Am 30. August 1939 betrachtet sich der 44jährige Ernst Jünger in seiner Leutnantsuniform »nicht ohne Ironie« im Spiegel. Der Mobilmachungsbefehl beruft ihn nach Celle ein. Wie viele Weltkriegsveteranen, »die niemals daran dachten, wieder Dienst zu tun«, muß sich Jünger erneut »in die Uniform einleben«. Ein Telegramm, das ihn zum Hauptmann befördert, erleichtert diese Übung. Jünger nimmt diese Tatsache als »ein Zeichen, daß Ares mir inzwischen nicht abhold geworden ist«. Wobei ihn Ares allerdings etwas behindert, ist die letzte Korrekturdurchsicht des Romans Auf den Marmorklippen: »Aus der Mühe, die es bereitet, die Wendung haargenau zu treffen, ist schon zu merken, wie Ares den Musen feindlich ist.« Dennoch gelingt diese Aufgabe, und Jünger notiert später nicht ohne Stolz die Merkwürdigkeit, daß er diese Arbeit »zum Termin«, zum Kriegsausbruch, beendet habe.
Sein Tagebuch vermerkt noch den Abschluß der Reinschrift am 12. August und ein Gespräch mit dem Bruder Friedrich Georg als dem ersten Leser der Marmorklippen in Kirchhorst am selben Tag. Die Brüder sprachen damals die Figuren des Romans durch, die dabei Züge entwickelten, »an die ich«, so Ernst Jünger, »während der Niederschrift nicht gedacht hatte, und die mir dennoch einleuchteten«. In typischer Diktion heißt es weiter: »So trennen die Gebilde sich vom Autor und wachsen an Orten weiter, die er nicht kennt. Doch dazu muß Ungeformtes, muß Urstoff in der Sprache sein, sonst welken sie gar bald dahin. Sie müssen Erde mitbringen.« Am 6. Oktober, Jünger hat mit seiner Kompanie mittlerweile nach Halberstadt verlegt, erreicht ihn der »erste, fertige Band« der Marmorklippen mit der Post.
Die Leser bekamen mit den Marmorklippen einen ungewöhnlichen Jünger zu Gesicht. Er legte kein Kriegsbuch vor, auch keinen Essay – Genres, auf die Jünger in der öffentlichen Wahrnehmung abonniert war –, sondern einen Roman, ein fiktionales Werk also. Sprache, Handlung, Personen und Orte sind darin mit Andeutungen und Symbolen überfrachtet, es gibt mehrere Zeitebenen, und Jünger spricht die Leser direkt an: »Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift.« Der Erzähler erinnert sich an jene Zeiten, als »Bruder Otho« und er abgeschieden in der Rautenklause am Rande der Marmorklippen, oberhalb der Marina lebten und sich ganz dem Studium der Natur verschrieben hatten. Die Marina ist ein großer Binnensee, dessen Nordufer von Städten gesäumt wird – eine friedliche, musische Region. Im Süden schließt sich die Alta Plana an, ein Hochland, in dem freie Völker leben, gegen die vor sieben Jahren ein Feldzug stattfand, an dem die Brüder als »Purpurreiter« teilnahmen. Nördlich der Marina befinden sich die Marmorklippen, die eine Grenze zur anschließenden Campagna, dem Weideland der Hirten, bilden.
Nördlich der Campagna beginnt mit einem Sumpf der Übergang zum Hochwald, in dem der »Oberförster« herrscht. Er taucht gleich auf Seite zwei des Buches als jemand auf, vor dem man »auf der Hut« sein müsse. Den Grund dafür erfährt der Leser, wenn Jünger die Schinderstätte Köppels-Bleek vorstellt – eine Lichtung, auf der der Oberförster foltern und morden läßt. Die beiden Brüder selbst stammen aus dem Hohen Norden, der noch jenseits des Hochwaldes liegen muß. Sie haben als Mitglieder des politischen Ordens der Mauretanier eine militärische Vergangenheit und kennen den Oberförster seit jener Zeit. Längst haben sie dem politischen Aktivismus abgeschworen und sich in ein kontemplatives Leben zurückgezogen. Der Oberförster hingegen ist dabei, an der Marina die Macht zu übernehmen.
