Ich war etwa im letzten Drittel des Buches angelangt, als am 4. Juli Otto von Habsburg, der letzte Thronfolger der Donaumonarchie, in seinem 99. Lebensjahr verstarb. Da der Tod des greisen Kaisers Franz Joseph eine zentrale Rolle in Roths Roman spielt, erschien mir das als ein geradezu sublimer Zufall. Mir war das Buch offenbar zum richtigen Zeitpunkt in die Hände gefallen, nachdem ich die Lektüre aufgrund allzu emsiger Empfehlungen jahrelang hinausgeschoben hatte. Verstärkt wurde der Eindruck noch durch meine Faszination für Menschen, die ein hohes Alter erreichen und somit lebendige Brücken in die Vergangenheit bilden.
Nachrichten über das Ableben der letzten und allerletzten Veteranen des Ersten Weltkriegs habe ich stets verfolgt. 2008 starben der letzte Deutsche, Erich Kästner, und der letzte Österreicher, Franz Künstler, beide geboren 1900, sowie der letzte Franzose, Lazare Ponticelli (geb. 1897); 2009 der letzte Brite, Harry Patch (geb. 1898). Eine Photographie aus dem Jahre 1914 zeigt den zweijährigen Otto auf dem Schoß seines Urgroßonkels Franz Joseph I., der im Jahre 1830 geboren wurde. Ein anderes zeigt den Vierjährigen im Jahre 1916 im Trauerzug zu Ehren des verstorbenen Monarchen neben seinen Eltern Kaiser Karl I. und Zita von Bourbon-Parma. Womöglich war Otto zum Zeitpunkt seines Todes der letzte lebende Zeuge der Beerdigungszeremonie, an der auch der junge Soldat Joseph Roth teilgenommen hatte.
Roth, geboren 1894 in Ostgalizien, hatte sich im Laufe seines ruheund heimatlosen Lebens vom moderaten jüdischen Sozialisten zum katholischen Legitimisten gewandelt und sich im Pariser Exil zu Tode gesoffen – vertrieben und geächtet von den nun auch in Rest-Österreich herrschenden Nationalsozialisten, nur wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Einer bekannten Anekdote zufolge hatte Otto von Habsburg kurz zuvor noch vergeblich versucht, Roth per kaiserlichem Befehl von seiner fatalen Trunksucht abzubringen. Daß Otto ein derart hohes Alter erreicht hat, ist eine Pointe des Schicksals, die gut zum Geist des 1932 erschienenen Romans paßt. Über weite Strecken kann man Radetzkymarsch als Meditation darüber lesen, wie der Kontakt zur Geschichte und ihr Fortleben vom Dasein und der Anwesenheit konkreter Menschen abhängt, wie der Strom der historischen Existenz nur dann kontinuierlich weiterfließen kann, wenn er die Form eines Gesichts, einer Gestalt, einer menschlichen Inkarnation und Bindung annimmt. Der Gedanke, daß im Jahre 2011 ein Mann stirbt, der physischen Kontakt zu einem Mann hatte, der im Jahre 1830 geboren ist, sprengt beinahe mein Vorstellungsvermögen, umso mehr, als es sich hier um Personen handelt, die einer Linie entstammen, die die europäische Geschichte maßgeblich geprägt hat.
In diesem Sommer hatte ich einen Traum, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Ich sah meinen Großvater väterlicherseits (geboren 1916), der vor über einem Jahrzehnt gestorben ist, lebendig und mit jugendlicher Frische in einem Schuppen seines Hauses arbeiten, das über 250 Jahre alt ist und heute noch steht. Meine Großeltern haben darin seit den dreißiger Jahren gelebt. Das Nachbargrundstück gehörte einst einem legitimistischen Offzier, der 1921 maßgeblich am glücklosen Versuch Kaiser Karls beteiligt war, die ungarische Monarchie zu restaurieren. Wie üblich im Traum, wunderte ich mich nicht lange über die Auferstehung meines Großvaters. Er öffnete eine Tür und führte mich in ein anheimelnd-altmodisch eingerichtetes Zimmer, das ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Und plötzlich hatte ich eine geradezu mystische Erkenntnis: mein Großvater und mein Vater waren ein und dieselbe Person, in unterschiedlicher Gestalt inkarniert, und auch ich war mit ihnen identisch. Sie beide und das Haus verbanden und verbinden mich selbst physisch mit der Zeit, in der Roth seinen Roman angesiedelt hat.
