Vermutend, das NEON-Magazin sei noch genauso, wie als es an den Start ging, stürzte ich beim Blättern über einen Artikel von politischer Signifikanz. Ja, das Heft “fühlt sich jetzt politisch an”, hatte schon die Konkurrenz im April geätzt.
Es gibt immer noch wunderbare junge Menschen, die uns anvertrauen: “Kommunikation ist mir sehr wichtig, da ich gerade wenig mit Monogamie anfangen kann” (S. 60 der aktuellen Printausgabe), auch für “skurrile Formen des modernen Musikhörens” wird geworben, und Strickabende verdienen unter dem Titel “Woll toll” ausführliche Erwähnung. NEON spioniert aber auch Putins Propaganda in Berlin aus. So steht’s am Cover.
“Hier wird Wahrheit aufgelöst” heißt der Text, der junge NEON-Journalist Christian Schlak ist drei Wochen lang undercover als Praktikant beim deutschen Russia-Today-Studio untergekommen. Den Bericht kann man als Bildungsroman eines modernen Zweiflers lesen, dem im Journalistik-Studium beigebracht worden ist, daß es keine Wahrheit gibt. Und der jetzt nicht fertig wird mit der doppelbödigen Aufgabe, zu enthüllen, wie Putin Propaganda macht. Denn ohne einen intakten Wahrheitsbegriff kann man nicht von “Propaganda” sprechen. Propaganda lebt davon, Wahrheit zu verzerren, zu überhöhen, zu ignorieren, umzudeuten, zu unterdrücken und an ihre Stelle eine Lüge zu setzen. Das mit der “Propaganda” hat sich Schlak nicht ausgedacht, die Welt, der Focus und der Spiegel nennen RT “Putins Propagandasender”.
Am Anfang des Bildungsromans ist seine Mission eindeutig: “Hier soll Wahrheit produziert werden. Russische Wahrheit.” Also keine wahre Wahrheit, sondern solche in Anführungszeichen, gegnerische. Als er feststellt, daß hier normale, gute Leute arbeiten, die niemals das Wort “Propaganda” im Munde führen, kommt Schlak ins Grübeln. “Lügenpresse” – ja, warum ist dieses Wort eigentlich in Umlauf gekommen? Weil die Leute zu zweifeln begannen, ob die deutsche Berichterstattung über die Ukraine zutreffend war. Der Undercoveragent ist noch immer recht sicher: “So denken sie hier. Überall wittern sie, dass die USA privilegiert werden und die Welt sich gegen Russland verschworen hat.”
Ressentimentunterstellung ist ein ideologiekritisches Instrument. Ideologiekritik funktioniert ebenfalls nur mit einem intakten Wahrheitsbegriff.
Doch dann passiert “die Sache mit dem syrischen Jungen”. Die Journalisten von Russia Today Deutschland argwöhnen, ob das Foto, das um die Welt ging und den traumatisierten, staubverkrusteten Kleinen im Krankenwagen zeigt, inszeniert sei, schaue doch der Krankenwagen vollkommen neu aus. Schlak daraufhin: “Mir fällt auf, dass ich mich verändere.”
Der Konferenztisch im ersten Stock, hier in der Redaktion in Berlin, ist nicht der Ort, an dem Lügen entstehen. Es ist der Ort, an dem Zweifel gestreut werden. Hier entsteht keine Wahrheit, hier wird Wahrheit aufgelöst.
Auch das ist Handwerkszeug der Ideologiekritik: Zweifel streuen, Wahrheit auflösen, und nicht das der Propagandaproduktion. “Hier wird Wahrheit aufgelöst”, oder eher “Hier wird ‘Wahrheit’ aufgelöst”? Hat er erkannt, weiterer Schritt der “Lehrjahre”.
Der Chefredakteur Ivan bekommt einen Text rein, lautend: “Wenn eine Partei die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet, schaltet sich der Verfassungsschutz ein.” Ivan prompt: “Seiner Ansicht nach!”. Der schließlich verlesene Text heißt: “Wenn eine Partei seiner Ansicht nach die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet, schaltet sich der Verfassungsschutz ein.” Schlaks Kommentar: “Wo immer es möglich ist, wackelt Russia Today am Bild eines Landes, das rechtsstaatlich geregelt ist.”