Dazu befördert er den gesellschaftlichen Auflösungsprozeß und nutzt die Chance, die ihm die zunehmende Unsicherheit bietet: Die Marina ist ihm im Grunde hilflos ausgeliefert, weil sie auf Söldnerheere vertraut hat. Der Oberförster nähert sich mit Hilfe seiner Jäger und Förster der Herrschaft langsam an, indem er zunächst die Campagna ins Chaos stürzt. Die Situation eskaliert, als zwei Personen in der Rautenklause vorsprechen, weil sie den Oberförster aufsuchen und töten wollen. Es handelt sich um den Fürsten von Sunmyra und seinen Gefährten Braquemart. Sie ziehen allein los und kehren nicht wieder. Der Erzähler sucht sie mit Belovar und seinem Gefolge. In der Nähe des Köppels-Bleek, wo die Köpfe der Attentäter aufgespießt sind, kommt es zur Entscheidungsschlacht, der nur der Erzähler entkommt. Gemeinsam mit seinem Bruder Otho verläßt er daraufhin die brennende Marina mit dem Schiff in Richtung Alta Plana, wo Freunde, ehemalige Kriegsgegner, sie erwarten.
Das merkwürdige Buch wird ein Verkaufserfolg. Insgesamt druckt der Verlag 42000 Exemplare. Nachdem der Hanseatischen Verlagsanstalt kein Papier für weitere Auflagen zugeteilt wird, springt die Wehrmacht als Verleger ein. 1942 erscheint das Buch in einer Auflage von 20000 Exemplaren in Paris. In der Schweiz gibt es eine Lizenzauflage, Übersetzungen erscheinen zeitnah unter anderem in Frankreich und den Niederlanden. Für aufmerksame Leser drängte und drängt sich die Frage auf, ob es sich bei den Marmorklippen um einen Schlüsselroman handelt. Daß sich im Erzähler und Otho die Gebrüder Jünger spiegeln, liegt nahe.
Die Teilnahme an einem Krieg und die Abkehr von der Politik, aber auch die Mitgliedschaft im Mauretanier-Orden (mit dem wohl die nationalrevolutionären Zirkel der Weimarer Republik gemeint sind), weisen in diese Richtung. Und natürlich ist es nicht abwegig, im Oberförster beispielsweise einen Hitler zu erblikken. Wer dieser Spur folgt, wird das ganze Bürgerkriegstableau der Weimarer Zeit entdecken: die zögernde Reichswehr, einen Kommunistenführer, einen weisen, aber hilflosen Reichspräsidenten, eventuell sogar Himmler, jedenfalls die schleichende Machtübernahme radikaler Kräfte bis hin zur offenen Skrupellosigkeit.
Es handelt sich bei dieser Lesart um die heute übliche. Man kann das Buch allerdings auch als eine antistalinistische Parabel lesen. Das menschenverachtende Sowjetsystem war zu jenem Zeitpunkt ungleich präsenter als das Hitlers, das seine schlimmsten Tage ja noch vor sich hatte. Indizien wären etwa, daß dem Oberförster die Farbe Rot beigegeben ist (der Lieblingshund heißt Chiffon Rouge, also »rote Fahne«, seine Standarte ist der rote Eberkopf), daß er keine Achtung vor dem Eigentum hat und vor allem den Bauern zusetzt. Und natürlich gab es genügend Literatur in Deutschland, die den roten Terror beschrieb: Die Vorgänge auf der Schinderstätte Köppels-Bleek werden nicht Jüngers Phantasie entsprungen sein.
