110. Geburtstag Joachim Ritter

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Harald Seubert

Joachim Ritter studierte Philosophie, Theologie, Geschichte, Germanistik in Heidelberg, Marburg, Freiburg im Breisgau u. a. bei Ernst Rothacker, Heinz Heimsoeth und Martin Heidegger.

1925 wur­de er von Ernst Cas­si­rer in Ham­burg mit einer Arbeit über die »Doc­ta igno­ran­tia bei Nico­laus Cusa­nus« pro­mo­viert, die Habi­li­ta­ti­on folg­te 1932 mit einer Stu­die über den »Mun­dus intel­li­gi­bi­lis. Unter­su­chung zur Auf­nah­me und Umwand­lung der neu­pla­to­ni­schen Onto­lo­gie bei Augustinus«.

Rit­ter neig­te in sei­nen frü­hen Jah­ren dem Mar­xis­mus zu, 1933 war der jun­ge Dozent Mit­un­ter­zeich­ner eines Bekennt­nis­ses der Pro­fes­so­ren zu Hit­ler und dem NS-Staat. Er war seit 1937 NSDAP-Mit­glied, zudem Mit­glied der NS-Stu­den­ten­kampf­hil­fe und des NS-Leh­rer­bun­des, seit 1940 Reser­ve­of­fi­zier und seit 1941 dien­te er an der Ost­front. 1943 wur­de er zum Extra­or­di­na­ri­us in Kiel ernannt, konn­te aber auf­grund des Mili­tär­diens­tes die Stel­le nicht antreten.

Von 1946 bis zur Eme­ri­tie­rung 1968 lehr­te Rit­ter als Ordi­na­ri­us an der West­fä­li­schen Wil­helms-Uni­ver­si­tät in Müns­ter, unter­bro­chen von einer Gast­pro­fes­sur in Istan­bul (1953–55). Rit­ters Wir­kung, in Anbe­tracht eines schma­len, aber gehalt­vol­len OEu­vres, ver­dankt sich einer­seits sei­nem über­ra­gen­den hoch­schul­po­li­ti­schen Enga­ge­ment, ande­rer­seits aber einem unge­wöhn­lich pro­duk­ti­ven, über die Fach­dis­zi­plin hin­aus­rei­chen­den Schü­ler­kreis, dem so unter­schied­li­che Tem­pe­ra­men­te und Per­sön­lich­kei­ten wie Her­mann Lüb­be, Odo Mar­quard, Gün­ter Rohr­mo­ser, zeit­wei­se Ernst Tugend­hat, Robert Spae­mann und Ernst-Wolf­gang Böcken­för­de ange­hör­ten. Ihnen muß der Leh­rer mit hohem intel­lek­tu­el­lem Anspruch, zugleich aber mit einer zurück­ge­nom­me­nen, immer anre­gen­den Tole­ranz begeg­net sein, so daß sich die Jün­ge­ren früh als eigen­stän­di­ge Part­ner ver­ste­hen konn­ten. Nicht zuletzt dar­aus dürf­te die Viru­lenz des Rit­ter-Krei­ses rüh­ren, des­sen Oberseminare,das »Col­le­gi­um Phi­lo­so­phi­cum«, ein Forum gera­de­zu legen­dä­rer Debat­ten­frei­heit bil­de­ten, mit Durch­läs­sig­kei­ten auf die »Gesprä­che in der Sicher­heit des Schwei­gens « im Umkreis von Carl Schmitt.

Beson­de­re Beach­tung fand sei­ne schma­le, in zahl­rei­che Spra­chen über­setz­te Unter­su­chung über Hegel und die fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on (zuerst 1957). Die Stu­die hat ein dop­pel­tes Ver­dienst: Sie resti­tu­iert den Hegel der Rechts­phi­lo­so­phie wie­der als Den­ker der Frei­heit, der aber über deren nur for­ma­le Bedeu­tung hin­aus­geht. Hier­in grün­det der Kom­pen­sa­ti­ons­be­griff, der, u. a. von Odo Mar­quard im Blick auf die Legi­ti­mi­tät der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten ver­wen­det, ins Zen­trum der Rit­ter-Schu­le gehört. Zum ande­ren zeigt Rit­ter, daß die Moder­ne ins­ge­samt unter der Signa­tur von »Ent­frem­dung« und »Ent­zwei­ung« ver­stan­den wer­den kann. Dabei ist Rit­ter aber nicht zum Nie­der­gangs­theo­re­ti­ker gewor­den. Indus­tria­li­sie­rung, abs­trak­te Rechts­uni­ver­sa­li­tät bedür­fen der Bewah­rung der Sub­stanz des Her­kom­mens, um nicht ver­spielt, ja in ihr Gegen­teil ver­kehrt zu werden.

