Sinn und Widersinn der Nostalgie

Wo sind wir, wenn wir in der Welt sind? – Auch wer sich diese Frage noch nie gestellt hat, wird eingestehen müssen,... 

daß es sich beim In-der­Welt-Sein um eine Orts­ge­bun­den­heit han­delt, die wie­der­um ein Bewußt­sein für den Ort des Daseins vor­aus­setzt. Die­ses Bewußt­sein nen­nen wir »Hei­mat­ge­fühl«, und die dazu­ge­hö­ri­gen Orte kön­nen geo­gra­phi­sche Stät­ten sein, aber auch Men­schen, Gedan­ken, Seins­wei­sen. Denn wir sind ja nie­mals an einem kon­kre­ten Ort zu Hau­se, son­dern immer nur in dem Ver­hält­nis, das wir zu ihm ein­ge­hen. Das liegt dar­an, daß wir uns des Ortes an sich, den wir als Hei­mat emp­fin­den, in der Regel kei­nes­wegs bewußt sind, sehr wohl aber der Erfah­run­gen und Erin­ne­run­gen, die wir damit ver­bin­den. Der geo­gra­phi­sche Hei­mat­ort ist not­wen­dig ein zufäl­li­ger; der meta­phy­si­sche dage­gen nicht, son­dern ein zumeist sel­ber gewähl­ter, sogar dann, wenn er sich auf den geo­gra­phi­schen bezieht, denn man muß ja nicht zwangs­läufg mit die­sem hei­mat­lich ver­bun­den sein. Das, was einen geo­gra­phi­schen Ort zugleich zu einer meta­phy­si­schen Hei­mat macht, ist also die Bezie­hung, in der wir zu ihm ste­hen. Denn erst die­se Bezie­hung, das heißt die emo­tio­na­le Bin­dung, die wir mit einem Ort ein­ge­hen, läßt uns des­sen Ver­lust als Schmerz erfah­ren. Kommt nun bei­des zusam­men: besteht also eine inni­ge Bin­dung zu einem Ort, und ist uns die­ser ver­lo­ren­ge­gan­gen, emp­fin­den wir das, was der Begriff Nost­al­gie bezeich­net.

Obwohl das Wort erst rela­tiv spät kre­iert wor­den ist, näm­lich im aus­ge­hen­den 17. Jahr­hun­dert, dürf­te das Gefühl, das der Nost­al­gie zugrun­de liegt, frei­lich viel älter sein. Der Ter­mi­nus fndet sich zuerst in einer medi­zi­ni­schen Dis­ser­ta­ti­on des Schwei­zer Arz­tes Johan­nes Hofer von 1688. Er setzt sich aus dem grie­chi­schen Wort für Heim­kehr, Rück­kehr (nós­tos) und dem für Schmerz, Not, Trau­er (álgos) zusam­men. Wört­lich über­tra­gen bedeu­tet »Nost­al­gie« also soviel wie »schmerz­haf­tes Ver­lan­gen nach Heim­kehr«. – Doch Heim­kehr wohin?

Dadurch, daß für den Men­schen die Zeit ver­geht, weil die Ereig­nis­se nicht andau­ern, wird er per­ma­nent von der Welt zurück­ge­las­sen, ja aus ihr ver­trie­ben, inso­fern sie ihren Ort ändert, also ihren Zeit-Raum ver­schiebt. Unse­re jewei­li­ge Posi­ti­on in der Welt ist nicht zu hal­ten, da sie stän­dig durch eine ande­re abge­löst wird. Dem­zu­fol­ge gehen wir, solan­ge wir leben, einer Hei­mat ver­lus­tig. Nun fin­den in der moder­nen und tech­ni­sier­ten Welt sol­che Ver­lus­te aber viel öfter und in einem viel grö­ße­ren Umfang statt als jemals zuvor, da auf tech­ni­schen Fort­schritt basie­ren­de Gesell­schaf­ten sich sel­ber dazu zwin­gen, Gewohn­tes immer wie­der zu ver­nich­ten und den Men­schen in einen Dau­er­streß der Anpas­sung an ver­än­der­te Ver­hält­nis­se versetzen.