Von dreien meiner Urgroßväter besitze ich Photographien aus den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Der Vater meiner Großmutter väterlicherseits, 1878 geboren in der ungarischen Reichshälfte, ist in einer Husarenuniform zu sehen; der ebenfalls 1878 geborene Vater meines Großvaters väterlicherseits – also das nächste Glied der patriarchalen Reihe, von der ich geträumt habe – ist als Artillerist zu sehen; in den Jahren 1915–17 hatte er an den Isonzo-Schlachten teilgenommen, die auf österreichischer Seite zu den verlustreichsten des Krieges überhaupt zählten. Alle vier Urgroßväter haben den Krieg überlebt; die beiden genannten starben Ende 1945.
Ein weiterer persönlicher Zufall: Roths fiktiver Carl Joseph von Trotta, der in den ersten Monaten des Krieges von 1914 an der russischen Grenze fällt, trägt die Namen meiner Großväter, die auch ich als zweite Vornamen geerbt habe. Meine väterliche Linie stammt aus einem kleinen slowenischen, wenn auch weitgehend »germanisierten« Dorf, ebenso wie die Rothschen Trottas, deren »Ahnherr« Joseph den »langen Zug seiner bäuerlichen slawischen Vorfahren«, personifziert in seinem nur schlecht deutsch sprechenden, kriegsinvaliden Vater, hinter sich ließ und – nicht zuletzt durch endgültige Annahme der Sprache – zum reichstreuen Österreicher wurde. Joseph Roth selbst ist vaterlos aufgewachsen. Der chassidische Getreidehändler Nachum Roth war früh dem Wahnsinn verfallen und wurde von der Familie, die eine fluchbeladene Schande wie diese kaum ertragen konnte, für tot erklärt. Seitenverkehrt zu seinem eigenen Leben ließ Roth seinen Altersgenossen Carl Joseph mutterlos aufwachsen.
Wenn man so will, kann man den Radetzkymarsch als einen pro-patriarchalen Roman lesen. Zumindest zeichnet der Autor darin die patriarchale Kontinuität und Präsenz als eine wesentliche Stütze der Gesellschaft und der Kultur, in diesem Fall eines ganzen Reiches, das in dem Moment zusammenbricht, als die Väter zu alt und die Söhne nicht mehr imstande sind, ihre Fackel und ihre Last weiterzutragen. Die Altersschwäche der Väter und die Dekadenz der Söhne stellen sich bei Roth mit schicksalhafter Unausweichlichkeit ein. Er sucht nicht nach Ursachen, die man hätte vermeiden können, nach Weichen, die anders gestellt hätten werden müssen. Die Trottas tragen keine Schuld an einer Entwicklung, die ihr eigenes Sein und Wollen übersteigt und überrollt. Der Untergang der k.u.k. Monarchie wie auch ihres »jungen Geschlechts« in einem alten Reich vollzieht sich als Fatum einer abgelaufenen Zeit.
Zwei Kriege, die mit einer Niederlage Österreichs endeten, bilden die erzählerische Klammer des Romans. Er beginnt im Jahre 1859 mit der Schlacht von Solferino, in der der junge slowenische Infanterist Joseph Trotta aus dem fktiven Sipolje dem etwa gleichaltrigen Kaiser das Leben rettet, indem er ihn geistesgegenwärtig zu Boden reißt und dabei mit seinem eigenen Leib eine Kugel auffängt. Zum Dank wird Trotta in den erblichen Adelsstand erhoben. Der Dienst am Kaiserreich wird fortan zur raison d’être der Trottas, dieser »Spartaner unter den Österreichern« (Roth), die ihr Leben der selbstlosen Pflichterfüllung gegenüber dem kaiserlichen Staat widmen. Joseph von Trotta und Sipolje zeichnet sich durch Bescheidenheit und Fleiß aus; er will ein Diener, kein Held sein. Als er viele Jahre später erfährt, daß die k.u.k. Schulbücher die Episode von Solferino heroisch-patriotisch verkitschen und aufbauschen, erbittet der über die »Lüge« aufgebrachte Hauptmann nach abgewiesenen Beschwerden bei den zuständigen Ministerien eine Audienz beim Kaiser, auf daß dieser persönlich veranlasse, die Unwahrheiten zu entfernen. Dieser gibt sich jovial und versteht die Empörung über so harmlose »Geschichten« nicht so recht, erfüllt dem »Helden von Solferino« aber seinen Wunsch.
