Die Notwendigkeit einer Nationalgeschichte

pdf der Druckfassung aus Sezession 17/April 2007

sez_nr_179von Martin Voelkel

Wenn innerhalb weniger Monate zwei der auflagenstärksten Magazine eine Serie zur deutschen Geschichte beginnen, flankierende Buchausgaben und Filmproduktionen ankündigen, dann ist das erklärungsbedürftig. Was könnte dahinterstehen an ökonomischer und politischer Strategie? Sicher die Annahme eines Publikumsinteresses, dann aber auch die Wahrnehmung, daß es ein Informationsbedürfnis gibt, das abgesättigt werden muß, vor allem abgesättigt werden muß, bevor das von anderer Seite geschieht.


Der Ton im Stern ist natür­lich salop­per, der im Spie­gel etwas stär­ker um Serio­si­tät bemüht. Aber hier wie dort geht es dar­um, ein Geschichts­bild zu ent­wer­fen, das das kol­lek­ti­ve Selbst­ver­ständ­nis neu begrün­den soll. Zu ver­ste­hen ist das nur aus der Auf­fas­sung, daß das Gemein­we­sen einer Inte­gra­ti­ons­ideo­lo­gie bedarf. Ent­spre­chen­de Vor­stö­ße waren schon in der Ära Schrö­der fest­zu­stel­len, mit dem Ver­such posi­ti­ve Bezugs­punk­te in der Nach­kriegs­ge­schich­te – Wie­der­auf­bau, „Wun­der von Bern”, ’68 – zu gewin­nen, aber das Kon­zept blieb unzu­rei­chend und undurch­dacht. Sicher haben die Erfah­run­gen mit dem fried­lich-freund­li­chen Par­ty­o­tis­mus des ver­gan­ge­nen Som­mers die Vor­stel­lung bestärkt, es sei an der Zeit, den Deut­schen ein Natio­nal­ge­fühl zuzugestehen.
Das muß selbst­ver­ständ­lich modern und welt­of­fen sein, mul­ti­kul­tu­rell grun­diert, opti­mis­tisch und zukunfts­fä­hig. Die­se Vor­ga­ben erklä­ren hin­rei­chend die Beto­nung des Zufäl­li­gen und des Cha­rak­ters der „Kon­struk­ti­on” oder – wie es im Spie­gel heißt – der „Erfin­dung” der Nati­on, und sie erklä­ren das Bemü­hen um Ent­lar­vung all des­sen, was tra­di­tio­nell den Stolz der Deut­schen begrün­de­te: der ger­ma­ni­sche Anfang, das mit­tel­al­ter­li­che Kai­ser­tum, die „Welt­tat” (Fich­te) der Refor­ma­ti­on, der Auf­stieg Habs­burgs, die uner­war­te­te Kar­rie­re Preu­ßens und die Reichs­ei­ni­gung von 1871. Was es an frü­hem Natio­nal­be­wußt­sein gege­ben hat, wird denun­ziert oder als chau­vi­nis­ti­scher Reflex abge­tan und die Bedeu­tung der Kul­tur­ge­mein­schaft in Abre­de gestellt. Die Geschich­te eines Vol­kes erscheint als Ergeb­nis kon­tin­gen­ter Akte; will­kür­li­che Ent­schei­dun­gen schu­fen eine Ein­heit, die weder von Gott noch vom Welt­geist oder der Natur vor­ge­se­hen war. Die Deut­schen erschei­nen im Grun­de nur als Täter oder als Opfer, die es nicht bes­ser ver­dient haben. Die Hand­lungs­wei­sen ande­rer Natio­nen wer­den grund­sätz­lich mit ande­ren Maß­stä­ben gemes­sen. So wirkt die übli­che „schwar­ze Legen­de” zwar etwas auf­ge­hellt, aber sie erfüllt wei­ter den alten Zweck: eine dunk­le Folie zu schaf­fen für eine – ver­hält­nis­mä­ßig – lich­te Gegen­wart, in der wir, 1945 glück­lich besiegt, nun­mehr ange­kom­men sind.
Der­ar­ti­ge Auf­fas­sun­gen wer­den heu­te von einem brei­ten Kon­sens der ton­an­ge­ben­den Schicht getra­gen: von der gou­ver­ne­men­ta­len Lin­ken über die „Neue Mit­te” bis zur Mer­kel-CDU. Bedroht erscheint er nur durch „Revi­sio­nis­ten”, die ent­we­der ein ganz ande­res Ver­ständ­nis von Nati­on haben oder häre­ti­sche Vor­stel­lun­gen von den Ursa­chen und Wir­kun­gen in der deut­schen Geschich­te. Der Grad der Feind­se­lig­keit gegen­über die­ser Min­der­heit erklärt sich oft aus Ahnungs­lo­sig­keit, manch­mal aber auch aus dem Wis­sen, daß das neue Deutsch­land nur gelin­gen kann, wenn alle Erin­ne­run­gen getilgt wer­den, die dem gewünsch­ten Bild der Ver­gan­gen­heit ent­ge­gen­ste­hen, und ver­hin­dert wird, daß irgend­je­mand den Deut­schen eine ande­re als die offi­zi­ell erwünsch­te Fas­sung ihrer Geschich­te erzählt.