Wo der Mensch durch Über­an­ge­bo­te an Neu­em in sei­ner Auf­nah­me­fä­hig­keit stän­dig über­for­dert wird, befndet er sich in einem Zustand per­ma­nen­ter Selbst­ent­frem­dung. Die­ser aber ist erfor­der­lich, damit eine tech­ni­sier­te Kon­sum­ge­sell­schaft mit Maxi­mie­rungs­an­spruch ihrem Prin­zip nach über­haupt funk­tio­niert: Es darf kei­ne Sät­ti­gung geben, die Bedürf­nis­ket­te muß end­los erwei­tert und ver­län­gert wer­den. Nicht ganz unbe­rech­tigt frag­te Heid­eg­ger daher, ob der neu­zeit­li­che, moder­ne Mensch über­haupt noch hei­mat­lich emp­fin­den kön­ne, oder ob »Hei­mat« ihm nicht bloß eine Erin­ne­rung sei an ein ver­lo­re­nes Gut.

Die Nost­al­gie beinhal­tet jedoch nicht nur die Trau­er um ver­lo­re­ne Lebens­um­stän­de oder die Sehn­sucht danach, son­dern auch und vor allem ein Besin­nen dar­auf, was mit dem Ver­lo­re­nen ver­lo­ren­ge­gan­gen ist. Man darf die Nost­al­gie daher durch­aus zu den Erkennt­nis­for­men rech­nen. So wie – laut Aris­to­te­les – der Geni­us fast immer melan­cho­lisch ist, so hat Erkennt­nis zumeist etwas mit Nost­al­gie zu tun, da in bei­den Fäl­len der schöp­fe­risch-sehen­de Mensch erreich­te Zustän­de noch uner­reich­ten gegen­über­stellt. Wo etwas erkannt wird, ist der Ort des Uner­kann­ten bereits ver­las­sen; man befndet sich auf dem Weg in einen Raum, der nicht all­ge­mein zugäng­lich ist, betritt also Neu­land, von wo aus es aber immer noch wei­ter­geht. Die Hei­mat des Ver­trau­ten liegt hin­ter dem Erken­nen­den; und soviel er auch auf sei­nem Weg an Ein­sich­ten gewin­nen mag, der Ver­lust des­sen, was ihm die Erkennt­nis zufügt, wiegt nicht min­der schwer. Das ist der Grund dafür, wes­halb das Erken­nen sel­ber in einem bestimm­ten Sin­ne »trau­rig« macht und Den­ken so oft ins Unbe­ha­gen führt.

Das Nicht-allein-in-einem-Raum-sein-Kön­nen Pas­cals, mehr aber noch das roman­ti­sche Heim­weh des moder­nen Men­schen nach einem »natür­li­chen« Dasein in der Welt, das Nova­lis als einen Trieb, »über­all zu Hau­se« sein zu wol­len, beschrieb, sind die wich­tigs­ten Mar­kie­rungs­punk­te auf dem Weg der Nost­al­gie durch die Neu­zeit. Heid­eg­ger setz­te hier einen ent­schei­den­den Akzent, indem er den berühm­ten Satz des Nova­lis umkehr­te, wodurch er die Aus­sa­ge dem postro­man­ti­schen Welt­ge­fühl heu­ti­ger Geis­tes­zu­stän­de anpaß­te: »Ein sol­cher Trieb kann Phi­lo­so­phie nur sein, wenn wir, die phi­lo­so­phie­ren, über­all nicht zu Hau­se sind.« Heid­eg­ger ver­weist also expli­zit auf den situa­ti­ven Bruch hin, der sich mit Ein­tritt in das tech­ni­sier­te Zeit­al­ter voll­zo­gen hat. Daher ist die roman­ti­sche Sehn­sucht nach dem Unend­li­chen auch kein nost­al­gi­sches Gefühl, son­dern erst die Ein­sicht in das unwie­der­bring­lich Ver­lo­re­ne läßt Roman­ti­sches zur Nost­al­gie wer­den. Inso­fern war Heid­eg­ger der Phi­lo­soph der Nost­al­gie, wie etwa Mar­cel Proust als der Schrift­stel­ler und Cas­par David Fried­rich als der Maler der Nost­al­gie bezeich­net wer­den können.