Roth schildert den Kaiser als liebenswürdig, aber kauzig-versponnen. Die Gestalt Trottas verliert er zunehmend aus dem Gedächtnis. Als sich der über 80jährige Regent und Trottas Sohn Franz (offensichtlich nach dem Monarchen benannt), der eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen hat, Jahrzehnte später in einer weiteren Audienz gegenüberstehen, kann der senil gewordene Kaiser den Vater und den Sohn nicht mehr unterscheiden: er glaubt den »Helden von Solferino« selbst vor sich zu haben. In mehreren Szenen läßt Roth den Leser an inneren Monologen Franz Josephs teilhaben, die einen beängstigend mürbe und kindisch gewordenen Geist offenbaren. Auch er hat einen Vater im Himmel, den »lieben Gott«, von dessen Gnaden sein Amt als »Kaiserliche und Königliche Apostolische Majestät« stammt, und mit dem er eine etwas einfältige Zwiesprache hält.
Aber am Leben, am Da-Sein dieses fragilen und altersschwachen Kaisers hängen das Leben und Dasein einer ganzen Welt, 1914 nicht weniger als 1859, als der junge Leutnant der Infanterie mit Entsetzen die Gefahr erkennt, in der sein Regent schwebt: »Die Angst vor der unausdenkbaren, der grenzenlosen Katastrophe, die ihn selbst, das Regiment, die Armee, den Staat, die ganze Welt vernichten würde, jagte glühende Fröste durch seinen Körper«. Fortan erfüllen die Trottas, weltgeschichtlich betrachtet nur für sehr kurze Zeit, über zwei schnell verstreichende Generationen hinweg, die Rolle von Katechonten im kleinen, als Stützen des Kaisers, der ein Katechon im großen ist: und die Rolle des Katechon ist es eben, den Untergang aufzuhalten und aufzuschieben. Dieser aber muß eines Tages kommen. »Wär’ ich nur bei Solferino gefallen!« läßt Roth den Kaiser, der sein Reich im Weltenbrand zerfallen sieht, am Ende des Buches auf dem Totenbett flüstern.
Wenn der Kaiser »weltlicher Bruder des Papstes« und Repräsentant der gottgewollten Ordnung auf Erden ist, so wird die überragende Figur des »Helden von Solferino« zum Repräsentanten der kaiserlichen Ordnung im Rahmen seiner Familie. So wie Franz Joseph im Laufe seiner Regentschaft zum Übervater des Reiches wird (auch sein Sohn fand einen frühen, tragischen Tod), das solange stehen wird, solange er lebt und der himmlische Gottvater ihm seinen Segen gewährt, so wird Joseph von Trotta zum Miniatur-Kaiser und stiftenden Patriarchen, der gebieterisch über dem Leben seines Enkels Carl Joseph als tyrannisches, weil unerreichbares Ideal thront. Dieser ist zwar guten, aber schwachen Willens. Die Übertragung der alten Ordnung auf seine Person gelingt nicht mehr.
Er schlägt auf Anordnung seines äußerlich strengen, aber letztlich sentimentalen und gütigen Vaters eine Offzierslaufbahn ein, die seiner Natur widerstrebt, verliert sich in Alkohol, Spielschulden und Liebesaffären mit deutlich älteren Frauen, eher als passiv Getriebener denn als Herr über seine Handlungen. Ehe es ihm gelingt, erwachsen zu werden, ist seine Zeit und jene der Welt, die er zu tragen bestimmt ist, abgelaufen. Der Maelstrom, der ihn schließlich verschlingt, steht allerdings über seinem und seines Vaters Wollen oder Nicht-Wollen.
