15. Todestag Panajotis Kondylis

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Adolph Przybyszewski

Der Philosoph Panajotis Kondylis hinterließ ein umfangreiches, gleichwohl Fragment gebliebenes Werk: Ein überraschender Tod riß ihn, nachdem er zahlreiche gewichtige Monographien, Übersetzungen und Aufsätze vorgelegt hatte, mitten aus der Arbeit an einem auf drei Bände geplanten Opus magnum.

Der Außen­sei­ter des aka­de­mi­schen Betriebs ist zwar längst in der Fach­welt aner­kannt, wird im intel­lek­tu­el­len Estab­lish­ment aber noch immer als »Geheim­tip« gehan­delt. Ein Grund dafür liegt in der Kühn­heit und Sou­ve­rä­ni­tät des ana­ly­ti­schen Zugriffs von Kon­dy­lis: Sei­ne Denk­hal­tung kenn­zeich­ne­te er selbst als »deskrip­ti­ven Dezi­sio­nis­mus«, der jeg­li­ches Wer­te­sys­tem als Funk­ti­on mensch­li­chen Macht­wil­lens mit tie­fer Skep­sis betrach­tet, ande­rer­seits wis­sen­schaft­lich objek­ti­ver Erkennt­nis mit gro­ßem Pathos ver­pflich­tet ist. Sei­ne Wer­ke ent­hal­ten sich folg­lich ahis­to­ri­scher nor­ma­ti­ver Urtei­le, um die Tugend des kal­ten, illu­si­ons­lo­sen Bli­ckes zu schulen.

Der Sohn eines Berufs­of­fi­ziers und einer Leh­re­rin war Sproß einer grie­chi­schen Ober­schicht­fa­mi­lie, zu der u. a. der 1936 gestor­be­ne Gene­ral und zeit­wei­li­ge Minis­ter Geor­gi­os Kon­dy­lis zähl­te. In Athen, wo er auch die Schu­le besucht hat­te, stu­dier­te Pana­jo­tis Kon­dy­lis Phi­lo­so­phie und Klas­si­sche Phi­lo­lo­gie, absol­vier­te über­dies noch vor Abschluß des Stu­di­ums sei­nen Mili­tär­dienst. Nach dem »Putsch der Obris­ten« im Jahr 1967 geriet er wegen sei­ner Befas­sung mit Marx und Engels in Ver­dacht, wur­de aber nicht behel­ligt und konn­te 1971 nach Deutsch­land gehen, um in Frank­furt am Main, vor allem aber in Hei­del­berg Phi­lo­so­phie, Geschich­te und Poli­tik­wis­sen­schaf­ten zu stu­die­ren. Geför­dert wur­de er dort von den kriegs­ge­dien­ten His­to­ri­kern Rein­hart Koselleck und Wer­ner Con­ze, pro­mo­vier­te jedoch 1977 bei Die­ter Hen­rich als Philosoph.

Kon­dy­lis blieb als Autor, Leser und Mann des Gesprächs zeit sei­nes Lebens Pri­vat­ge­lehr­ter, der in Athen wie in Hei­del­berg zu Hau­se war. Sein Haupt­werk schrieb der poly­glot­te Grie­che auf deutsch, da er die­ser Spra­che eine dem Alt­grie­chi­schen ähn­li­che begriff­li­che, gram­ma­ti­sche und damit phi­lo­so­phi­sche Potenz zumaß. Kon­dy­lis’ Den­ken geht aus von einer sozi­al­his­to­risch gesät­tig­ten Ideen­ge­schich­te, die zu sys­te­ma­ti­schen phi­lo­so­phi­schen Ein­sich­ten destil­liert und damit theo­re­tisch fun­diert wird. Sei­ne Frag­ment geblie­be­nen »Gründ­zü­ge der Sozi­al­on­to­lo­gie « (Das Poli­ti­sche und der Mensch, 1999) ver­ste­hen den Men­schen als ein sozia­les Wesen von Grund auf. Seins­ge­schich­te hat Kon­dy­lis zufol­ge nicht beim Men­schen als ein­zel­nem anzu­set­zen, so sei­ne Kri­tik an Heid­eg­ger, son­dern beim ago­na­len Sozi­al­we­sen, das stets zwi­schen Kon­flikt, Kon­kur­renz und Koope­ra­ti­on aus­ge­spannt ist.