Der Undercoverjournalist zweifelt jetzt am eigenen Weltbild und holt sich telefonisch Rat bei einem Psychologieprofessor, der ihm heraushelfen soll aus dem Gefühl, langsam seine Realität abspenstig gemacht zu bekommen. Dieser erklärt ihm über Sozialexperimente, wie gruppenkonformes Denken entsteht oder daß Menschen am liebsten simple Weltbilder haben – all das versucht Schlak, auf seine Situation anzuwenden und RT zuzuschreiben. Doch dummerweise ist er in drei Wochen Teil der Gruppe geworden, die hier Weltbilder korrigiert, er kommt an den Punkt, wo Wahrheit und Wahrhaftigkeit hart kollidieren. Wie ist es möglich, daß es authentische Menschen um ihn herum gibt, keine KGB-Finsterlinge, kritisch denkende Gestalten, die seinem Auszug, das Fürchten zu lernen, irgendwie diffus widersprechen in ihrem Auftreten?
Russia Today ist da medienphilosophisch schon weiter. Sie kommentierten nach Enttarnung des Agenten prompt mit einer Video-Aufforderung, wer noch alles Lust hätte, RT auszuspionieren. Sie resümieren Schlaks Erfahrungen unter dem Stichwort “msm bias”: “Journalist poses as intern to spy on RT Deutsch … but turns into mainstream media doubter.” Für RT ist allerdings alles klar wie Kloßbrühe (wer hinter die Kulissen schaut, sieht doch, wo die Propaganda und wo die Wahrheit zuhause ist), der russische Sender hat einen irritationsresistenten Wahrheitsbegriff. Was nicht heißt, daß er sich nicht auf der Informationsebene von neuen Informationen irritieren ließe, das ist die normale Funktion von Massenmedien: Das System ist operativ geschlossen (verarbeitet nur Informationen, die in den Code neu/alt passen) und umweltoffen (wird ständig irritiert durch Ereignisse außerhalb des Systems).
Befinden wir uns also hier in einem Paradebeispiel von Information warfare oder Propagandaschlacht? Russia Today hat auch dieses Problem schon gesehen: “Russia winning ‘information war’ – or just telling the truth?” überschrieben sie genial einen Artikel vom Anfang des Monats.
Kameraschwenk in die Blätter für deutsche und internationale Politik (10/2016), mir in Frankfurt auf der Buchmesse aufdringlich in die Hand gedrückt. Sascha Lobo, linksanarchischer Latenzmoralprediger des Internets, durfte dort einen Beitrag beisteuern. “Das Ende der Gesellschaft” (Titel!) drohe, heißt es, auch wenn Lobo immer wieder ironisch dazwischenkaspert, durch die reale Gefahr, daß die “rechtsextreme Gegenöffentlichkeit” die Massenmedien übernommen habe. Welch eine Ehre! Lobo rechnet vor: Wenn man fiktiv die Facebook-Likes als Wahlstimmen nähme, dann entfielen 46,5% der Stimmen auf NPD und AfD zusammen. Einer der “gefährlichsten Männer Deutschlands” sei bei dieser Machtübernahme kein Geringerer als Marc Jongen, weil er “die Narrative flicht.” Sascha Lobo hält wacker dagegen, indem er am Schluß fordert:
Reclaim Social Media! Erobert die sozialmediale Gesellschaft zurück!
Das ist “losing infowar” at its best – schon mal vorauseilend zur Reconquista aufzurufen. Lobo ist nicht allein mit dieser selbsterfüllenden Prophezeiung. Auf RT wird im oben genannten Artikel zitiert: “ ‘Voice of America’ reported: ‘NATO Warns West ‘Losing Information War’ Against Russia’.” Sie zitieren Edward Lucas, Herausgeber des Economist, mit folgendem bezeichnenden Argument:
Russia has really grasped the post-truth environment. And they will lie about things absolutely brazenly. They understand the weaknesses of our media in the post-Cold War environment: that we prioritize fairness over truth.
Wieder das inzwischen bekannte postfaktische Zeitalter, geschenkt. Bezeichnend ist der letzte Satz, denn hier ist’s passiert: die Vorstellung einer Bevorzugung von Fairneß gegenüber der Wahrheit. Mit dieser Unterscheidung kann man auch Christian Schlaks Agentenselbsterfahrungsbericht besser fassen. Beide, der Economist-Herausgeber und der NEON-Journalist, gehen von einem sozialtheoretischen Dispositiv aus, das ihnen gar nicht so klar ist, sie agieren es nur aus.