Dem Tod der beiden wesentlichen katechontischen Figuren des Romans, des Kaisers und seines Statthalters im Hause Trotta, geht der Tod eines dritten Charakters voraus, der zu ihnen in paralleler Beziehung steht. Der alte Diener Jacques ist neben dem Kaiser die letzte lebende Brücke zu dem Stifterpatriarchen des kurzlebigen »Geschlechts« der Trottas. In seiner Anwesenheit verkörpert sich eine lebendige Kontinuität, eine generationenübergreifende Klammer. Er ist einer der wenigen Menschen, die den ins Reich der Familienlegende aufgestiegenen Kriegshelden noch persönlich kannten. Er war bereits in der Kindheit des Franz von Trotta präsent; für Carl Joseph ist er ein primäres Verbindungsglied zu seinem mythischen Großvater, den er selbst nie kennengelernt hat. In einer Schlüsselszene des Romans erhebt sich der bereits auf dem Sterbelager fiebrig delirierende Jacques überraschend noch einmal von den Toten und macht sich scheinbar frisch gesundet wieder an die Arbeit – nur um kurz darauf ebenso plötzlich doch noch zu verscheiden. Er muß einmal eben doch sterben, wie auch der Kaiser einmal sterben muß, so alt er auch werden mag.
Niemand ist an diesem Ende schuld, es sei denn die Mühlen der Zeit selbst. In einer anderen Szene läßt Roth den polnischen Grafen Chojnicki, einen »Reaktionär« alter Schule, der gegen Demokraten, Juden, Nationalisten, Sozialisten und ähnliches Pack zu wettern beliebt, die schreckliche Wahrheit aussprechen. »Das Vaterland ist nicht mehr da«, sagt er zum Bezirkshauptmann von Trotta, ihm einen jähen »Stich ins Herz« versetzend. »Wir alle leben nicht mehr!« Freilich, »wörtlich genommen«, als Gerüst, bestehe sie noch, die Monarchie, mit Beamten und Armee. Aber innerlich sei sie längst tot, denn Gott habe sie und den Kaiser verlassen.
Trottas einziger Sohn wird nach Ausbruch des Krieges also einem Vaterland geopfert, das bereits vor der Niederlage aufgehört hat, zu existieren. Nur drei Tage nach dem Begräbnis des Kaisers stirbt auch er, der nutzlos gewordene Diener. Ich weiß nicht, ob hundert Jahre später, in einer Welt, die scheinbarso anders und doch Erbin der untergegangenen Welt des Joseph Roth ist, der »Tod schon seine knochigen Hände« auch heute wieder »über unseren Kelchen kreuzt«. Gründe, das anzunehmen, gibt es genug. Nun scheinen auch die Nationalstaaten, die auf die Monarchien und Reiche gefolgt sind, am Ende zu sein; die neue »Religion« ist der egalitäre Globalismus, der sie von innen auffrißt, und der hinter den Kulissen im Grunde nichts weiter als einen Kult des Mammons verbirgt. Wer sich heute noch am Kulissenschieben beteiligt und sich einbildet, er tue etwas für »die Demokratie«, ist nicht weniger blind als der Bezirkshauptmann von Trotta, der zumindest im Gegensatz zu den meisten heutigen Mitmischern und Gesellschaftsstützen ein anständiger Mensch war.
Mein »Vaterland« war die zweite österreichische Republik, die ebenfalls »nicht mehr da« ist, allenfalls noch als eine verächtliche, kulturell und politisch heruntergekommene Farce besteht. Von Gott wollen wir schon gar nicht mehr reden. Man kann jedoch gewiß sagen, daß auch hinter den Fassaden unserer Zivilisation nicht mehr viel Seele zu finden ist. Zugleich werden die Väter und Großväter geächtet, wie das Vatersein und die Vaterschaft und die patriarchale Ordnung selbst lächerlich gemacht, unterminiert und diffamiert werden, womit auch die Zukunft der Söhne zerstört und verspielt wird. In vielerlei Hinsicht hatte ich in diesem Sommer, als ich den Radetzkymarsch entdeckte und Otto von Habsburg starb, das Gefühl, ein Buch über meine und die kommende Zeit zu lesen.