aus der außenpolitischen Situation des damaligen Deutschen Reiches. Denn eine solche Bereitschaft zum gewaltsamen Ausbruch aus dem in vielerlei Hinsicht als unerträglich verdorben empfundenen Hier und Jetzt, wie sie vor allem unter Intellektuellen vorherrschte, hat es in einer solchen Intensität weder vorher noch nachher in Deutschland je gegeben. Wer von den Künstlern und Intellektuellen nicht sogleich freiwillig ins Feld ausrückte, schrieb für den Krieg, indem er bemüht war, dessen Notwendigkeit zu begründen. Max Scheler, Ernst Troeltsch, Werner Sombart, Paul Natorp, Rudolf Eucken, Thomas Mann zählen zu den bekanntesten Autoren, die pathetisch den Krieg rechtfertigten.
Jüngst erinnerte Gangolf Hübinger in seinem Aufsatz »Hingabe an die Nation. Die Ideenkämpfe 1911–1914« noch einmal an die Rolle der medialen Öffentlichkeit und an die der deutschen Professoren, die durch nationalistische Kampagnen, durch die Beschwörung der Nation als Kampfgemeinschaft, vor allem aber durch ihre Abgrenzungsrhetorik und strenge Differenzierung der Welt in »Wir und die anderen« wesentlich zur geistigen Mobilmachung beigetragen haben. Wirkmächtig war das Wort des Philosophen Ernst Troeltsch vom »Kulturkrieg«, oder seine Gegenüberstellung der »Ideen von 1914« und der »Ideen von 1789«; ferner der Antagonismus des damals führenden deutschen Soziologen, Werner Sombart, der ebenfalls einen Weltanschauungskrieg »deutscher Helden« gegen »englische Händler« propagierte. Darauf antwortete Henri Bergson bekanntlich mit seinem Aufruf zum »Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei.« Sich auf Christopher Clark und andere neuere Forschungsergebnisse berufend, zeigt Hübinger, wie durch den Druck der Medien und der »geistigen Führer der Nation« die Handlungsspielräume der politischen Akteure immer enger wurden, da das politische Gesamtklima »von einer Polarisierung der Gegensätze und einer Ausweglosigkeit« durch eine »zunehmend negative Darstellung der feindlichen Mächte« gekennzeichnet war.
Interessant ist nun die Frage, inwieweit diese politische »Ausweglosigkeit« mit einer philosophischen Aporie zusammenhing; denn zweifellos hatte der Welt-Ekel, das im Fin de siècle so weit verbreitete taedium vitae, mehr innere als äußere Ursachen. Tatsächlich ging mit der politischen Krise auch eine geistige einher, die nicht allein aus der Selbstisolation des »deutschen Denkens« resultierte, sondern stärker noch auf einer tiefen Identitätskrise des eigenen geistigen Selbstverständnisses beruhte. – Wer sind wir und was wollen wir als die Erben Goethes und Kants? Wie lauten unsere Werte? Kurz: Die Frage »Was ist das Deutsche?« wurde hier zum letztenmal existentiell und öffentlich gestellt – und blieb (anders als 1813) ohne befriedigende Antwort. Darin liegt vielleicht der entscheidende Grund für die nervöse Sinn und Selbstsuche in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich auch in zahlreichen Publikationen widerspiegelte: Karl Joël: Die philosophische Krisis der Gegenwart (1914), Jonas Cohn: Der Sinn der gegenwärtigen Kultur (1914), Theodor Lessing: Untergang der Erde am Geist (1916), Georg Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur (1918), Paul
Natorp: Die Seele des Deutschen (1918). Zwar waren mit dem Neukantianismus (Windelband, Rickert, Natorp, Cassirer) und der Phänomenologie Husserls (1913) neue, mächtige Schulen entstanden, doch blieben sie zumeist auf epigonale, rein akademische Fragestellungen beschränkt. Insgesamt schien die Philosophie keinen Halt mehr zu bieten, ihre Methoden nicht mehr auszureichen, um eine schlüssige Interpretation der eigenen Lage oder gar der Welt zu liefern.
