Gut so. Das, was mal eine Position, ein Standpunkt, eine Haltung war, ist dahin, und eine rettende Orientierung bedarf neuer Entwürfe.
Das endlich augenfällige Bedürfnis nach nationaler, gar regionaler Identität bei uns erscheint als produktiver Reflex auf kulturelle Überfremdung, die unter dem Leitbegriff der “Vielfalt” Staatsdoktrin wurde, und als Abwehr einer vordergründlich marktintegrierenden Vereinnahmung durch das Brüsseler Abstraktum. Ein Durchschlagen der Finanzkrise – in sich Korrektiv langer Verschwendung – ist zwar zunächst aufgeschoben; es liegt aber der Schatten einer ideellen Krise überm Land.
Über Jahrhunderte ethisch werthaltig wirkende Botschaften des Westens scheinen aufgebraucht und können kaum mehr Sendungsbewußtsein nach außen oder auch nur Sinngebung nach innen vermitteln. Übrig blieb allein die XXL-Konsumorientierung, also die anthropologische Konstante per se, als natürliche Wurzel des seit 1990 global belebten Kapitalismus.
Das ist viel, aber mehr als das hat der Westen derzeit kaum zu bieten. Seine letzten Wohlstandsbürger mögen Neid erwecken, inspirieren aber keine Epoche und befinden sich überdies meist als Patienten auf dem Weg durch die Behandlungsräume des medizinisch-pharmazeutischen Komplexes. Was der Westen derzeit an Demokratie aufweist, ist nichts anderes als die Einhegung des hedonistischen Kalküls mit politischen Mitteln – sehr fragil übrigens, wenn man sich das Auseinanderklaffen der Einkommen zwischen den Allerreichsten und Allerärmsten ansieht. Dazwischen ein belasteter Mittelstand, der als Besitzbürgertum starken Fährnissen ausgesetzt ist und als Bildungsbürgertum kaum noch Stimme hat.
Würde der Islamismus in seinem aggressiven Missionarismus und Jihadismus nicht zur Konfrontation zwingen, täte sich noch weniger. Aber der Konflikt wird schon aus demografischen Gründen entzündlich. Wo steht Europa? Ein Bekenntnis zur Religion liegt einigen Nachdenkern nahe, schließt an reiche europäische Quellen an und sichert ein neues Selbstverständnis tatsächlich in nur einem Schritt – dem in das Kirchenschiff, aus dem wir – mit riskanten geistigen Gewinnen und tragischen Verlusten – in Ergebnis des industriell-wissenschaftlichen Zeitalters hervorgekommen waren.
Die Taufe oder die Neubelebung der Gottesdienste mag für einen Europäer zum Glück allemal naheliegender erscheinen als das Konvertieren zum Salafismus, obwohl die Agitatoren modernsten Pluralismus’ und wohlwollendster Toleranz selbst gegen diese Auffassung sicher ihre Einwände hätten. Wichtiger aber: Der Christ steht dem Muslim entweder im Glaubenskonflikt gegenüber oder sein Glaube ist ihm bereits einerlei geworden. Beide Einstellungen klären nichts; vor allem existiert keine Methode religiösen „Ausgleichs“.
Klären kann nur ein konsequent laizistischer Staat, den es in dieser Weise nicht mehr gibt, weil er schon lange so nicht mehr erfordert war. Mittlerweile ist er es jedoch wieder, auch wenn der Muezzin in Deutschland nicht über 60 Dezibel laut und nur drei Minuten lang rufen darf. Gleiche Grenzwerte gelten übrigens für Kirchenglocken.
Für jene Europäer, die sich engagieren wollten, gäbe es einen Ausgangspunkt, würde der wegen eines bereits über Jahrzehnte wirkenden Traditionsabrisses nicht beinahe unauffindbar sein – die Aufklärung. Für schnell Erschrockene vorweg: Auch Gegenaufklärung ist – Aufklärung! Beide haben es schwer, weil sie sich als intellektuelle Leistung verstehen!
Intellektuelle Leistung ist schwieriger zu erbringen als ein Glaubensbekenntnis. Sie betreibt die so nötige wie aufwendige Revision politischer, ökonomischer und religiöser Zwecke, und dazu bedarf es einer entwickelten Urteilskraft, mindestens aber eines Skeptizismus, zu dem allzu viele nicht mehr finden, weil sie ihre Anschauungen anderswo beziehen, oft – Ich bin doch nicht blöd! – über den Medienmarkt, wo der Flachdenker auf den Flachbildschirm trifft. – Kann man dagegen ein Hoffnungszeichen darin erkennen, daß “Sapere aude!” neuerdings zum beliebten Tattoo-Motiv avancierte?
