Im Juli 1915 begann die Belagerung des Musa Dagh. Das durch Franz Werfels halbdokumentarischen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh weithin bekannt gemachte Ereignis gibt Anlaß, an die Christenverfolgungen im Osmanischen Reich überhaupt zu erinnern. Der erfolgreiche Widerstand tausender Armenier gegen ihre Ermordung durch türkische Soldaten auf dem kilikischen »Mosesberg« und ihre Rettung durch französische Schiffe war nur eine Episode eines jahrzehntelangen Leidensweges.
Die Verfolgung der im Osmanischen Reich siedelnden Armenier, Assyrer, Chaldäer und Griechen war die größte Christenverfolgung der Neuzeit. Zwischen 1875 und 1923 wurden zwischen 3,5 und 4,5 Mio. osmanische Christen ermordet, wovon mehr als die Hälfte Armenier waren. Die Tatsache dieses Jahrhundertverbrechens wurde in Deutschland trotz engagierter Fürsprache einzelner erst nach und nach bekannt; beweiskräftige Dokumente wurden teils erst in den letzten Jahren erschlossen. Daß der Genozid bis heute die Beziehungen zwischen der Türkei und Armenien »belaste«, wie es so oft heißt, ist eine Untertreibung; die unaufgearbeitete Geschichte des Völkermordes war noch geistiger Hintergrund eines (Stellvertreter-)Krieges Anfang der 1990er Jahre. »An den armenischen Leichenfeldern wird die Türkei zugrunde gehen« schrieb Werfel; seine Prophezeiung hat sich nicht erfüllt. Schon die Verwendung des Begriffs »Völkermord« nennen offizielle und höchste türkische Stellen bis heute »Unsinn«, »inakzeptabel«, gar »rassistisch«. Ein »Jahrhundert der Verleugnung« nannte die International New York Times das kürzlich auf ihrer Titelseite. Daß auch auf »westlicher« Seite politische und geostrategische Kalküle eine Rolle spielen, dürfte sich von selbst verstehen, entlastet aber die Türkei nicht.
Den Kenner der hiesigen Zustände kann es nicht wundern, daß in den gegenwärtigen Debatten gerade eine deutsche »Schuld« an diesen Verbrechen betont wird, oft genug unter selektiver Faktenbetrachtung und eher aus politischen Motiven. Bereits 2010 erschien ein vielbeachteter, prominent besetzter Dokumentarfilm (Eric Friedler: Aghet – Ein Völkermord, 2010, 90 min.), der mit seiner Konzentration auf nachgesprochene Augenzeugenberichte recht authentisch wirkte, aber mit den üblichen Stilmitteln (leise Geigenmusik im Hintergrund, Sprecher mit Grabesstimme usw.) die Klippen des Kitschvorwurfs auch nicht souverän zu umschiffen vermochte. Eine aktuelle Verfilmung (Fatih Akin: The Cut, 2014, 138 min.), durch Millionen Euro aus deutschen und europäischen Fördermitteln unterstützt, wurde von der Kritik – ungewöhnlich bei einem dramatischen Genozidstreifen – mit gemischten Urteilen bedacht.
Aktuell sind drei Bücher zum Thema erschienen. Klassisch an ein historisch interessiertes Publikum gebildeter Laien gerichtet ist die erste Darstellung (Rolf Hosfeld: Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, C. H. Beck 2015. 288 S., 24.95 €). Das Buch stellt in der gebotenen Ausführlichkeit, aber ohne weitschweifige Erörterungen alle wesentlichen Aspekte der Christenverfolgungen vor. Ohne Hast arbeitet Hosfeld sich an der osmanischen bzw. türkischen Geschichte entlang zum Völkermord vor, beginnend bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Dem Leser wird verdeutlicht, daß die Deportationen und Massaker keineswegs unter dem Druck einer krisenhaften Situation im Krieg entstanden, sondern eine lange Vorgeschichte hatten. Hosfeld richtet sich in deutlichen Worten gegen die türkischen Verbrechen; das Buch ist überwiegend aus Sicht der Armenier geschrieben. Dem Umfang geschuldet fehlt hier manches Detail, dennoch sind die wesentlichen Aspekte alle vereint. Umfangreiche Anhänge auf mehr als 50 Seiten lassen auch aus wissenschaftlicher Sicht wenige Wünsche offen. Mag das Buch auch einen subjektiven, emotional anteilnehmenden Einschlag haben, so ist es doch eine wertvolle Lektüre und bietet aufgrund seiner relativen Kürze einen sehr guten Überblick.