Symptomatisch dafür sind die Worte des damals berühmten und 1908 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten neoidealistischen Philosophen Rudolf Eucken, der 1919 schrieb: Im Kampf des weit größeren Teils der Menschheit gegen den kleineren habe das deutsche Volk vier Jahre lang »Hervorragendes geleistet«, sei aber, »vornehmlich durch eigne Schuld, in trauriger Weise zusammengebrochen« und habe damit »seine bisherige Stellung für unabsehbare Zeit verloren.« Eucken sah alles in Auflösung begriffen und machte sich keine Illusionen mehr bezüglich einer heilenden Wirkung der Philosophie; weder daß mit dem »sittlichen Idealgehalt des Deutschtums … ein Stück Menschheitsfortschritt zu verwirklichen sei«, wie der Militärhistoriker Hans Delbrück 1912 hoffte, noch daß die Philosophie insgesamt humanisierend auf die Menschheit wirke. »Altes und Neues widerstreitet sich aufs härteste …, die uns verbindenden Fäden sind zerrissen, wir treiben wehrlos auf den Wogen eines dunklen Geschickes dahin.« Deshalb gelte es zunächst, »das haltlose Grübeln und die unsägliche Zersplitterung der Individuen nach bestem Vermögen zu bekämpfen.« – Wer so redet, erwartet nichts mehr von der Philosophie.
Die »deutsche Innerlichkeit«, heimisch in sich selber zu sein, sei bereits mit der Industrialisierung verlorengegangen, wie besonders Eucken und Scheler betonten, die damit auch eine dezidierte Kapitalismuskritik verbanden. Die Deutschen seien ab 1850 vom Volk der Dichter und Denker zum Volk der Industriellen und Militärs geworden – womit sie nur einem allgemeinen Trend folgten, den der westliche »Krämergeist« in die Welt getragen habe. Aus solchen Schuldzuschreibungen erklären sich die Vorwürfe an die Westmächte, ja an alle feindlichen Staaten, diese wollten das »Deutschtum« vernichten. In seiner vielgehörten und ‑gelesenen Rede Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes versuchte Eucken 1914 nachzuweisen, »daß die Welt nicht ohne Schaden für die gesamte Menschheit den deutschen Geist ausrotten könne.« Tatsächlich war die Ansicht weit verbreitet, man müsse auch deshalb unbedingt siegen, »weil der Niedergang des Deutschtums den Niedergang der Menschheitsgeschichte bedeuten würde«, wie der Pfarrer Karl König predigte. Deshalb seien die Deutschen mehr als berechtigt, diesen für sie existentiellen Verteidigungskrieg zu führen, und wiederum Eucken, Scheler, aber auch Thomas Mann beschworen die »sittlichen Kräfte des Krieges« in der Hoffnung, die Welt, und vor allem »das Deutsche«, würde kulturell erneuert daraus hervorgehen. Denn sei der Krieg, so Eucken, ein »Kampf eines gesamten Volkes für seine Selbsterhaltung und für die Wahrung seiner heiligsten Güter …, so kann er eine Quelle sittlicher Stärkung werden.«
Doch lag eine solche existentielle Bedrohung von seiten der anderen tatsächlich vor? Standen also Franzosen, Briten, Russen wirklich bereit, den »deutschen Geist« zu vernichten? Oder hatte dieser Geist nicht vielmehr eine solche Gefahr nötig und redete sie herbei, um sich seiner selbst zu vergewissern und neu zu formieren? Auffällig ist jedenfalls die allenthalben geäußerte Sehnsucht nach der Wiederbelebung eines verlorengegangenen Gemeinschaftsgefühls, einer sicheren Verortung in der Welt, nach der, wie Ernst Troeltsch schrieb, »Wiedergeburt der in Selbstkultus entarteten Subjektivität zur freien Hingabe an den Nationalgeist.« Und tatsächlich hob das Augusterlebnis wenigstens kurzzeitig alle politischen, sozialen, geistigen Sorgen und Nöte auf und brachte endlich die ersehnte Einheit von Denken, Handeln und Leben.
Nicht zufällig lauteten die philosophischen Leitbegriffe jener Jahre: »Verstehen«, »Werte«, »Leben«. Das Vertrauen in die (Geistes-)Wissenschaft war geschwunden zugunsten eines forschen Subjektivismus und tollkühnen Vitalismus. Die »Kunst« machte sich überall auf, das »Denken« zu verdrängen. Gefühl schlug Ratio. Daraus resultierten die vielen Mißverständnisse, die besonders Nietzsches Philosophie auslöste und zu einem absurden Kult seiner Person führten, der selbst unter gemäßigten, liberalen Geistern skurrile Züge annahm. Nietzsches Forderung: folgt nicht mir, sondern euch selbst, wurde – wie so vieles andere – geflissentlich ignoriert, so daß neben Goethes Faust auch Nietzsches Zarathustra massenhaft mit in die Schützengräben wanderte. – Diese oft zitierte Kuriosität ist indes sehr aufschlußreich; verrät sie doch vieles über den Zustand einer Kultur, die sich in ihrer Verzweiflung an kanonisierte Bücher klammert, auf deren genaue Lektüre aber keinen Wert mehr legt. Was zählt, ist die Identifkationsbereitschaft mit dem, woraus man sich Rettung aus der Zerrissenheit erhofft; nicht die Vielschichtigkeit eines Werkes, also nicht der tatsächliche
»faustische« Geist oder gar die Lehren Zarathustras.
