Siebenundneunzig Prozent der Deutschen ist „Dr. Sommer” ein Begriff, ein Gutteil darunter erhielt über dessen Alias Dr. Martin Goldstein sexuellen Aufklärungsunterricht und hatte sich selbst dabei meist als Spätzünder einzuordnen. Wo Vierzehnjährige ihre Verzweiflung am ordnungsgemäßen Gebrauch eines Diaphragmas beschrieben und Fünfzehnjährige über Orgasmusprobleme klagten, kam sich mancher Leser hoffnungslos zurückgeblieben vor.
Dabei kam die Bravo lange Jahre ohne jene Rubrik „Liebe, Sex und Zärtlichkeit” aus, die erst in den späten Sechzigern (mit dem vielsagenden Titel „Liebe ohne Geheimnis”) ans Eingemachte ging. Ein Drittel der Leserschaft war damals über fünfundzwanzig Jahre alt, während bald – und bis heute – die Zwölf- bis Sechzehnjährigen die Hauptzielgruppe darstellten. Die ersten Jahre des Flatterheftchens, das zunächst noch unter dem biederen Titel „Die Zeitschrift mit dem jungen Herzen” – Kostenfaktor: fünfzig Pfennig – firmierte, standen sexfrei im Zeichen der Amerikanisierung. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Kaspar Maase beschreibt im Jubiläumskatalog 50 Jahre Bravo eindrücklich – wenngleich affirmativ, diente der Zweck der Übung doch der überfälligen Demokratisierung – jene Amerikanisierungsoffensive, die das Heft in seinen Anfangsjahren betrieb (und heute, angesichts einer globalisierten deutschen Jugend längst nicht mehr explizit herausstellen muß). Die Auflage jener Bildzeitungsvorstufe wuchs seinerzeit von 30.000 Exemplaren der Erstausgabe auf über eine halbe Million im Jahre 1959; 1980 zählte das Blatt über 1,5 Millionen Käufer. Denen wurde unter der Ägide von Chefredakteur Peter H. Boenisch – später Bild-Chef, letztjährig verstorben, unter Hinterlassenschaft zweier Kinder übrigens, denen das Bravo-Alter noch bevorsteht – der coole US-Boy als Gegenbild zum habituell klemmigen Bundesbürger, der ja eigentlich nur Nazi-Sohn war, anempfohlen. „Bravo gab gängigen Stereotypen vom amerikanischen und deutschen Nationalcharakter eine spezifische Wendung”, schreibt Maase unter beredten illustratorischen Verweisen. „Viele Texte spielten auf folgendes Muster an: Drüben war man souverän, lässig, zivil – hierzulande ordnungsfixiert, zackig militaristisch.” Gerade die Lässigkeit, sich in Kleidung, Gestus und Sprache ausdrückend, entwickelte sich damals zu einer Art „Basisqualität, die den ‚modernen‘ Jungen auszeichnete (…) Was Bravo hinzufügte, war die geradezu penetrante Abwertung des Gegenbildes, des Zackigen, als überholt und deutsch-militaristisch-lächerlich.” Beispielhaft deutlich wird dies an einem Artikel über Marlon Brando, der im US-Kriegsfilm Die Löwin einen Wehrmachtsoffizier spielte. Rhetorisch die Frage, die gestellt wird, suggestiv die Antwort: „Ob es stimmt, daß Brando sich in der deutschen Wehrmachtsuniform so wohl gefühlt hat, daß er sie gar nicht mehr ausziehen wollte? Keine Spur. Marlon ist ein so salopper Zivilist, daß er sich grundsätzlich in keiner Uniform wohlfühlt. Hier der Beweis: Ganz lässig, mit Pullover und weichem Hut kommt Marlon zu den Aufnahmen.” So und ähnlich verfuhr die metapolitische Schiene der bis heute generell unpolitischen Bravo mit der damals noch nicht restlos desavouierten soldatischen Prägung deutscher Männlichkeit.
Der forcierten Amerikanisierung folgte die Frühsexualisierung. 1969 enthielt man sich noch pornographischen Anwandlungen und fand Formulierungen, die heute selbst in Schulbüchern deutlich lässiger formuliert werden: „Es muß eine seelische Beziehung bestehen, bevor sich zwei Menschen bereitfinden, eine so enge körperliche Berührung zu vollziehen, wie sie der Geschlechtsakt darstellt. Der Mensch hat die rein biologische Instinkthandlung veredelt und sie einem höheren Zweck als nur dem der Arterhaltung unterworfen.” Den heutigen Sexpädagogen der Bravo dürfte solche Definition überkommenes Pipapo sein. In der aktuellen online-Ausgabe etwa werden den kindlichen Lesern „scharfe Tips: Intimrasur für Girls” dargeboten sowie eine Erläuterung jener Vorteile, die ein one night stand mit sich bringen könne: „Es kann Spaß machen, einen fremden Körper zu erforschen. Und weil man dabei nichts zu verlieren hat, kann man sich und seine Lust ganz unverkrampft ausprobieren.”