Reso­nanz auf eine alter­na­ti­ve Fas­sung der deut­schen Geschich­te ist des­halb bis­her nur zu erwar­ten, wenn sie von außen kommt. Den Ein druck hat man jeden­falls ange­sichts des Wohl­wol­lens, mit dem die deut­sche Geschich­te des ame­ri­ka­ni­schen His­to­ri­kers Ste­ven Ozment (Eine fes­te Burg. Die Geschich­te der Deut­schen, Wal­trop und Leip­zig: Manu­fac­tum 2006. 478 S., geb, 24.80 €) auf­ge­nom­men wur­de. Als die Ori­gi­nal­fas­sung A migh­ty fort­ress erschien, ver­öf­fent­lich­te Ozment, Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Har­vard, einen Essay zum The­ma, in dem der beden­kens­wer­te Satz stand: „Kei­ne Nati­on von Bedeu­tung kann ihre Ange­le­gen­hei­ten regeln, wenn sie aus­schließ­lich in Sack und Asche geht.” Man dürf­te das als Selbst­ver­ständ­lich­keit wer­ten, so wie man auch vie­les in der deut­schen Geschich­te Ozments als Selbst­ver­ständ­lich­keit wer­ten dürf­te, wenn es sich nicht um die deut­sche Geschich­te han­del­te. Tat­säch­lich wird man aber sagen müs­sen, daß es sich über­haupt um eine der ganz weni­gen Dar­stel­lun­gen neue­rer Zeit han­delt, die ein umfas­sen­des und gerech­tes Bild der Ver­gan­gen­heit unse­rer Nati­on zu geben ver­su­chen. In beson­de­rem Maß hebt Ozment her­vor, wie wenig von der The­se eines furcht­ba­ren Son­der­wegs zu hal­ten ist. Er betont durch­aus die Eigen­stän­dig­keit der Ent­wick­lung, die Prä­gung durch Refor­ma­ti­on und auf­ge­klär­ten Abso­lu­tis­mus etwa, den geis­ti­gen Ein­fluß von Roman­tik und Idea­lis­mus, die Bedeu­tung des „Obrig­keits­staa­tes” für die Indus­tria­li­sie­rung, auch die zum Teil erheb­li­chen Unter­schie­de im Ver­gleich zum Wes­ten wie zum Osten, aber er mei­det Verzeichnungen.
Die Gefahr sol­cher Ver­zeich­nung ist in bezug auf das zwan­zigs­te Jahr­hun­dert beson­ders groß, aber Ozment hält auch da Kurs. Aller­dings ist sei­ne Dar­stel­lung manch­mal sehr „angel­säch­sisch”, wer­den die kul­tu­rel­le Ent­wick­lung oder die flan­kie­ren­den Bedin­gun­gen aus­ge­blen­det, und ohne Zwei­fel müß­te die Inter­pre­ta­ti­on des „Zwei­ten Drei­ßig­jäh­ri­gen Krie­ges” wie der Nach­kriegs­zeit um ent­schei­den­de – vor allem diplo­ma­tie­ge­schicht­li­che – Aspek­te erwei­tert wer­den. Aber im gro­ßen und gan­zen hat hier ein Frem­der den Deut­schen vor Augen geführt, was sie waren und was sie sind.
Nicht nur die Deut­schen, alle euro­päi­schen Völ­ker erle­ben heu­te eine Infra­ge­stel­lung ihrer his­to­ri­schen Iden­ti­tät. Die hat ihre Ursa­che in objek­ti­ven Umstän­den – der Glo­ba­li­sie­rung, der Zuwan­de­rung, dem Gebur­ten­schwund, dem Zer­fall der Demo­kra­tie – aber es ist auch der Ein­fluß von mäch­ti­gen Eli­ten wirk­sam, die sys­te­ma­tisch eine Demon­ta­ge die­ser Art von Selbst­ver­ständ­nis betrie­ben haben. Man darf ihnen nicht trau­en, wenn sie jetzt vor­ge­ben, sich eines bes­se­ren zu besin­nen. Auch unter patrio­ti­schem Vor­zei­chen geht es ihnen dar­um, den Natio­nen den Zugang zu jener Kraft­quel­le zu sper­ren, die in Zei­ten der Kri­se immer wie­der gehol­fen hat, den Selbst­be­haup­tungs­wil­len zu stär­ken. Das ist die kol­lek­ti­ve Erin­ne­rung, genau­er: die gro­ße Erzäh­lung, die die­se Erin­ne­rung wach­hält. Es kann des­halb nie­mals gleich­gül­tig sein, wer als Erzäh­ler auf­tritt, was und in wel­chem Ton erzählt wird. Die Ent­schei­dung dar­über ist gleich­be­deu­tend mit der Ent­schei­dung, wel­che Auf­fas­sung von der Nati­on über­haupt besteht. Mit den Wor­ten des gro­ßen Fran­zo­sen Ernest Ren­an: „Der Kult der Ahnen ist von allen am legi­tims­ten; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Eine heroi­sche Ver­gan­gen­heit, gro­ße Män­ner, Ruhm (ich mei­ne den wah­ren) – das ist das sozia­le Kapi­tal, wor­auf man eine natio­na­le Idee grün­det. Gemein­sa­mer Ruhm in der Ver­gan­gen­heit, ein gemein­sa­mes Wol­len in der Gegen­wart, gemein­sam Gro­ßes voll­bracht zu haben und es noch voll­brin­gen wol­len – da sind die wesent­li­chen Vor­aus­set­zun­gen, um ein Volk zu sein.”

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