In Macht und Ent­schei­dung (1984) legt er dar, daß Iden­ti­tät auf vor­be­wuß­ten Grund­ent­schei­dun­gen fußt; indem sich der Macht­an­spruch der »eige­nen Iden­ti­tät inner­halb des mit ihr ver­wach­se­nen Welt­bil­des« ent­fal­tet, sind geis­ti­ge Ope­ra­tio­nen nicht weni­ger als hand­fes­te Hand­lun­gen immerauch Funk­tio­nen des mensch­li­chen Selbst­er­hal­tungs­triebs und daher stets pole­misch ange­legt. Das Rin­gen um die Köp­fe ist ele­men­ta­rer Bestand­teil des Kamp­fes um die eige­ne Stel­lung in der Welt. Bei­spiel­haft ent­fal­tet wird dies schon in Kon­dy­lis’ Dis­ser­ta­ti­on über Die Ent­ste­hung der Dia­lek­tik (1979) bei Höl­der­lin, Schel­ling und Hegel und der damit zusam­men­hän­gen­den Stu­die über Die Auf­klä­rung im Rah­men des neu­zeit­li­chen Ratio­na­lis­mus (1981), wo er zeigt, »wie sich ein sys­te­ma­ti­sches Den­ken als Ratio­na­li­sie­rung einer Grund­hal­tung und ‑ent­schei­dung all­mäh­lich her­aus­kris­tal­li­siert, und zwar im Bestre­ben, Gegen­po­si­tio­nen argu­men­ta­tiv zu besiegen«.

Die Aus­for­mung jener Dia­lek­tik, wie sie nach Hegel im Mar­xis­mus Ideo­lo­gie einer welt­ge­schicht­lich wirk­sa­men Macht wur­de, erweist sich als Teil eines kon­flikt­rei­chen, schon im Spät­mit­tel­al­ter ein­set­zen­den Pro­zes­ses der Ablö­sung von Welt­bil­dern, in dem die for­mal-begriff­li­chen Struk­tu­ren der jeweils älte­ren Meta­phy­sik still­schwei­gend über­nom­men und pole­misch umge­deu­tet wer­den. Kon­dy­lis’ Inter­es­se galt daher einer­seits sol­chen Denk­fi­gu­ren, ande­rer­seits auch den kon­kre­ten Men­schen und Schich­ten, die damit ope­rie­ren. In die­sem Sin­ne beschrieb und ana­ly­sier­te er die For­mie­rung und Ent­wick­lung der euro­päi­schen »Neu­zeit« in sei­ner Stu­die über den Kon­ser­va­ti­vis­mus (1986) und den Nie­der­gang der bür­ger­li­chen Denk- und Lebens­form (1991), um schließ­lich kon­se­quent mit der im 20. Jahr­hun­dert eta­blier­ten nach­bür­ger­li­chen Mas­sen­de­mo­kra­tie auch die aktu­el­len For­men der Glo­ba­li­sie­rung in den Blick zu nehmen.

Bereits Kon­dy­lis’ Deu­tung von Clau­se­wit­zens Theo­rie des Krie­ges (1988), deren Aneig­nung und Fort­füh­rung ins­be­son­de­re in der Marx­schen Tra­di­ti­on er unter­such­te, belegt, daß er sei­ne geis­tes­ge­schicht­li­che Arbeit nicht nur zur Fun­die­rung einer Phi­lo­so­phie des Men­schen als Sozi­al­we­sen betrieb: Sie läßt ihn als genu­in poli­ti­schen Den­ker erken­nen, der sich vor allem Thuky­di­des, Machia­vel­li, Tho­mas Hob­bes, Carl Schmitt und Ray­mond Aaron ver­pflich­tet weiß. Als beson­de­re ana­ly­ti­sche Leis­tung von Lenins Clau­se­witz-Ver­ständ­nis betont er etwa, daß die­sem »die Poli­tik nicht als das mäßi­gen­de Ele­ment erscheint, das den Krieg bän­di­gen soll, son­dern als ein Zustand per­ma­nen­ten Kamp­fes, wor­aus von Zeit zu Zeit Krie­ge ent­ste­hen müs­sen. Die Vor­stel­lung vom Kampf steht im Mit­tel­punkt von Lenins poli­ti­schem Den­ken «. Mit Clau­se­witz mißt Kon­dy­lis dem »Takt des Urteils« größ­te Bedeu­tung für jede ange­mes­se­ne »zukunfts­ori­en­tier­te Lage­be­schrei­bung« zu: Die­ser ist nicht als Meta­pher für Intui­ti­on, son­dern als eine aus Erfah­rung und Wis­sen gespeis­te intel­lek­tu­el­le Urteils­fä­hig­keit zu verstehen.

