti­on” stellt: „Die Situa­ti­on, in der sie ent­stan­den sind, läßt sich nicht vererben.”
Die­se Ein­sicht ändert nichts dar­an, daß die Insti­tu­ti­on Kir­che selbst für die Mehr­heit ihrer Anhän­ger nicht mehr über­de­ter­mi­niert ist und damit auch kein Gefühl der unbe­stimm­ten Ver­pflich­tung mehr erzeu­gen kann.
Wenn man Geh­len glau­ben darf, liegt das Pro­blem im durch die Kir­chen dar­ge­stell­ten Mono­the­is­mus selbst. Durch Uni­ver­sa­lis­mus, Indi­vi­dua­lis­mus und Säku­la­ri­sie­rung der Außen­welt mache die­ser die Insti­tu­tio­nen kaputt. Aber Geh­len tappt hier in eine Fal­le, die er selbst aus­ge­legt hat. Wenn man den Insti­tu­ti­ons­be­griff im wesent­li­chen aus der Betrach­tung vor­mo­der­ner Gesell­schaf­ten gewinnt, müs­sen moder­ne Insti­tu­tio­nen immer wie eine Schwund­stu­fe erschei­nen. Damals galt das „Prin­zip der sub­jek­ti­ven Frei­heit” (Hegel) noch nicht. Daher hinkt der aus die­sem Ver­gleich abge­lei­te­te Kul­tur­pes­si­mis­mus immer etwas.
Ethi­sche Insti­tu­tio­nen, das zeigt das Bei­spiel der grie­chi­schen Polis bei Aris­to­te­les, kann es auch ohne „archai­sche Struk­tur und Nor­mie­rung im Sinn der väter­li­chen Sit­te” (Joa­chim Rit­ter) geben. Mit die­ser Ein­sicht ent­kommt man der Apo­rie von Insti­tu­ti­on und Refle­xi­on, die kon­ser­va­ti­ve Intel­lek­tu­el­le ger­ne kon­sta­tie­ren, ohne die­ser Ent­ge­gen­set­zung selbst zu ent­spre­chen. In die­ser Tra­di­ti­on ste­hen auch Ver­tre­ter der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on, die Reli­gi­on und Kir­che rein funk­tio­nal betrach­ten. So bei­spiels­wei­se Ernst Jün­ger, der nach dem Zwei­ten Welt­krieg schreibt: „Die wei­te­re Zurück­drän­gung der Kir­chen wür­de die Mas­sen ent­we­der gänz­lich dem tech­ni­schen Kol­lek­tiv und sei­ner Aus­beu­tung preis­ge­ben oder sie in die Arme jener Sek­tie­rer und Char­la­ta­ne trei­ben, die heu­te an jeder Stra­ßen­ecke auf­spie­len. Hier mün­den ein Jahr­hun­dert des Fort­schritts und zwei Jahr­hun­der­te der Auf­klä­rung.” Die Mas­sen benö­ti­gen die Kir­che gleich­sam als Gehäu­se, um nicht dem Nihi­lis­mus anheimzufallen.

Solch ein Den­ken mag zwar sei­ne Berech­ti­gung haben, wird der Kir­che aber nicht gerecht. Die Kir­che ist eine Insti­tu­ti­on, die den Men­schen sta­bi­li­siert und ent­las­tet. Sie tut das nur bei dem Men­schen, der dar­an glaubt, daß in ihr der „Leib Chris­ti” oder die „Gemein­schaft der Hei­li­gen” zusam­men­tritt, daß Jesus Chris­tus für sei­ne Sün­den gestor­ben ist. Sie steht und fällt mit dem Glau­ben. Wo das Bewußt­sein der Schöp­fung und damit der Sünd­haf­tig­keit fehlt, ist die Kir­che zu einem äußer­li­chen Gehäu­se gewor­den. Damit ist sie als Insti­tu­ti­on tot, da die wich­tigs­te For­de­rung, die Über­de­ter­mi­niert­heit, nicht mehr gege­ben ist. Von die­ser Insti­tu­ti­on läßt sich nie­mand mehr „ver­bren­nen”, sie ist nicht mehr Aus­gangs­punkt der Freiheit.
Das Unbe­ha­gen an der Kir­che hat sei­nen Ursprung letzt­end­lich nicht, und das soll­te nicht ver­ges­sen wer­den, in der Kir­che oder im Glau­ben, son­dern in den Fol­gen der Ver­welt­li­chung der Kir­che. So schreibt Kand­ler: „Außer dem offe­nen Angriff gegen die Kir­che gibt es den viel gefähr­li­che­ren, bei dem der Ver­su­cher sich die Kir­che dienst­bar macht und sie ver­welt­licht.” Wenn die Kir­che ver­welt­licht ist, ist es kein Wun­der, daß dar­in die Ver­ir­run­gen unse­rer Zeit ihren Platz fin­den. Der Theo­lo­ge Fried­rich Gogar­ten war der Auf­fas­sung, daß nicht nur dar­an, son­dern an der Auf­lö­sung der Insti­tu­tio­nen über­haupt, die Kir­che schuld sei. Die Chris­ten wür­den einem fal­schen Glau­ben, der pri­va­ti­sier­ten Gläu­big­keit, anhän­gen und nicht mehr in der Lage sein, die Ord­nun­gen der Welt zu erken­nen und den ande­ren zu ver­deut­li­chen. Das aber wäre die ers­te Pflicht des Chris­ten und auch der Kir­che, weil die Ord­nun­gen wegen der Sün­de bezie­hungs­wei­se der Unvoll­kom­men­heit des Men­schen vor­han­den sind.
„Der Mensch muß ver­stan­den wer­den als einer, der von Anfang an, der vom Schöp­fer­wil­len Got­tes eben nicht als Ein­zel­ner geschaf­fen ist, nicht als einer der das, was er ist, aus sich wäre, so wie wir heu­te die Per­sön­lich­keit ver­ste­hen, son­dern den Gott so schafft, daß er, der Mensch, das, was er ist, durch den Ande­ren ist, so daß er das ist, was er in der Ver­ant­wor­tung vor dem Ande­ren ist, und sonst nichts.” Dar­in liegt eine tie­fe Wahr­heit, die es ohne das Chris­ten­tum nicht geben wür­de. Und dar­aus lei­tet sich auch die Ver­pflich­tung ab, der Kir­che nicht den Rücken zu keh­ren. Schließ­lich geht es dar­um, daß die­ser gläu­bi­ge Blick, der von dort auf den Men­schen fällt, nicht ver­lo­ren­geht. Es gibt aber im Abend­land kei­ne außer­halb des Chris­ten­tums lie­gen­de Tra­di­ti­on, die die­sen ver­mit­teln könn­te. Der Rück­zug aus den Kir­chen hat daher auch für den fata­le Fol­gen, der sich so vor den Nach­stel­lun­gen des Zeit­geis­tes in Sicher­heit brin­gen will: Der Glau­be wird in den eige­nen vier Wän­den nie­mals zu einer Insti­tu­ti­on und „front­schaf­fen­den Kraft” (Geh­len) wer­den, son­dern immer an der Auto­ri­tät des Ein­zel­nen hän­gen. Und wie fehl­bar der Mensch ist, soll­ten Kon­ser­va­ti­ve am bes­ten wissen.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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