Der Ton im Stern ist natürlich salopper, der im Spiegel etwas stärker um Seriosität bemüht. Aber hier wie dort geht es darum, ein Geschichtsbild zu entwerfen, das das kollektive Selbstverständnis neu begründen soll. Zu verstehen ist das nur aus der Auffassung, daß das Gemeinwesen einer Integrationsideologie bedarf. Entsprechende Vorstöße waren schon in der Ära Schröder festzustellen, mit dem Versuch positive Bezugspunkte in der Nachkriegsgeschichte – Wiederaufbau, „Wunder von Bern”, ’68 – zu gewinnen, aber das Konzept blieb unzureichend und undurchdacht. Sicher haben die Erfahrungen mit dem friedlich-freundlichen Partyotismus des vergangenen Sommers die Vorstellung bestärkt, es sei an der Zeit, den Deutschen ein Nationalgefühl zuzugestehen.
Das muß selbstverständlich modern und weltoffen sein, multikulturell grundiert, optimistisch und zukunftsfähig. Diese Vorgaben erklären hinreichend die Betonung des Zufälligen und des Charakters der „Konstruktion” oder – wie es im Spiegel heißt – der „Erfindung” der Nation, und sie erklären das Bemühen um Entlarvung all dessen, was traditionell den Stolz der Deutschen begründete: der germanische Anfang, das mittelalterliche Kaisertum, die „Welttat” (Fichte) der Reformation, der Aufstieg Habsburgs, die unerwartete Karriere Preußens und die Reichseinigung von 1871. Was es an frühem Nationalbewußtsein gegeben hat, wird denunziert oder als chauvinistischer Reflex abgetan und die Bedeutung der Kulturgemeinschaft in Abrede gestellt. Die Geschichte eines Volkes erscheint als Ergebnis kontingenter Akte; willkürliche Entscheidungen schufen eine Einheit, die weder von Gott noch vom Weltgeist oder der Natur vorgesehen war. Die Deutschen erscheinen im Grunde nur als Täter oder als Opfer, die es nicht besser verdient haben. Die Handlungsweisen anderer Nationen werden grundsätzlich mit anderen Maßstäben gemessen. So wirkt die übliche „schwarze Legende” zwar etwas aufgehellt, aber sie erfüllt weiter den alten Zweck: eine dunkle Folie zu schaffen für eine – verhältnismäßig – lichte Gegenwart, in der wir, 1945 glücklich besiegt, nunmehr angekommen sind.
Derartige Auffassungen werden heute von einem breiten Konsens der tonangebenden Schicht getragen: von der gouvernementalen Linken über die „Neue Mitte” bis zur Merkel-CDU. Bedroht erscheint er nur durch „Revisionisten”, die entweder ein ganz anderes Verständnis von Nation haben oder häretische Vorstellungen von den Ursachen und Wirkungen in der deutschen Geschichte. Der Grad der Feindseligkeit gegenüber dieser Minderheit erklärt sich oft aus Ahnungslosigkeit, manchmal aber auch aus dem Wissen, daß das neue Deutschland nur gelingen kann, wenn alle Erinnerungen getilgt werden, die dem gewünschten Bild der Vergangenheit entgegenstehen, und verhindert wird, daß irgendjemand den Deutschen eine andere als die offiziell erwünschte Fassung ihrer Geschichte erzählt.
Resonanz auf eine alternative Fassung der deutschen Geschichte ist deshalb bisher nur zu erwarten, wenn sie von außen kommt. Den Ein druck hat man jedenfalls angesichts des Wohlwollens, mit dem die deutsche Geschichte des amerikanischen Historikers Steven Ozment (Eine feste Burg. Die Geschichte der Deutschen, Waltrop und Leipzig: Manufactum 2006. 478 S., geb, 24.80 €) aufgenommen wurde. Als die Originalfassung A mighty fortress erschien, veröffentlichte Ozment, Professor an der Universität Harvard, einen Essay zum Thema, in dem der bedenkenswerte Satz stand: „Keine Nation von Bedeutung kann ihre Angelegenheiten regeln, wenn sie ausschließlich in Sack und Asche geht.” Man dürfte das als Selbstverständlichkeit werten, so wie man auch vieles in der deutschen Geschichte Ozments als Selbstverständlichkeit werten dürfte, wenn es sich nicht um die deutsche Geschichte handelte. Tatsächlich wird man aber sagen müssen, daß es sich überhaupt um eine der ganz wenigen Darstellungen neuerer Zeit handelt, die ein umfassendes und gerechtes Bild der Vergangenheit unserer Nation zu geben versuchen. In besonderem Maß hebt Ozment hervor, wie wenig von der These eines furchtbaren Sonderwegs zu halten ist. Er betont durchaus die Eigenständigkeit der Entwicklung, die Prägung durch Reformation und aufgeklärten Absolutismus etwa, den geistigen Einfluß von Romantik und Idealismus, die Bedeutung des „Obrigkeitsstaates” für die Industrialisierung, auch die zum Teil erheblichen Unterschiede im Vergleich zum Westen wie zum Osten, aber er meidet Verzeichnungen.
Die Gefahr solcher Verzeichnung ist in bezug auf das zwanzigste Jahrhundert besonders groß, aber Ozment hält auch da Kurs. Allerdings ist seine Darstellung manchmal sehr „angelsächsisch”, werden die kulturelle Entwicklung oder die flankierenden Bedingungen ausgeblendet, und ohne Zweifel müßte die Interpretation des „Zweiten Dreißigjährigen Krieges” wie der Nachkriegszeit um entscheidende – vor allem diplomatiegeschichtliche – Aspekte erweitert werden. Aber im großen und ganzen hat hier ein Fremder den Deutschen vor Augen geführt, was sie waren und was sie sind.
Nicht nur die Deutschen, alle europäischen Völker erleben heute eine Infragestellung ihrer historischen Identität. Die hat ihre Ursache in objektiven Umständen – der Globalisierung, der Zuwanderung, dem Geburtenschwund, dem Zerfall der Demokratie – aber es ist auch der Einfluß von mächtigen Eliten wirksam, die systematisch eine Demontage dieser Art von Selbstverständnis betrieben haben. Man darf ihnen nicht trauen, wenn sie jetzt vorgeben, sich eines besseren zu besinnen. Auch unter patriotischem Vorzeichen geht es ihnen darum, den Nationen den Zugang zu jener Kraftquelle zu sperren, die in Zeiten der Krise immer wieder geholfen hat, den Selbstbehauptungswillen zu stärken. Das ist die kollektive Erinnerung, genauer: die große Erzählung, die diese Erinnerung wachhält. Es kann deshalb niemals gleichgültig sein, wer als Erzähler auftritt, was und in welchem Ton erzählt wird. Die Entscheidung darüber ist gleichbedeutend mit der Entscheidung, welche Auffassung von der Nation überhaupt besteht. Mit den Worten des großen Franzosen Ernest Renan: „Der Kult der Ahnen ist von allen am legitimsten; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) – das ist das soziale Kapital, worauf man eine nationale Idee gründet. Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht zu haben und es noch vollbringen wollen – da sind die wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein.”