veröffentlichte, stellte ich dem Buch folgendes Motto voran: “Laßt uns, wenn wir uns treffen, niemals über das Harmlose reden.” Diese Aufforderung – vor allem an mich selbst gerichtet! – hat heute noch weit größere Berechtigung als damals. Denn damals lebten wir noch im BRD-Biedermeier:
Der Umbau in eine an der Lebenswirklichkeit der Normalbürger vorbeikonstruierten Gesellschaft lief gemächlich, sediert, ungestört ab, und wie immer vor großen Erschütterungen waren es wenige feiner justierte Seismographen, die ein erstes Zittern in der Kruste verzeichneten.
Mittlerweile nimmt jeder Besitzer eines Twitter-Accounts wahr, daß die Dinge in Deutschland ins Rutschen geraten sind, und zwar in zweifacher Hinsicht:
Zum einen haben die Verteidiger des rasenden Gesellschaftsumbaus verbal und strukturell fast alle Hemmungen verloren, um zu bekämpfen und zu verhindern, was zwangsläufig kommt und von ein paar Dutzend mutigen Leuten organisiert wird: die Gegenbewegung zu den elenden Gesellschaftsexperimenten auf allen Feldern. Diese Gegenbewegung, von uns auch als Widerstandsmilieu mit seinen unterschiedlichen Widerstandsbausteinen bezeichnet, hat sich parteipolitisch, publizistisch, aktivistisch und mental bereits jetzt so durchgesetzt, daß ihr die an lässige Siege gewohnte politisch-mediale Klasse ratlos gegenübersteht: ein Erdrutsch, der noch nicht die Talsohle erreicht hat.
Die dümmeren unter den selbsternannten Verteidigern einer offenen Gesellschaft holen ab und an noch mit der Faschismuskeule aus, aber sie fahren damit bloß noch durch die Luft oder finden sich zur Kenntlichkeit entstellt im Internet wieder, verwundert sich die Augen reibend, wenn ihnen jemand erklärt, daß diese Keule und die Diskursregeln der offene Gesellschaft nicht miteinander vereinbar sind.
Aber der Bednarzismus ist eben keine Methode, sondern eine schlechte Charaktereigenschaft: Ständig ist irgendwer “fassungslos” darüber, daß Höcke ebenso laut denken darf wie Trittin, Petry selbstverständlich FPÖ-Hände schüttelt, Pirincci immer noch Bücher veröffentlichen und unsereins zumindest ins Theater Magdeburg eingeladen wurde.
Diese “Fassungslosigkeit” ist ein Ausdruck der Hilflosigkeit: Höcke ist Fraktionschef und geht den “Thüringer Weg”, Petry weiß mindestens 15 Prozent der Wähler hinter sich, bundesweit, und das sind ein paar Millionen Leute. Pirincci findet einen neuen Verlag, auch dann, wenn amazon, libri, knv, Random House und Heiko Maas in Treue fest zusammenstehen. Und wenn Innenminister Stahlknecht für den Januar nun doch abgesagt hat (es arbeiteten ganz viele Entmündiger mit Erfolg daran), dann wird er eben für den März zusagen, oder im Sommer oder in einem Jahr: Wir sind dran, sind interessant, das ist ja logisch, und alles andere wäre komisch.
Entmündiger? Ja, denn auch in der Diskussionsverhinderung (der dritten von fünf Stufen der politischen Abwehrschlacht des Establishments) liegt verschüttet eine Gretchenfrage:
Sagt, wie habt Ihr’s mit der Mündigkeit, mithin der Vernunftbegabtheit, mithin der Wahlbefähigung des Normalbürgers? Ist er nur dann mündig, wenn er demnächst einen Staatspräsidenten Steinmeier akzeptiert, der in der einzigen freien Wahl, der er sich außerhalb seiner Partei je stellte, eine derbe Schlappe gegen Merkel kassierte? Oder ist der Normalbürger auch dann vernunftbegabt und einer Entscheidung fähig, wenn er sein Kreuz bei der AfD macht?