Doch auch diese Indizien bleiben schwach, und der Rezeptionsgeschichte der Marmorklippen kann man entnehmen, daß zwischen 1939 und 1945 niemand auf den Gedanken kam, das Buch ausdrücklich antistalinistisch zu lesen. Der entscheidende Hinweis gegen diese Lesart kommt sogar vom Autor selbst: Jünger machte in seiner aktionistischen Phase, die er mit dem Arbeiter 1932 abschloß, keinen großen Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus. Beide waren für ihn – strukturell gesehen – Modernisierungsprogramme im Sinne einer »Totalen Mobilmachung«. 1933, nach seinem Rückzug in die Provinz, hatte Jünger keinen Grund, neue Unterschiede zu machen. Beide Systeme waren für ihn immer noch derselben Wurzel entsprungen, nur daß Jünger dem Ganzen jetzt distanziert gegenüberstand. Das läßt sich schon an der zweiten Fassung des Abenteuerlichen Herzens (1938) ablesen, in dem der Oberförster und die Mauretanier ähnlich beschrieben werden wie später in den Marmorklippen.
Mittlerweile hat sich, gegen Jüngers Selbstzeugnisse, die einseitige Lesart als antifaschistisches Widerstandsbuch weitgehend durchgesetzt. Das Jünger-Handbuch, das vor kurzem in der bekannten und oft hilfreichen Reihe des Metzler-Verlags erschienen ist, macht da keine Ausnahme. Der Beitrag zu den Marmorklippen ist einer der längsten und wurde vom Herausgeber, dem Literaturwissenschaftler Matthias Schöning, selbst übernommen. Schöning betont die konservative Perspektive und Ästhetisierung der Gewalt im Roman, um sich dann der Breite des Interpretationsspektrums zuzuwenden. Leider setzt er dabei die kritische Auseinandersetzung »mit autoritärer Herrschaft« mit dem Nationalsozialismus in eins, notiert allerdings, daß die Frage unbeantwortet sei, »in welcher Form sich der Text überhaupt auf die Zeitgeschichte bezieht«. Denn es gehe Jünger um Typen, nicht um konkrete Personen.
Das Buch könne »nicht als Schlüsselroman« gelesen werden. Das Urteil von Schöning fällt insgesamt salomonisch aus: »Der Text ist weder eine Ermunterung zum Widerstand, noch Ausdruck von dessen Geringschätzung«, sondern »eine klare Aussage zur Problematik von Tyrannenmord und Widerstand, die sehr gut verstehen läßt, wieso sie in realen Widerstandskreisen aufmerksam rezipiert wurde«. Leider weist Schöning diese aufmerksame Rezeption der Marmorklippen in realen Widerstandskreisen nicht nach – einer von vielen Belegen für eine gewisse Oberflächlichkeit des Handbuchs. Es gibt aber auch sehr gelungene Artikel darin, die vor allem von Autoren stammen, die sich mit der Materie eingehender befaßt haben. Dazu zählen Helmuth Kiesel (In Stahlgewittern), Sven Olaf Berggötz (Politische Publizistik), Jan Robert Weber (Reisetagebücher) und Michael Großheim mit seinem Beitrag über die Begriffe »Kampf« und »Krieg« im Werk Jüngers.
Zu den gelungenen Artikeln gehören auch die über jene Personen, die im Zusammenhang mit der Deutung der Marmorklippen die wichtigste Rolle spielen: Friedrich Georg Jünger (Ulrich Fröschle), Hugo Fischer (Heiko Christians) und Ernst Niekisch (Daniel Morat). Mit seinem Bruder Friedrich Georg war Jünger gerade in der Abfassungszeit der Marmorklippen aufs engste verbunden. Der Philosoph Hugo Fischer, der in den Tagebüchern als »Magister« auftaucht und Anteil an der Figur des Nigromontanus aus den Marmorklippen hat, war bis 1938, als er ins Exil ging, einer der wichtigsten Gesprächspartner und Lehrmeister Jüngers. Sehr wichtig ist auch Ernst Niekisch, der seit 1937 im Zuchthaus saß und mit Jünger nach 1945 eine Kontroverse über die Marmorklippen führte.
1950 schrieb Jünger an Niekisch, der sich für die DDR entschieden hatte und Jünger seine Kontemplation vorwarf: »Für mich ist die Lage des Widerstandes unverändert geblieben; ich sehe nach wie vor zuviel Leiden, Gewalttat und Unterdrückung, als daß es mich verlockte, mich irgendwo zu beteiligen.« Damit unterstrich er die Kontinuität seiner Auffassungen in dieser Frage, die also auch in den Marmorklippen nicht speziell auf den Nationalsozialismus bezogen war. Jünger subsumierte sich rückblickend sogar gemeinsam mit der NSDAP unter die »neuen Kräfte in Deutschland von 1918 bis 1933«. In einem Brief an seinen Bruder sprach er 1946 von der Münchner (Hitler), Berliner (Kreis um die Zeitschrift Widerstand mit Jünger und Niekisch) und Hamburger Schule (Wilhelm Stapel).