Ähn­lich wich­tig wie Hegel war für Rit­ter Aris­to­te­les. Von ihm her erschloß er die Bedeu­tung der klas­si­schen Tra­di­ti­on prak­ti­scher Phi­lo­so­phie, die im Span­nungs­feld zwi­schen Ethik und Poli­tik zu einer »Her­me­neu­tik der geschicht­li­chen Welt« zu ver­tie­fen ist. Insti­tu­tio­nen sind uner­läß­lich, um das abs­trak­te Sol­len und die Wirk­lich­keit des Welt­laufs zuein­an­der in Bezie­hung zu set­zen. Die »Reha­bi­li­tie­rung der prak­ti­schen Phi­lo­so­phie« (Man­fred Rie­del, Wil­helm Hen­nis), aber auch der Neo­aris­to­te­lis­mus der angel­säch­si­schen Phi­lo­so­phie (Alasd­air Mac­In­ty­re) ver­dan­ken Rit­ter wesent­li­che Anregungen.

Sein letz­tes gro­ßes Pro­jekt war das His­to­ri­sche Wör­ter­buch der Phi­lo­so­phie, das Rit­ter seit den sech­zi­ger Jah­ren, zunächst in der Absicht einer Koope­ra­ti­on mit Gada­mer, dann eigen­stän­dig auf den Weg brach­te. Das Wör­ter­buch sucht phi­lo­so­phi­sche Grund­be­grif­fe in ihrem Wan­del und zugleich in ihrem topi­schen Zusam­men­hang sicht­bar zu machen, aus­ge­hend von einem Kon­zept, wonach Phi­lo­so­phie, obgleich sie in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen und Schu­len zer­fällt, sich peren­nie­rend als ein gro­ßes Gespräch ent­fal­tet. Nicht min­der wich­tig – und auch für zahl­rei­che Rit­ter-Schü­ler kenn­zeich­nend – ist es, daß ver­gan­ge­nes Den­ken wie ein Oku­lar ver­stan­den wird, um die Pro­ble­me der eige­nen Zeit zu erkennen.

Rit­ter hat damit nicht nur einer strik­ten Unter­scheid­bar­keit von Geschich­te der Phi­lo­so­phie und ihrer Sys­te­ma­tik wider­spro­chen, son­dern auch jener zwi­schen geis­ti­ger Matrix und his­to­ri­scher Realität.

 

Schrif­ten: Hegel und die fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on, Köln 1957; Meta­phy­sik und Poli­tik. Stu­di­en zu Aris­to­te­les und Hegel, Frank­furt a. M. 1969 (erw. Neu­aus­ga­be 2003);
Sub­jek­ti­vi­tät. Sechs Auf­sät­ze, Frank­furt a. M. 1974; Vor­le­sun­gen zur Phi­lo­so­phi­schen Ästhe­tik, hrsg. v. Ulrich von Bülow und Mark Schwe­da, Göt­tin­gen 2010.

Lite­ra­tur: Ernst-Wolf­gang Böcken­för­de et al. (Hrsg.): Col­le­gi­um Phi­lo­so­phi­cum. Joa­chim Rit­ter zum 60. Geburts­tag, Basel 1965; Ulrich Dier­se (Hrsg.): Gedenk­schrift Joa­chim Rit­ter, Müns­ter 1978; Joa­chim Rit­ter zum Geden­ken, Stutt­gart 2004; Gün­ter Rohr­mo­ser: Kon­ser­va­ti­ves Den­ken im Kon­text der Moder­ne, Bietigheim/Baden 2006.

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