Und wenn er auch in diesem Falle mündig ist: Warum sollte er dann nicht einer Diskussion beiwohnen wollen und dürfen, zu der die nicht gerade Nichtintellektuellen im Theater Magdeburg unter anderem mich luden und an der teilzunehmen Innenminister Holger Stahlknecht nicht aufgrund einer verlorenen Wette, sondern vermutlich in der Überzeugung zugesagt hat, daß er mir argumentativ gewachsen, wo nicht überlegen sei?
Aber so handelt der panische Mensch eben nicht: gelassen, auf das eigene Argument vertrauend; er verhindert lieber, bekämpft, maßregelt, verleumdet, vertuscht, kreischt, holt sich Bestätigung bei anderen ab, die auch bloß 500 Freunde bei facebook und 500 Verfolger bei twitter haben, und wenn sie ihn denn verhindert haben, den herrschaftsfreien Diskurs, die Nahtstelle der offenen Gesellschaft, dann freuen sie sich über diesen neuerlichen Beweis, den Bürger und die Demokratie geschützt zu haben vor einer gefährlichen Gegenrede.
Dies allein macht aus jedem unserer möglichen Auftritte ein Politikum und aus einer tatsächlichen Diskussionsrunde eine ernste Sache. Es wird da nie geplänkelt werden können, denn – wie überall – geht es auch in Sachen Meinungsfreiheit (die im politischen Raum immer eine Frage der Meinungsäußerungsmöglichkeit ist) um den Grenzfall: Daß das Establishment ganz ohne ein Hinzutretendes jede talk-Runde bestuhlen kann, wird täglich auf allen Kanälen bewiesen, aber genau das beweist noch gar nichts.
Die Verhinderungsstrategien aber beweisen viel: vor allem die Angst davor, daß aus einer eingespielten Harmlosigkeit plötzlich etwas Ernstes würde. Nichts anderes aber hat der Bürger verdient, wenn etwas von seinem Alltag und seiner Lebenssicherheit ins Rutschen geraten ist. Das BRD-Biedermeier ist vorbei, jetzt ist Schleusenzeit, jetzt werden die Verhältnisse in diesem Land neu sortiert, und das bedeutet zunächst nichts anderes als die Wiedereinsetzung des Rechts in seine Verbindlichkeit – auch für die tonangebende Klasse.
Mir scheint, dies sei kein harmloses Unterfangen.
(Das beweist übrigens gerade der ZEIT-Journalist Tilman Steffen, der soeben diesen Blog-Beitrag von mir aufgriff und aus meiner Hoffnung, das Recht werde wieder in seine Verbindlichkeit eingesetzt, eine “Drohung gegen die Regierenden” ableitet.)
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P.S.:
Die Stufen der establishmentgetragenen politischen Abwehrschlacht:
- Ignorieren
- Diffamieren
- Verhindern
- Einbetten
- “Was? Ich? Ich war schon immer der Meinung, daß man mit euch hätte reden sollen, der P. kann das bezeugen, und außerdem: Schwamm drüber nicht?
Klar: Schwamm drüber, dann.
H. M. Richter
Auch wenn das Fräulein B. wieder einmal etwas "unfaßbar" findet und einmal mehr deutlich macht, wes Geistes Kind sie ist, wenn sie, wie in diesem Fall, ein Gespräch zu verhindern sucht, welches, wie die Verhinderer-Kanäle in diesen Minuten - den Pressesprecher des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt zitierend - melden, "in dieser Form nicht stattfinden wird", ist mir das Wort Bednarzismus (s.o.), auch wenn es tatsächlich nur eine schlechte Chraktereigenschaft beschreibt, dann doch zuviel der Ehre.
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Als im Herbst 1989 auf einmal die Dämme gebrochen waren, versuchten die Machthaber, die zuvor jedes Gespräch abgelehnt hatten, um die Bürgerrechtler und oppositionellen Kräfte nicht künstlich aufzuwerten, den Dialog auszurufen. Doch es war zu spät, niemand wollte mehr mit ihnen reden.
Es würde mich nicht überraschen, wenn es erneut so kommt.