Dem ent­spricht Kon­dy­lis’ gesam­tes Werk: Sei­ne sys­te­ma­ti­sche und gro­ße Mate­ri­al­mas­sen bewäl­ti­gen­de Durch­drin­gung der Geschich­te stellt das Rüst­zeug bereit, die gegen­wär­ti­ge Lage und das Poten­ti­al künf­ti­ger Lage­ent­wick­lun­gen zu beur­tei­len. Frucht die­ses poli­ti­schen Den­kens sind Kon­dy­lis’ zu einem Band zusam­men­ge­faß­te Auf­sät­ze über Das Poli­ti­sche im 20. Jahr­hun­dert (2001), beson­ders aber sei­ne Stu­die über die »Pla­ne­ta­ri­sche Poli­tik nach dem Kal­ten Krieg«. Hier wird eine Zukunft »als Form und Mög­lich­keit, nicht als Inhalt und Ereig­nis erkenn­bar«, in der glo­ba­li­sier­te Ver­tei­lungs­kämp­fe »das erschüt­ternds­te und tra­gischs­te Zeit­al­ter in der Geschich­te der Mensch­heit« jen­seits aller Uto­pien erwar­ten lassen.

Schrif­ten: Die Ent­ste­hung der Dia­lek­tik. Eine Ana­ly­se der geis­ti­gen Ent­wick­lung von Höl­der­lin, Schel­ling und Hegel bis 1802, Stutt­gart 1979; Die Auf­klä­rung im Rah­men des neu­zeit­li­chen Ratio­na­lis­mus, Stutt­gart 1981; Macht und Ent­schei­dung. Die Her­aus­bil­dung der Welt­bil­der und die Wert­fra­ge, Stutt­gart 1984; Kon­ser­va­ti­vis­mus. Geschicht­li­cher Gehalt und Unter­gang, Stutt­gart 1986; Marx und die grie­chi­sche Anti­ke. Zwei Stu­di­en, Hei­del­berg 1987; Theo­rie des Krie­ges. Clau­se­witz – Marx – Engels – Lenin, Stutt­gart 1988; Die neu­zeit­li­che Meta­phy­sik­kri­tik, Stutt­gart 1990; Der Nie­der­gang der bür­ger­li­chen Denk- und Lebens­form. Die libe­ra­le Moder­ne und die mas­sen­de­mo­kra­ti­sche Post­mo­der­ne, Wein­heim 1991; Pla­ne­ta­ri­sche Poli­tik nach dem Kal­ten Krieg, Ber­lin 1992; Mon­tes­quieu und der Geist der Geset­ze, Ber­lin 1996; Das Poli­ti­sche und der Mensch. Grund­zü­ge der Sozi­al­on­to­lo­gie, Bd. 1: Sozia­le Bezie­hung, Ver­ste­hen, Ratio­na­li­tät, aus dem Nach­laß hrsg. v. Falk Horst, Ber­lin 1999; Das Poli­ti­sche im 20. Jahr­hun­dert. Von den Uto­pien zur Glo­ba­li­sie­rung, Hei­del­berg 2001; Macht­fra­gen. Aus­ge­wähl­te Bei­trä­ge zu Poli­tik und Gesell­schaft, Darm­stadt 2006; Machia­vel­li, Ber­lin 2007.

Lite­ra­tur: Jero­en Buve: Macht und Sein. Meta­phy­sik als Kri­tik oder die Gren­zen des Kon­dy­li­schen Skep­sis, Cux­ha­ven 1991; Falk Horst (Hrsg.): Pana­jo­tis Kon­dy­lis. Auf­klä­rer ohne Mis­si­on, Ber­lin 2007; Adolph Przy­by­szew­ski: Autoren­por­trait Pana­jo­tis Kon­dy­lis, in: Sezes­si­on (2006), Heft 12.

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