Erstere habe den Sieg davongetragen, aber nur die Berliner hätten auch heute noch etwas zu sagen. Implizit heißt dies, daß der Nationalsozialismus nicht das Urböse, sondern eine Möglichkeit unter vielen gewesen sei. Das fügt sich in das Bild der Marmorklippen, die ja die abwartende Haltung predigen und so etwas wie Pendelgesetze in der Geschichte nahelegen. Jüngers Ablehnung des Attentats bezieht sich konkret auf den Besuch Heinrichs von Trott zu Solz (Bruder des nach dem 20. Juli 1944 hingerichteten Widerstandskämpfers Adam von Trott zu Solz), der sich 1938 an Jünger wandte und um dessen Beteiligung an einem Attentat auf Hitler warb. Jünger war nicht nur aus naheliegenden Gründen, etwa Hitlers Popularität, gegen ein Attentat, sondern auch aus grundsätzlichen Erwägungen über den Geschichtsprozeß, der sich selbst vollenden müsse: Durch Attentate werde »wenig geändert und vor allem nichts gebessert«. In seiner unmittelbaren Reaktion auf das Attentat vom 20. Juli bezog sich Jünger dann aber auf die Marmorklippen und sah seine Schilderung des Fürsten Sunmyra bestätigt, weil mit Graf Stauffenberg »an solchen Wenden die älteste Aristokratie ins Treffen tritt.«
Jünger sah jedoch selbst in seinem Buch einen »geistigen« Widerstandsakt, den er aber nicht speziell gegen das Dritte Reich oder überhaupt gegen seine Zeit gerichtet habe. Seine Haltung zu den Marmorklippen faßte er 1946 in seinem Tagebuch zusammen: »Bei Ausbruch des Krieges erschien Auf den Marmorklippen, ein Buch, das mit dem Arbeiter das eine gemeinsam hat, daß die Vorgänge in Deutschland zwar in seinen Rahmen paßten, es aber speziell nicht auf sie zugeschnitten war. Ich fasse es daher auch heute nicht als Tendenzschrift auf. Den Schuh konnten und können sich manche anziehen.«
Obwohl Jünger nach 1945 jeden Grund gehabt hätte, die freundlichen Deutungen anzunehmen, um mit diesem Kapital zu wuchern, bleibt er seinem Motto »Wer sich selbst kommentiert, geht unter sein Niveau« treu, so daß die Selbstaussagen zu den Marmorklippen spärlich und unkonkret bleiben. Wenn man neben diese Zeugnisse die zeitgenössische Rezeption, Jüngers Biographie bis zum Erscheinen dieses Buches und die historischen Ereignisse bis zum August 1939 legt, kann man die Marmorklippen als eine antitotalitäre Parabel deuten, die auch nach 75 Jahren aktuell bleibt, weil sie keinen Schlüsselroman und keine antifaschistische Tendenzschrift darstellt.
Jüngers Schrift ist eine Botschaft an die verstreuten Brüder im Geiste gewesen. Die Anrede im ersten Satz ist mit bedacht gewählt. Ziel war offenbar die geistige Abhärtung gegen das, was bereits geschah und noch geschehen konnte. Die Lehre lautet: Der Mensch ist schwach, eine Hochkultur ist auf Dauer nicht gegen Dekadenz gefeit, gegen Urgewalten ist kein Kraut gewachsen, die Welt erneuert sich nach dem Untergang wieder, die geistige Freiheit ist der einzige Rückzugsraum, der in totalitären Zeiten bleibt. Die passive Haltung der Brüder führt schließlich dazu, daß sie das aus der Schinderstätte geborgene Haupt des Fürsten als das Wichtigste bewahren und in einen neuerrichteten Dom einpflanzen können.