Auch die Rede von der Décadence in bezug auf gesamtgesellschaftliche Zustände legt nahe: Nicht nur Menschen, auch vom Menschen geschaffene soziale Systeme können offenbar erkranken. Krankheit meint hier immer das Abweichen von einer umfassenden Funktionalität. Anders als bei den Zuschreibungen psychischer Erkrankungen unter politischen Gegnern schwingt hier kein moralisierender oder ein ähnlich erregter Unterton mit.
Schon J. G. Herder sprach vom kranken Staat, der an der Schwindsucht leide. Als Heilmittel empfahl der Denker „die bittre Wahrheit, die genaue Oekonomie, die arbeitsame Gerechtigkeit“. Natürlich fehlt es auch in der Gegenwart nicht an entsprechenden Diagnosen, wenn etwa André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), sagt, daß die Politik einen kranken Staat geschaffen habe, der sich immer weiter von der Bevölkerung entferne – unter den einst von Herder empfohlenen Arzneien möchte man heute wohl vor allem die „bittre Wahrheit“ als Dauermedikation zur Genesung anempfehlen.
Die Denkvoraussetzung des „kranken Staates“ ist die, daß sowohl Menschen als auch die von ihnen geschaffenen Organisationsformen gleichermaßen lebendige Organismen sind und krank sein können im Sinne eines Defizits, einer Abweichung von der Funktionalität. Den Staat nicht als technokratisches Konstrukt, sondern als lebendigen Organismus zu sehen, ist ein ebenso naheliegender wie faszinierender Gedanke, der allerdings heute und zumal in Deutschland kaum noch gedacht wird. Zu nahe liegt wahrscheinlich die Vorstellung eines „Volkskörpers“ und einer „Volksseele“ (einer unsterblichen womöglich) – das sind Gedanken, die hierzulande bekanntlich als tabu gelten.
Noch ein Gedanke liegt nahe: Wenn Staaten erkranken können, werden sie auch an bestimmten, an sehr konkreten Erkrankungen erkranken. Das Herz eines Staates kann erkranken, seine Seele ebenso, die Potenz kann leiden und das Immunsystem versagen. Betrachtet man die überschießenden Reaktionen des heutigen Staates auf konservative und eigentlich der Staatlichkeit wohlgesinnte Kritiker, könnte man an eine Autoimmunerkrankung denken – der Organismus wendet sich gegen sich selbst.
Legt man das Augenmerk dagegen eher auf das Eindringen dem Staat feindlich gegenüberstehender Elemente in die staatlichen Strukturen mit dem Ziel einer Schwächung dieser (linksextreme Organisationen und Personen werden zu staatlich alimentierten Handlangern), liegt der Vergleich mit einer bösartigen Wucherung nahe. Umgekehrt können heute erstarkende rechte Bewegungen im Sinne einer Aktivierung der Selbstheilungskräfte verstanden werden – die AfD, der Front National, Donald Trump und Geert Wilders wären dann Immunreaktionen des kranken Staates. Solche Immunreaktionen sind mit heftigen Reaktionen verbunden – doch steigt das Fieber, wächst neben der Sorge vor einer Zuspitzung auch die Hoffnung auf Heilung.
Bei etwas anderer Betrachtung könnte man einen Donald Trump auch als selbstverordnete Arznei verstehen. Ähnliches würde für die AfD gelten können. Doch Arzneien haben bekanntlich Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten, es gibt Wechselwirkungen und Gegenanzeigen. Man muss sich vor Überdosierungen ebenso hüten wie davor, die Einnahme zu verweigern. Vor allem im Falle einer Ablehnung der bittren Medizin könnten eines Tages noch stärkere Mittel nötig werden.
Natürlich kann man solche dem medizinischen Bereich entlehnte Vergleiche auch zu Tode reiten, doch zeitigt diese Methode oft gute Einsichten. Erinnert sei an Über die Linie von Ernst Jünger – eine Schrift aus dem Jahr 1950, die das Problem des europäischen Nihilismus in Gestalt des bösartig gewordenen Staates behandelt und sich in die drei Abschnitte Prognose, Diagnose und Therapie unterteilt.
Einige der von Jünger damals vorgeschlagenen Therapeutika verdienen auch heute noch Aufmerksamkeit. Da ist vor allem der Gang ins Ungesonderte, den Hort und Sitz der inneren Freiheit. Da sind die Furchtlosigkeit gegenüber dem Tod und Eros als der wahre Götterbote – beide geben Sicherheit. Jünger spricht von einer Heilung, die im einzelnen stattfindet. Der Genesung des einzelnen folgt die Genesung der Gemeinschaft und des Ganzen – ein metaphysischer Ansatz, der sich zu jeder Zeit erproben läßt.
Der_Jürgen
Wie alle Beiträge von Lutz Meyer regt auch dieser zum Nachdenken an. Eine grundlegende Frage gilt es gleich zu Beginn zu klären:
Wenn eine Staatsform durch eine grundlegend andere ersetzt wird (dies kann auf verschiedenem Wege geschehen: Durch eine Revolution wie 1917 in Russland; durch Wahlen wie 1933 in Deutschland; durch einen Bürgerkrieg wie 1939 in Spanien; urch die Besetzung eines Landes durch siegreiche Feindmächte, die ihm ein neues System aufzwingen, wie 1945 in Deutschland; durch einem rechten oder linken Militärputsch wie 1967 in Griechenland bzw. 1974 in Portugal), stirbt dann der Staat und weicht er einem neuen, oder besteht er einfach unter neuer Führung weiter?
Für zweiteres spricht, dass die neue Führung zwangsläufig einen Grossteil der bestehenden Beamten, Offiziere etc. des alten Regimes übernehmen und sich zumindest in der Anfangsphase weitgehend auf dessen Gesetze stützen wird, da sie das Abgleiten des Landes in die Anarchie vermeiden muss und deshalb nicht tabula rasa machen darf.
Von der Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob die von Meyer erwähnten "heute erstarkenden rechten Bewegungen" wirklich auf eine "Aktivierung der Selbstheilkräfte" hinauslaufen. Wer an die Reformierbarkeit des Staatswesens BRD glaubt, wird die AFD gerne in dieser Rolle sehen. Wer glaubt, dass es an der BRD nichts mehr zu retten und nichts mehr zu reformieren gibt und dass nur ein neuer Staat mit einer neuen Ideologie (die natürlich insofern eine alte sein wird, als sie traditionelle Werte wie Heimat, Tradition und Familie wieder in den Mittelpunkt rücken wird) Deutschland retten kann, kann der BRD logischerweise keinen Arzt in der Gestalt der AFD wünschen, sondern nur einen Scharfrichter oder, weniger brutal ausgedrückt, einen Sterbehelfer, der sie - so human wie nur möglich - ins Jenseits befördert.
Allerdings wird man in der AFD-Führungsriege wohl nur wenige Leute finden, die diese Rolle anstreben; die meisten werden auf kosmetische Korrekturen am System hoffen und auf eine Koalition mit der Union, die es ihnen ermöglicht, an den Fleischtöpfen mitzuschmausen. Auch wenn das Fleisch immer fauliger schmeckt...