Andrej Reder: Dienstreise – Eine Rezension

aus Sezession 66 / Juni 2015

Dem Bundesdeutschen des Jahres 2015 muß unglaublich erscheinen, daß so viel Hingabe an eine »Sache« möglich ist,...

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

die kei­ner­lei Ver­gnü­gen und kei­ner­lei »Mehr­wert« ver­spricht. Doch genau das zieht sich durch die Lebens­ge­schich­te der Eltern des ehe­ma­li­gen DDR-Diplo­ma­ten Andrej Reder.

Sein Vater, Gabri­el Lewin, zähl­te zu den knapp 70 Pro­zent der in die Sowjet­uni­on exi­lier­ten deut­schen Kom­mu­nis­ten, die dort im Zuge der Gro­ßen Säu­be­run­gen ab 1935/36 ver­haf­tet wur­den. Lewin über­leb­te, im Gegen­satz zu vie­len ande­ren, und hielt am kom­mu­nis­ti­schen Ide­al fest, wie in den Brie­fen, rus­si­schen Archiv­ma­te­ria­li­en und Doku­men­ten, die Reder zu einer Lebens­ge­schich­te sei­ner Eltern ver­dich­te­te, unver­kenn­bar wird.

Lewin ist wie sei­ne Frau Her­tha Kom­mu­nist und säku­la­rer Jude, bei­de kämp­fen in der KPD und deren Jugend­ver­band. Nach 1933 beor­dert sie die Par­tei über Zwi­schen­sta­tio­nen in die Sowjet­uni­on. 1938 – Sohn Andrej ist zwei – beginnt die von Lewin als »Dienst­rei­se« bezeich­ne­te Höl­len­fahrt. Ein »Son­der­schnell­tri­bu­nal« ver­ur­teilt Lewin zu zehn Jah­ren Arbeits­la­ger in Sibirien.

Obwohl die Gesta­po nach ihm fahn­det, kon­stru­iert die Ankla­ge »Spio­na­ge für Deutsch­land« und »kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Tätig­kei­ten«, mut­maß­lich infol­ge einer Lewin dif­fa­mie­ren­den Aus­sa­ge Wal­ter Ulb­richts. Es liegt im kom­mu­nis­ti­schen Bekennt­nis des Ver­haf­te­ten begrün­det, daß er auch nach Jah­ren des Lei­dens nicht begrei­fen möch­te, daß es sich nicht um ein »Fehl­ur­teil« han­del­te. In Ein­ga­ben an die deut­sche KP-Par­tei­füh­rung und sowje­ti­sche Stel­len, die Reder doku­men­tiert, wird die uner­schüt­ter­li­che Loya­li­tät zur Par­tei und ihren Ver­fol­gungs­be­hör­den überdeutlich.

Der Begeis­te­rung für die kom­mu­nis­ti­sche Idee kann kei­ne Lager­haft, kei­ne erneu­te Ver­ur­tei­lung (1949) auf Basis der alten Ankla­ge, kei­ne Wider­wär­tig­keit etwas anha­ben. 1955, im Zuge der vor­sich­ti­gen Ent­sta­li­ni­sie­rung, wird Lewin ent­las­sen und kann zu Frau und Sohn rei­sen, die seit sie­ben Jah­ren in der DDR leben; trotz 17 Jah­ren Tren­nung (Her­tha ver­brach­te mit Andrej die längs­te Zeit in der kasa­chi­schen Ver­ban­nung) hiel­ten die Eltern anein­an­der fest.

Kei­ne Fra­ge: Die Fami­lie blieb eine kom­mu­nis­ti­sche, eifer­te für den Auf­bau des – dies­mal – »ech­ten« Sozia­lis­mus und sah in den sta­li­nis­ti­schen Exzes­sen ledig­lich die Per­ver­si­on einer grund­sätz­lich huma­ni­tä­ren Ideo­lo­gie. Das wird im all­zu aus­führ­lich gera­te­nen Nach­wort Rede­rs über­deut­lich, der sich mit Nach­druck gegen anti­kom­mu­nis­ti­sche Deu­tun­gen des kom­mu­nis­ti­schen Ter­rors in der Sowjet­uni­on und anders­wo ver­wahrt, den gedach­ten Sozia­lis­mus von sei­nen rea­len Unta­ten schei­den möch­te, den zeit­ge­nös­si­schen Kapi­ta­lis­mus (mit guten Argu­men­ten) atta­ckiert und die heu­ti­ge Lin­ke gar für ihre Distan­zie­rung vom sta­li­nis­ti­schen Mas­sen­ter­ror (Reder: »Repres­sa­li­en«) tadelt.

Frag­lich, ob der beein­dru­cken­den und nahe­ge­hen­den Schil­de­rung der »Dienst­rei­se« ein der­ar­ti­ger Epi­log bei­gefügt wer­den muß­te. Viel­leicht ist es aber die Kon­se­quenz aus der so lei­den­schaft­li­chen Hin­ga­be an die »Sache«. Wie sei­ne Eltern lei­det der Autor dar­an, daß der real­exis­tie­ren­de Kom­mu­nis­mus der Uto­pie des Kom­mu­nis­mus den blei­ben­den Makel des Mas­sen­mor­des ange­hängt hat.

Die doku­men­tier­te Stär­ke der elter­li­chen Gesin­nung sowie die gezeig­te mensch­li­che Grö­ße trotz Lager­haft und Will­kür sind des­sen­un­ge­ach­tet bemer­kens­wert. Das Buch kann somit als Gegen­stück zu Ser­gej Locht­ho­fens bril­lan­ter Ver­ar­bei­tung der ganz ähn­li­chen Lei­dens­ge­schich­te sei­nes Vaters (Schwar­zes Eis, Rein­bek bei Ham­burg 2012) gele­sen wer­den. Gegen­stück: Denn Reder und Locht­ho­fen zie­hen voll­kom­men ande­re Rück­schlüs­se. Letz­te­rer stellt fest, daß »der wah­re Weg ins Para­dies der Werk­tä­ti­gen von Sta­chel­draht gesäumt wird«, wäh­rend Reder wei­ter­hin in der »Loya­li­täts­fal­le des Anti­fa­schis­mus« (Wolf­gang Emme­rich) gefan­gen bleibt.

Andrej Reder: Dienst­rei­se. Leben und Lei­den mei­ner Eltern in der Sowjet­uni­on 1935 bis 1955, Ber­lin 2015. 256 S., 18,99 €.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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