Das dicke, bunte Bravo-Geburtstagsbuch, herausgegeben unter der Ägide des berufsmäßigen Jugendverstehers Klaus Farin vom Berliner Archiv für Jugendkulturen, liefert durch den Abdruck von Ausschnitten vergangener Zeitungsjahrzehnte ein ebenso belustigendes wie bedrückendes, in jedem Fall aber vielsagendes Photoalbum dessen, wozu der Euphemismus „Jugend” seit den Sechzigern verkommen ist. In ihrer Doppelfunktion als Vor- und Spiegelbild dessen, was als „angesagt” zu betrachten ist – von Klingeltönen fürs Telephon über Genitalmoden bis hin zu möglichst coolen Verhaltensmustern – stellt sich die Bravo beinahe seit Beginn ihres Erscheinens als papiernes role model für ganze Generationen von Heranwachsenden dar. Lange bevor das Kabelfernsehen mit ganztägiger Rundumbespaßung fragwürdigen Inhalts den Platz als „heimlicher Erzieher” in Kontrast zu elterlicher Autorität einnehmen konnte, hatte Bravo die Zersetzung als überkommen empfundener Wertvorstellungen eingeleitet. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften argumentierte 1972 übrigens wie folgt: „(…) Das entwicklungsbedingte Bedürfnis dieser Altersstufe (zwölf bis sechzehn Jahre), sich mit Vorbildern zu identifizieren, wird durch einen penetranten Starkult geradezu ausbeuterisch dazu benutzt, direkt oder indirekt Bedürfnisse in den Jugendlichen zu wecken, die sie zu kritiklosen Konsumenten machen oder in eine Traumwelt führen, die für ihr eigenes Leben niemals erreichbar sein könnte. Die Darstellung angeblicher Vorlieben oder Gewohnheiten der systematisch aufgebauten Stars muß auch bei ihren Fans ähnliche Bedürfnisse wecken oder schon sehr früh zu Frustration und Mutlosigkeit führen, die eine Auseinandersetzung mit der eigenen Welt unmöglich machen. Diese eigene Welt wird überhaupt nicht erwähnt, bedeutet sie doch entweder Schule oder Lehrstelle – beides Institutionen, die Pflichten mit sich bringen und nicht singend oder Musik hörend allein durchlaufen werden können. (…) So wird allmählich die für pubertierende Jugendliche wichtige Frage: Wer bin ich eigentlich umgemünzt in die Frage: Wie ähnlich bin ich meinem Star?” An der normativen Wirkmächtigkeit der Bravo ändere sich selbst dann nichts, „wenn Jugendliche die gebotenen Schablonen als billigen Kintopp durchschauen. Sie behalten dennoch ihren Wert für die Formulierung persönlicher Lustansprüche, Partnerideale, Lebensinhalt und Lebensstil.” Den freizügigen Sexreportagen wird bescheinigt, „ausgesprochenen Aufforderungscharakter” zu haben, hier werde „wieder eine Traumwelt der (Schein)befriedigungen, die sehr leicht zu haben sind, angeboten. Recht und Lust auf Befriedigung hat jeder”, so umschreibt die Prüfstelle den Grundton der dargebotenen Aufklärung, „erlaubt ist alles, wenn es vor allem bequem ist, keine weiteren Umstände macht (…)”. Dem ist auch aus heutiger Sicht wenig hinzuzufügen. In verantwortungsbewußten Elternhäusern hatte die Bravo nie ihren Platz. Jugendliche Unterscheidungsbedürfnisse und hormonelle Entwicklungsschübe pflegten hier mit höherem Anspruch kanalisiert zu werden.
Im neuen Jahrtausend übrigens verkauft sich die Bravo schlecht wie nie. Die verkauften Exemplare haben sich während des vergangenen Jahres auf unter 500.000 eingependelt. Über die „Jugend von heute” sagt das wenig aus. Andere Blätter von ähnlichem Format stehen zur Auswahl, Marktführer bleibt unangefochten Bravo. Und die hat ihre Ziele ja längst.