Demnach stand Nietzsches Zerrissenheit paradigmatisch für den Zustand der »modernen deutschen Seele«. Man ging so weit, Nietzsches Leid, Schaffen und Verfall mit dem der ganzen Nation in Beziehung zu setzen. So insistierten die meisten deutschen Intellektuellen auf eine nationale Exklusivität des Philosophen: Nietzsche sei in all seinen genialen wie sonderbaren und tragischen Zügen dermaßen »deutsch« gewesen, daß er auch nur von Deutschen wirklich verstanden werden könne. 1918 erklärte Paul Natorp in seiner Abhandlung über Die Seele des Deutschen die Philosophie zu einer typischen deutschen Lebensart: Der Deutsche philosophiere eigentlich in allem, so wie er auch in allem religiös sei. Diese nationale Eigenart gelte es unbedingt zu erhalten.
Aus jener geistigen Haltung heraus scheute die Mehrzahl der deutschen Philosophen, Dichter und Professoren auch den militärischen Konflikt nicht. Als die linksliberale Frankfurter Zeitung 1911 vor der Zuspitzung der Marokko-Krise warnte und besonders die Professoren zur Zurückhaltung mahnte, schrieb der bedeutende Systematiker und damals führende Schulphilosoph, Heinrich Rickert, an Max Weber: »Gerade der radikale Liberalismus sollte endlich lernen, daß man mit den alten Aufklärungsphrasen … keine Politik mehr machen kann.« Doch freilich gab es auch andere Stimmen. So riet etwa der Dichter Rudolf Borchardt nachdrücklich zur Mäßigung, und der Philosoph Friedrich Paulsen warnte bereits 1902: »Ein überreizter Nationalismus ist zu einer sehr ernsten Gefahr für alle Völker Europas geworden; sie laufen Gefahr, das Gefühl für die menschlichen Werte darüber einzubüßen. Auf die Spitze getrieben, vernichtet der Nationalismus so gut wie der Konfessionalismus das sittliche und selbst das logische Gewissen.«
Schließlich bewirkte der Verlauf des Krieges auch bei vielen ehemaligen Befürwortern einen geistigen Wandel. So bekannte etwa ein leidenschaftlicher Imperialist und Verfechter deutscher Kolonialpolitik wie Hans Delbrück, der sich 1912 noch vehement für die »Ausbreitung und Stärkung des deutschen Volkstums« eingesetzt hatte, im August 1918: »Ehe wir aber das Alldeutschtum, seine Kriegsziele und die blasphemische Predigt vom deutschen Herrenvolk nicht eingestampft haben, … kann die Stunde für die Friedensverhandlungen nicht schlagen.« Und der Historiker Friedrich Meinecke, vor 1914 ebenfalls durchaus kein Pazifst, sprach in seinem späteren Buch Die deutsche Katastrophe (1946) von einem »Entartungsprozeß im deutschen Bürgertum«, der um 1900 begonnen und wesentlich dazu beigetragen habe, daß Hitler nicht verhindert wurde.
Thomas Manns (allerdings recht späte) Wandlung ist bekannt. Max Scheler bekam deutlich früher Zweifel am Genius des Krieges, dem er noch 1915 in einer Bekenntnisschrift huldigte, die ihn weit über das philosophisch interessierte Fachpublikum hinaus bekannt machen sollte. Schon 1916 setzte mit Krieg und Aufbau jedoch bereits die Umkehr ein. Auch Schelers gleichzeitige Orientierung hin zum Katholizismus hängt mit diesen Erfahrungen zusammen. Hatte die Geisteskrise ihre Wurzel also im Historismus, der alle Werte sowie die philosophische Vernunft relativierte, und wurde sie durch den daraus erwachsenden Nihilismus der Moderne noch befeuert, so hoffte man nun, ein apokalyptisches Gegenfeuer werde Ursache und Wirkung der Misere gleichermaßen vernichten. – Darin bestand die Not des Geistes zur Tat, die der intellektuellen Bereitschaft zum Krieg zugrunde lag.