Der Hamburger Laika-Verlag stellt einmal mehr unter Beweis, daß er auf dem deutschen Buchmarkt die Heimat der klugen Zionismuskritik ist. Fern vom einfältigen Antizionismus linksdogmatischer Sekten (oder auch altrechter Schwarz-Weiß-Maler) bietet das marxistische Haus Autoren wie Moshe Zuckermann, Moshe Machover und Ilan Pappe einen Publikationsort.
Vor allem Pappes nun in deutscher Sprache vorliegendes Werk Die Idee Israel hat es in sich, denn seit Zeev Sternhells Grundlagenwerk The Founding Myths of Israel (1999) ist nicht mehr so luzide, so unaufgeregt, so kenntnisreich über Palästina, Israel und den Zionismus als wirkmächtige Ideologie geschrieben worden wie in diesem Buch. Es gibt gleichwohl mehrere Unterschiede zwischen den beiden Leuchttürmen der Zionismus-Forschung: Pappe ist noch konsequenter in seiner Verurteilung expansiver und chauvinistischer Ideologeme innerhalb des israelischen Nationalismus; er geht somit über Sternhell hinaus.
Und: Beide Autoren sind Wissenschaftler, aber Pappe schreibt dabei ein Stück weit persönlicher. Der in Exeter lehrende Politikwissenschaftler untersucht die dem Staat Israel zugrunde liegende Idee – verkürzt: die Schaffung eines homogenen jüdischen Staates mit hegemonialer Stellung in der Region – akademisch, fügt aber sine ira et studio persönliche Erfahrungen mit dem israelischen Wissenschaftsbetrieb sowie mit Künstlern, Journalisten und Politikern an.
Pappes Werk ist ideenpolitisch ausgelegt, prüft und weist aber stets nach, welche Ideen und Mythen konkrete realpolitische Wirkung entfalten. Er dekonstruiert dabei zuallererst den für alle zionistischen Spielarten konstituierenden „Mythos vom leeren Land für ein landloses Volk“. Palästina war selbstredend nicht „leer“, sondern von Arabern bewohnt, die aber als vernachlässigbarer Faktor betrachtet wurden (und werden).
Pappe sieht den Beginn der Herabwürdigung einer ganzen Volksgruppe zu Beginn des 20. Jahrhunderts greifen, als eine erste Siedlergeneration das historische Heimatland erreichte. Bereits damals wurde der Grundstein für eine bis heute andauernde Geschichte der Diskriminierung gelegt, die eine frappierende Kontinuität des Araberhasses innerhalb der jüdischen Siedlergemeinden des 20. und 21. Jahrhunderts nahelegt. Pappe konstatiert im Hinblick auf die Behandlung der ansässigen arabischen Bevölkerung durch Generationen von Neuankömmlingen – nicht zuletzt manifest in israelischen, mythenbildenden Filmen über die Genese des Staates – „eine Kombination aus rassistischem Überlegenheitskomplex und pathologischem Hass“.
An späterer Stelle zeigt Pappe, daß die Diskriminierung nicht nur Araber (also christliche und muslimische Palästinenser) trifft, sondern daß auch das israelische Volk ein zutiefst gespaltenes ist: Er verweist auf eine Hierarchie des ethnischen und sozialen Abwertens innerhalb der ohnehin stark fragmentierten jüdischen Gesellschaft.
Derart energische Urteile erschweren Pappes Stand in der israelischen universitären Forschung und darüber hinaus in weiten Teilen der israelischen Gesellschaft ungemein; mit seiner vorurteilsfreien, aber apodiktischen Haltung zählt er zu einer kleinen intellektuellen Minorität. Deren meist universitäre Protagonisten – „Antizionisten“ und „Postzionisten“ – stellt Pappe in werkbiographischen Exkursen der europäischen Leserschaft vor (von Uri Avnery bis Ilan Halevi) – wohl auch, um den entstehenden Eindruck zu widerlegen, Israels Intelligenz wäre ein monolithischer (prozionistischer) Block.
Denn die Annahme einer einheitlichen Stoßrichtung aller Israelis ist ebenso ein Mythos des Zionismus wie die Frontstellung „Wir“ gegen den „Rest“ der Welt. Pappe weist nach, das dieses identitätsstiftende Narrativ von den sich selbst schützenden Israelis gegen eine von Anfang an feindliche Umgebung (inklusive der Weltpolitik) vor allem dem Schließen der eigenen Reihen und der Setzung selektiver Geschichtsschreibung dient. Tatsächlich entfaltet Pappe ein Panorama israelischer Historie – mit den wichtigsten Zäsuren 1948, 1967 und 1994 –, das mit dem ehernen Gründungsmythos und weiteren fundamentalen Legenden des Zionismus nicht viel gemein hat.
Für die Zukunft eines friedlichen Nebeneinanders von Israel und den Palästinensergebieten spendet Pappe wenig Hoffnung. Zu stark die neozionistische Vision, die von Siedlern, Nationalreligiösen und säkularen Nationalisten gleichermaßen geteilt wird; zu stark die Sehnsucht nach der einigenden Kraft durch neozionistische Vereinfachung komplexer gesellschaftlicher und politischer Prozesse; zu stark schließlich die mythische Wirkung nationalchauvinistischer Theoreme in offiziöser israelischer Geschichtsschreibung und Medienwelt.
Zu guter Letzt kann mit Pappe auch die derzeitige israelische Aggression gegen das säkulare Syrien begründet werden: Die direkte Stärkung neofundamentalistischer Terrorgruppen wie der Al-Qaida-Filiale „Nusra-Front“ sorgt dafür, daß aus dem Staatszerfall Syriens ein neuer „islamischer Dämon“ (Pappe) hervorgeht.
So könne Israel auch zukünftig einen weiteren liebgewonnenen Mythos pflegen: Jenen von Israel als „Hort der Stabilität“ inmitten arabisch-muslimischer Barbarei.
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Ilan Pappe: Die Idee Israel – Mythen des Zionismus (= LAIKAtheorie, Bd. 56), Hamburg: Laika 2015. 375 S., 21 €