Einem völlig anderen Ansatz folgt das zweite hier zu besprechende Buch (Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Ch. Links 2015. 343 S., Abb., 19.90 €). Der Titel sagt es schon: Auch an diesem Völkermord sind für den Verfasser eigentlich die Deutschen schuld. Tatsächlich dient das gesamte Buch dem Versuch des Beweises, daß deutsche Diplomaten und Offiziere zur Vertreibung und Ermordung der osmanischen Armenier mindestens Beihilfe leisteten, wenn nicht sogar anstifteten. Zwar geht der Autor den deutschen Spuren ohne den auftrumpfenden Tonfall berufsmäßiger Vergangenheitsbewältiger nach, aber die geschichtspolitische Absicht ist dennoch überdeutlich. Gottschlich, als Mitbegründer der linken tageszeitung einschlägig vorgeprägt und als langjähriger Türkeikorrespondent bestens für die Aufgabe gerüstet, hat sichtlich einige Mühe auf das Buch verwendet. Wo Hosfeld hauptsächlich Literatur auswertete, reiste Gottschlich, besuchte nicht nur Archive, sondern auch entlegene Dörfer und Ruinenstätten.
Es ist lehrreich zu sehen, wie der durchaus abwägende und nie polemische Verfasser immer genau dann beginnt, sich in unlogischen Aussagen, Fehlschlüssen und Übertreibungen zu verstricken, wenn tatsächlich Deutsche belastende Argumente gefordert wären. Er kann keinen einzigen Beweis dafür vorlegen, daß deutsche Behörden von den Massenmorden auch nur sichere Kenntnis hatten, als sie begannen. Aus deutscher Sicht handelte es sich um Deportationen unter den harten Bedingungen des Krieges, gerichtet gegen ein Volk, das sich – folgte man der osmanischen Propaganda – auf die Seite des Gegners geschlagen hatte. Dazu kommt, daß Gottschlich zugestehen muß, daß die frühesten und vehementesten Fürsprecher der Armenier Deutsche waren.
So hat der große Aufwand – finanziell gefördert von der grünen Heinrich-Böll-Stiftung – zwar ein teilweise lesenswertes Buch hervorgebracht, aber die Geschichtsbücher müssen nicht umgeschrieben werden: »Deutschlands Rolle« beim Genozid beschränkte sich, sieht man von Mutmaßungen ab, auf ein Geschehenlassen aus bündnispolitischer Rücksichtnahme, auf das Unterlassen des Versuchs, etwas zu ändern, das man mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ohnehin nicht hätte verhindern können, zu Zeitpunkten, als es bereits zu spät war. Die wirklich unrühmliche Rolle, die einzelne Deutsche gespielt haben, nimmt sich im Vergleich zum monströsen Gesamtverbrechen winzig aus. Doch das hören schuldstolze Zeitgenossen eher ungern.
Hört man bei Gottschlich noch deutlich Verständniswillen gegenüber der Türkei heraus, ist das beim Verfasser des dritten Buches anders (Michael Hesemann: Völkermord an den Armeniern. Mit unveröffentlichten Dokumenten aus dem Geheimarchiv des Vatikans über das größte Verbrechen des Ersten Weltkriegs, Herbig 2015. 351 S., 25 €). Hesemann, in katholisch-konservativen Kreisen bekannt als Urheber zahlloser Bücher zur Kirchengeschichte, hob dank seiner Kontakte im Vatikan bislang unbekannte Dokumente ans Licht, die eindrücklich nicht nur die Bemühungen der Kirche um ein Ende der Morde belegen, sondern auch weitere Beweise für die Massaker liefern. Der Verfasser unterstreicht, daß es sich eben nicht um einen ethnischen, sondern einen primär politisch-religiös begründeten Konflikt gehandelt habe: Die osmanischen Christen galten in erster Linie wegen ihres Bekenntnisses als unzuverlässige Staatsbürger und niederer Abschaum, nicht wegen ihrer Volkszugehörigkeit (diese hinderte die Anerkennung der vielfach noch im Stande von Bergbarbaren verharrenden Kurden auch nicht). Erst danach folgten wirtschaftlicher Erfolg und ein im Vergleich zu den Türken weit überdurchschnittlicher Bildungsgrad als Gründe für den Haß.
Manche der von Hesemann vorgestellten Hintergründe sind weitgehend bekannt. Die direkten Verbindungen zwischen den nationalrevolutionären Jungtürken und der frühen NSDAP sind da schon interessanter. Kaum mehr bestreiten läßt sich, daß der Völkermord an den Armeniern zumindest eine Inspiration, wenn nicht eine Blaupause für den Judenmord darstellte. Hesemann bringt manches Argument, das man bei Gottschlich zur Untermauerung seiner Vorwürfe erwartet hätte. Dennoch: Daß auch Hesemann meint, aus »Mitwisserschaft« eine »Mitschuld« konstruieren zu können, gar den Begriff »Mit-Wisservolk« als Analogon zu »Tätervolk« verwendet, überzeugt nicht. Die umfassende, detailreiche Schilderung ist gleichwohl sehr empfehlenswert, schon allein wegen der umfangreichen neuentdeckten Aktenstücke. Wer nicht gerade starke Affekte gegen die andauernd gelobte katholische Kirche hat, wird das Buch mit Gewinn lesen.