Kennt das Tier nur einen ein­zi­gen Zeit-Raum, so bewegt sich der Mensch andau­ernd zwi­schen den Zei­ten und Räu­men. Des­halb kann er sich erin­nern: an Ver­gan­ge­nes und also auch an Zukünf­ti­ges. Er möch­te aus sei­nem Erleb­ten nicht her­aus­fal­len, son­dern die­ses am liebs­ten in gewohn­ter Wei­se unend­lich fort­spin­nen wie ein Netz, das ihm ermög­licht, die alten Wege immer wie­der abzu­schrei­ten, um sein Ver­trau­tes nicht zu ver­lie­ren. Hät­te der Mensch von Anfang an sein gesam­tes Leben vor Augen, gäbe es kei­nen Grund zur Nost­al­gie. Aber dadurch, daß er als zeit­emp­fin­den­des Wesen sein Leben gewis­ser­ma­ßen abrol­len sieht wie eine Schrift­rol­le, von der er nicht weiß, wie die nächs­te Zei­le lau­tet und wann und wo der Text abbricht, blei­ben ihm nur der Blick nach hin­ten auf das bereits Gele­se­ne und die Sor­ge um das Kom­men­de. Die­ser Sor­ge ent­bun­den zu sein ist das, was uns Ver­gan­ge­nes ver­klä­ren läßt. Von dem, was wir über­stan­den haben, geht kei­ne Gefahr mehr aus; von der Zukunft dage­gen schon. Zurück­lie­gen­des ist des­halb »bes­ser« als Bevor­ste­hen­des, weil das Ver­gan­ge­ne bereits als Erfah­rung »gesi­chert« ist, wäh­rend das Zukünf­ti­ge im unge­wis­sen liegt. Man ist froh, bestimm­te Anstren­gun­gen und Fähr­nis­se bereits hin­ter sich zu haben, die vom Zukünf­ti­gen noch dro­hen. Das Ver­gan­ge­ne war des­halb fast immer groß und gut, weil es die eige­ne Ent­wick­lung bewirk­te, das eige­ne Leben mit Stof­fen auf­füll­te und dadurch abbil­det, für das eige­ne Auge sicht­bar mach­te. Daher nei­gen wir dazu, sogar Ereig­nis­se, die einst als unan­ge­nehm emp­fun­den wur­den, im nach­hin­ein zu verklären.

Denn jede Erin­ne­rung ist eine unmit­tel­ba­re Erfah­rung des Ver­lus­tes. Erst dadurch wird der Mensch mit der Tat­sa­che der eige­nen End­lich­keit kon­fron­tiert: so wie die Ereig­nis­se schwin­de auch ich dahin, der ich mit mei­nen Erleb­nis­sen gleich­sam schon ver­gan­gen bin. Wer am Leben ist, läuft unwei­ger­lich dem Tod ent­ge­gen. Und daß sich die­ser Pro­zeß nicht  auf­hal­ten läßt, löst schmerz­li­che Gefüh­le aus, weil es uns empört, ster­ben zu müs­sen. Wir wol­len eine uns ver­trau­te Welt bewoh­nen, und wo die Din­ge nicht mehr mit den Erin­ne­run­gen über­ein­stim­men, sorgt das für Irri­ta­tio­nen, eben weil wir dadurch den Ver­trei­bungs­druck spü­ren, der von der sich ver­än­dern­den Welt aus­geht, die uns nicht zur Ruhe kom­men läßt. Und es ist die Ver­än­de­rung sel­ber, die hier irri­tiert, denn sie ver­weist auf das Tem­po des Lebens, und dar­auf, daß die Welt kein Ort der Ruhe ist.

Das heißt, die Welt stif­tet nicht jene Gebor­gen­heit, die sich der Mensch als halt­lo­ses, frei­ge­setz­tes Wesen wünscht, da er sei­nen Sturz in die Frei­heit des Den­kens bis heu­te nicht ver­kraf­tet hat. Die Welt aber ist für den­je­ni­gen, der noch genug Natur in sich trägt, um in ihr behei­ma­tet sein zu wol­len, aber zuwe­nig, um es zu sein, kein ber­gen­der Ort. Viel­mehr stellt der Mensch fest, im Unbe­stän­di­gen und damit Unzu­ver­läs­si­gen leben zu müs­sen, wo alles auf ihn sel­ber ankommt, er den Ort des ein­zi­gen Seins gewis­ser­ma­ßen nur in sich sel­ber vorfndet, wodurch er von der Welt, als allen übri­gen Zeit-Räu­men, abge­schlos­sen ist. Wir sind dort nicht mehr behei­ma­tet, wo uns die Welt kein Refe­renz­sys­tem mehr bie­tet, das unse­ren eige­nen Vor­stel­lun­gen von ihr ent­spricht. So seh­nen wir uns nach Zeit-Räu­men, in denen dies noch anders war, das heißt, wo die Welt und das Eige­ne noch koin­zi­dent gewe­sen zu sein schei­nen. Sol­che Zeit-Räu­me oder Raum-Zei­ten müs­sen nicht ein­mal sel­ber erlebt wor­den sein, wie etwa die eige­ne Kind­heit, son­dern es han­delt sich dabei um Zustän­de einer »Kind­heit an sich«, weil sie immer etwas Unab­ge­schlos­se­nes ent­hal­ten, das noch Per­spek­ti­ven in alle mög­li­chen Rich­tun­gen bot. Dage­gen bin­det uns das Hier und Jetzt stets an die jewei­li­ge Raum-Zeit, wes­halb wir buch­stäb­lich kei­nen Blick für den Moment haben kön­nen, da wir uns in ihm auf dem End­punkt unse­rer erleb­ten Zeit­ach­se befnden. Das jeweils soeben Erleb­te ist inso­fern reiz­los, als daß wir es noch nicht in sei­nen grö­ße­ren Ent­wick­lungs­kon­text ein­zu­ord­nen vermögen.