“Gerechtigkeit als Fairness – politisch und nicht metaphysisch”
nannte John Rawls einen Aufsatz in seiner Sammlung Politischer Liberalismus von 1993. Rawls ist bis heute, obwohl 2002 gestorben, der führende amerikanische Sozialphilosoph, seine kantianische Interpretation pragmatistischer Gesellschaftstheorien ist in den USA und in Europa breit anschlußfähig. Ohne, daß man’s merkte, hat Rawls in der besten Absicht, die rationalen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit zu rekonstruieren, ihnen den Boden weggezogen.
Genau das merkt man an solchen Bruchstellen, wo jetzt The Economist itself feststellt: We prioritize fairness over truth. Und das kleinere Kaliber Schlak soziale Wahrhaftigkeit (“Ich möchte wissen, warum ich meinen Kollegen, die ich erst seit ein paar Tagen kenne, mehr glaube als allen großen deutschen Nachrichtenagenturen zusammen”) gegenüber seinem Spionageauftrag priorisiert. Und Sascha Lobo einen “erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit, reloaded by social media” wirklich ganz unfair findet, weil das Internet der Idee nach doch so geil sei, ihm aber objektiv nichts mehr entgegensetzen kann. Leider wurde Wahrheit länger schon gegen Fairneß ausgetauscht. Wir können uns gegenseitig nur mehr gerecht behandeln oder ungerecht und die Gerechtigkeit präferieren, haben aber dafür keine “metaphysische” Grundlage mehr.
Schade aber auch. Habermas ist wohl ebenfalls auf den postmetaphysischen Hund gekommen, wenn er in der Folgeausgabe der oben erwähnten Blätter für deutsche und internationale Politik (11/2016) eine “demokratische Polarisierung” (merke: innerhalb des von ihm für “demokratisch” befundenen Spektrums) verordnet. Der große Demokratiewächter empfiehlt den “demokratischen Parteien” für den Umgang mit denen, die “völkischen Parolen” nachlaufen, diskursregulierend:
Sie sollten diese Art von ‚besorgten Bürgern’, statt um sie herumzutanzen, kurz und trocken als das abtun, was sie sind – den Saatboden für einen neuen Faschismus.
Wem vor lauter “nachmetaphysischem Denken” die Kritikfolie abhanden gekommen ist, vor der er sagen könnte, was mit der Wahrheit gerade passiert, dem fällt nur noch Ablenkung vom Thema (Habermas nennt das “Dethematisierung”) ein und am Ende die wohlverdiente Faschismuskeule.
herr k.
Wieso klingen Habermas und Co. eigentlich wie eine Gruppe paranoider Wahnerkrankter?
Vermutlich weil durch das linke Grundparadigma der Feind der Gruppe inhärent verortet wird und durch eine Art hypnotische Selbstsuggestion der Identitätswahrung nur noch nachgekommen werden kann, indem man die Stabilität durch Externalisierung herbeiführt. Da den Betreffenden unklar bleibt, dass es sich hier um ein intrapsychisches Problem des individuellen Grundkonfliktes handelt, kommt es zur ständig im Kreis verlaufenden Wiederholung der Phrasen. Überall Faschisten!
Natürlich wirkt das von außen betrachtet mehr als merkwürdig. Aber Rechtfertigen, Diskutieren und Argumentieren bringen die Betroffenen nur tiefer in ihr jeglicher Logik entbehrendes System hinein. Die Frage ist nur, ob das für uns nützlich ist oder nicht.
In einer Psychotherapie würde man in etwa ein Auseinandersetzungsmuster a la "Es ist ok, wenn Sie das so sehen, aber ich selbst sehe es anders." führen. Das hat die Konsequenz der faktischen, stummen Gegenüberstellung, jegliche Auseinandersetzungen müssen dann vom "Klienten" kommen. (Tun sie in der Regel auch, da die Un-Passenheit des eigenen Modells faktisch erlebt wird.). Heftige (persönliche) Debatten treiben von dieser Anerkennung der alternativen Weltsicht tatsächlich komplett weg, seien sie noch so sachlich.