Wenn Aufklärung auf die vernünftige Selbständigkeit der einzelnen setzt, ja diese geradezu zur Voraussetzung hat, befindet sie sich schon deswegen in einer schwierigen Lage, weil die Bildungssysteme genau dies immer weniger gewährleisten können, ja vermutlich nach kultuspolitischer Maßgabe schon gar nicht mehr leisten wollen, reichen der doch Gesinnungsveranstaltungen aus. Welches Gymnasium bildete auf der Grundlage einer echten sprachlichen und geisteswissenschaftlichen Vermittlung denn noch Urteilskraft aus, wo es neben politischem Pauschalbekenntnis allein Marktfähigkeit – aktiv oder eher noch passiv – ausbilden soll?
Kurz: Selbst wenn dies nur noch im existentialistischen Akt der Selbstbefreiung einzelner aus der ja tatsächlich manifesten Unmündigkeit erfolgen könnte, so wäre eine Rückbesinnung auf die Aufklärung ein Gewinn für anstehende Auseinandersetzungen und die allerbeste Zurüstung. Das gegen die Sophistik gerichtete Denken Platons und Aristoteles’ ist dafür der erste europäische Ansatz, der abendländische Beginn einer Kritik des mythischen Scheins und der vermeintlich totalen Ohnmacht des Menschen, ein grandioser Versuch geistiger Emanzipation in Richtung vernünftiger Selbständigkeit.
Dem Islamismus das Kreuz entgegenzuhalten ist verständlich und notwendig; ihm aufgeklärt und urteilskräftig zu begegnen, begonnen bei seinem Menschenbild, das wäre effizient, wenngleich, offensiv betrieben, vermutlich wirklich – Kampf.
Hartwig
Sehr geehrter Herr Bosselmann, ich muss diesen Artikel ja fast als umfängliche Replik auf meinen letzten knappen Kommentar unter Ihrem Sommerlochartikel auffassen; nun ja, andere hatten Ihre Bemerkung bzgl. Laizismus und Aufklärung ebenso aufgegriffen. Gut, dass Sie dies hier nochmal explizit zur Debatte stellen, so kann ich meine Bemerkung vom "sich unter dem Kreuz sammeln" ebenfalls in aller Kürze verdeutlichen.
Ich denke, es wird oft verkannt, dass es nicht um den Islam als Religion geht. Es geht doch vielmehr um die "Träger" des Islam und deren Hier-Sein; es geht um die Moslems. Den europäischen Völkern geht doch der Islam eigentlich am Allerwerstesten vorbei; die Notwendigkeit, ihn zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihm zu befassen, ist doch nur dadurch bedingt, dass viele Millionen Moslems ins vormals christliche Europa eingewandert sind, mit der Absicht zu bleiben und sich zu vermehren.
Man könnte nun versuchen, mit aufklärerischen Werten zu werben, die aufgeklärten Moslems auf seine Seite zu ziehen und ihnen mehr als bislang Einfluss und Gestaltung zu gewähren. Was hätte dies aber zur Folge: Eine Verstärkung des innerislamischen Kampfes innerhalb Europas um die richtige Richtung und eine erhöhte Attraktivität Europas für gemäßigte Moslems. Ist das Ihr Ziel? Meines ist es nicht!
Mein Ziel ist ein Stopp der Überfremdung (für manche ein böses Wort, auf jeden Fall ist es definitionsbedürftig - würde aber diesen Rahmen sprengen). Das Christentum kann hier m.E. als Vehikel dienen. Weder christlicher Glaube noch Frömmigkeit würde dadurch so ohne weiteres zunehmen, aber das Christentum als Vehikel, das heißt Bekenntnis zur abendländischen Kultur und nicht zuletzt Bekenntnis zum Schutz der Heimat. Unter diesem Dach könnte sich eine wesentlich emotionalere Bewegung formieren, als es hinter Bannern von Kant und Lessing möglich wäre.
Sie wissen doch so wie ich, wie weit es um den christlichen Glauben in der DDR bestellt war. Da war nicht mehr allzu viel; auch nicht unter den meisten jener, die sich unter dem Dach der Kirche zur Opposition formierten. Ein langes Thema, passt in seiner Breite auch hier nicht hin.
Ich sehe, anders als Sie, nicht nur im radikalen Islamismus eine Gefahr, sondern ich sehe auch im ganz alltäglich gelebten Islam eine Gefahr für diesen Kontinent, so wie wir ihn kennen und schätzen. Er trägt die Kraft einer tiefgreifenden Umgestaltung in sich, die ich nicht wünschen kann. Daher, und nicht wegen einer Abneigung gegen den einzelnen moslemischen Menschen, ist eine Eindämmung der schieren Anzahl von Moslems geboten. Das Kreuz als Banner und schließlich als Bann wäre zumindest einen Versuch wert.