Die­ses Zurück­wol­len zu den alten Orten des bereits Erleb­ten ist Aus­druck des am Leben-blei­ben-Wol­lens, indem man immer wie­der ins Ver­gan­ge­ne »heim­keh­ren« möch­te, um nicht ver­ge­hen zu müs­sen. Zugleich bedeu­tet dies aber auch, sich immer wie­der eine Chan­ce auf Selbst­ver­bes­se­rung zu eröff­nen, da die Ent­wick­lung der Welt eine Ver­voll­komm­nung demons­triert, hin­ter wel­cher die der eige­nen Per­son frap­pie­rend zurück­bleibt. Man wünscht sich an den Anfang zurück, um den Ver­lauf der Din­ge, dem man hilflos unter­wor­fen ist, sel­ber bestim­men zu kön­nen. Doch die­ses Bedürf­nis nach Umkehr, nach Fort­schritt im Rück­gang kommt kol­lek­tiv als Nost­al­gie nur solan­ge auf, wie ein bestimm­ter his­to­ri­scher Ent­wick­lungs­pro­zeß noch nicht abge­schlos­sen ist. In Zei­ten, die gewis­ser­ma­ßen noch an sich arbei­ten, träumt der Mensch ger­ne Ide­al­zu­stän­de aus einer ver­klär­ten Ver­gan­gen­heit her­bei, an denen er sich mes­sen will. Dadurch ent­stan­den tief­nost­al­gi­sche Epo­chen wie etwa das 19. Jahr­hun­dert mit sei­nen vie­len sehn­suchts­vol­len Strö­mun­gen von der Roman­tik bis zum His­to­ris­mus, die heu­te feh­len, weil wir im tech­ni­sier­ten Zeit­al­ter in einer ande­ren, gera­de­zu unhis­to­ri­schen Bezugs­welt zu den Din­gen leben.

So kann in der moder­nen, tech­no­kra­ti­schen Welt die Nost­al­gie zur Über­le­bens­stra­te­gie wer­den. Denn der Gefahr, sich nicht mehr hei­misch zu füh­len in der Welt, also ort­los zu wer­den, wirkt die Nost­al­gie ent­ge­gen. Nost­al­gi­sie­ren heißt also, sich im Geis­te eine Welt zu erhal­ten, die das eige­ne Leben auch in der Ent­frem­dung ermög­licht. Wir seh­nen uns nach dem, was unse­rem eige­nen Wesen ent­spricht. Die »Hei­mat« ist also das uns Ver­trau­te, weil es in uns sel­ber vor­han­den ist. Wo wir fnden, was wir suchen, haben wir eine Hei­mat erreicht. Es geht also immer nur dar­um, Orte zu begrün­den und zu schüt­zen, die uns der eige­nen Art gemäß zu leben ermög­li­chen. Und nun kommt es dar­auf an, von wel­cher Art man ist. Glau­ben wir von einem Zeit-Raum zu wis­sen, der unse­rer Art eher ent­spricht als der vor­ge­fun­de­ne, wol­len wir dort­hin zurück. Wer sich dage­gen in jeder Welt glei­cher­ma­ßen zurechtfndet, wird weni­ger zur Nost­al­gie nei­gen als jemand, dem die Welt ein Ort der Selbst­be­haup­tung ist. Der Sinn der Nost­al­gie besteht also nicht in der Ver­klä­rung ver­gan­ge­ner Momen­te um ihrer selbst wil­len, son­dern dar­in, sich sei­nen geis­ti­gen Über­le­bens­raum zu schaf­fen, wo die rea­len Ver­hält­nis­se einen sol­chen nicht anbieten.

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