mit einem Jubelschrei der Erleichterung: »USA – wieder da!« Endlich, so der gern als Pentagon-Sprecher auftretende Bellizist aus Hamburg, habe Präsident Barack Obama sein langes Zögern aufgegeben und sei in die Rolle des Weltpolizisten geschlüpft, um den Westen zu retten. Einen schnellen Sieg über die Gotteskrieger des »Islamischen Staats« (IS) werde es allerdings nicht geben, vielmehr drohe ein zeitraubender Abnutzungskrieg mit offenem Ende, denn: »Auf Al-Kaida folgte der IS, auf den IS folgt …«
Mit dieser realistisch-trüben Aussicht hat sich für die Bannerträger der transatlantischen »Freiheit« das ablaufende Jahr so deprimierend entwickelt, wie für sie das Jahr 2011 begonnen hatte. Damals waren es die völlig überraschenden Umstürze in Tunesien und Ägypten gewesen, die ihnen schmerzhaft vor Augen führten, wie sehr die jahrzehntelange Unterstützung autokratischer Folterregime durch den Westen den stets lautstark proklamierten Idealen von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten hohngesprochen hatte. Jetzt, knapp vier Jahre später, waren und sind es die Konfliktherde Ukraine, Gaza, Syrien und Irak, die die Vertreter der »westlichen Werte« in Alarmstimmung versetzen. So konstatierte Bernd Ulrich, Vize-Chefredakteur der Zeit, unter der Überschrift »Verwirrte Welt« am 18. August: »Die Welt ist aus den Fugen, wie sie es seit Jahrzehnten, vielleicht seit siebzig Jahren, nicht war.« Und Stefan Kornelius, Ressortchef Außenpolitik der Süddeutschen Zeitung, sprach nahezu zeitgleich von einer »haltlosen Welt … Das internationale Ordnungsgefüge aus der Zeit nach dem Kalten Krieg hat sich endgültig überlebt.« Ihre gemeinsame Diagnose war eindeutig: Die beklagenswerte Lage, so der Befund der Vertreter des wöchentlichen und des täglichen Leitorgans des deutschen Linksliberalismus, sei auf die Schwäche des Westens zurückzuführen. Gleichwohl sprach Kornelius sich und den Seinen Mut zu: »Im ewigen Ringen um eine gerechte und stabile Ordnung hat trotz all seinen Unzulänglichkeiten das westliche System – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft – eine nicht zu schlagende Attraktivität entwickelt. Wer dieses System festigt und beschützt, der wird die friedliche Welt an seiner Seite wissen.«
Ganz so schnell mochte Bernd Ulrich nun doch nicht über die Sünden der jüngsten Vergangenheit hinweggehen. Die neue Schwäche des Westens, so sein Memento, bedeute ja keineswegs, daß er seine alte Arroganz schon durchgehend abgelegt habe: »Wie westliche Staatschefs in den letzten fünfzehn Jahren das Völkerrecht gebogen, teils gebrochen haben, welche Kriegsbegründungen sie gegeben und welche Bündniswechsel sie vollzogen haben, das war schon atemberaubend. Diese Hypothek muß endlich ausgesprochen und angenommen werden, neu handlungsfähig wird der Westen nur eingedenk dieser Schuld, nicht indem er sie beschweigt.«
Was Linksliberale so verstört und bis ins Mark getroffen hat, ist die Rückkehr der Geschichte – als kulturell-religiöses und als geopolitisches Phänomen. So wie Chinas machtvolles Erscheinen auf der weltpolitischen Bühne vorhersehbar war, so konnten nur Träumer davon ausgehen, mit dem Untergang des Sowjetimperiums sei das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) im Sinne eines dauerhaften und letztgültigen Triumphes des Westens gekommen. Schon die seit seiner Gründung unsichere Existenz Israels, das über Jahre kontinuierliche Erstarken des islamischen Fundamentalismus und die stets virulente Kurden-Frage konnten jedem Beobachter zeigen, daß viele Konflikte aus einer Vergangenheit rühren, die quasi »unerledigt« ist, auch wenn mancher sie in der »Mottenkiste der Geschichte« wähnte und längst verdrängt hatte.
In diese Kategorie gehört auch die Ukraine-Krise. Sie begann Ende 2013 mit dem Angebot eines EU-Assoziierungsabkommens, entwickelte sich nach dem Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch durch die Demonstranten des Kiewer »Euro-Maidan« im Februar 2014 zu einem Bürgerkrieg und gipfelte schließlich in der bis heute andauernden Konfrontation zwischen Rußland und dem Westen, weil Moskau die Krim annektierte und in der Ostukraine die prorussischen Separatisten unterstützt. Was die Süddeutsche Zeitung am 30. August unter der Überschrift »Zurück in dunkle Zeiten« geißelte, war auch in diesem Fall nichts anderes als die Rückkehr der bis in die Gegenwart reichenden Geschichte: Im ersten russisch-türkischen Krieg (1768–1774) sicherte sich das Zarenreich unter Katharina der Großen mit der Eroberung der Krim erstmals den Zugang zu einem »warmen Meer« – ein schon von Peter I. angestrebtes Ziel. Die Türken wurden vom Dnjepr bis zur Donau zurückgedrängt.
Als »Neurußland« (Noworossija) gliederte Katharina die Gebiete im Süden und Osten der heutigen Ukraine ihrem Reich ein und ernannte Fürst Grigori Potjomkin zum Generalgouverneur. Der Vertraute der Zarin sorgte für die Besiedlung der fruchtbaren, aber fast menschenleeren Steppe durch Bauern und Leibeigene sowie durch die Anwerbung ausländischer Kolonisten. Städte wurden gegründet – mit Werften und Häfen für die entstehende Schwarzmeer-Flotte (Cherson, Sewastopol). 1802 wurde Noworossija eine Provinz des Zarenreiches und blieb bis 1917 integraler Bestandteil Rußlands. Erst die Bolschewiki traten die Region an die 1919 neugebildete »Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik« ab – warum, das wisse »nur Gott«, erklärte Präsident Putin im April 2014. Genauso schleierhaft sei nicht nur ihm das Motiv des damaligen sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow, der 1954 die Halbinsel Krim seiner ukrainischen Heimat zum Geschenk machte. Auch dies, so Putin, sei ein »historischer Fehler« gewesen, denn in beiden Gegenden – sowohl in der heutigen Ostukraine als auch auf der Krim – seien die Menschen tief mit dem russischen Staat verwurzelt.
Und in der Tat: Nach dem zweiten russisch-türkischen Krieg (1787–1791) hatte sich die Türkei offziell mit dem Anschluß der Krim an das Zarenreich einverstanden erklärt und das Gebiet zwischen dem südlichen Bug und dem Dnjestr an Rußland abgetreten. Dort gründete Katharina II. 1794 die Hafen- und Handelsstadt Odessa. Nun war das nördliche Ufer des eisfreien Schwarzen Meeres endgültig gewonnen und die natürliche Grenze im Süden erreicht und dauerhaft gesichert. Das Recht der freien Schiffahrt ins Mittelmeer hat sich Moskau seitdem nicht mehr streitigmachen lassen. Aus wirtschaftlichen und militärstrategischen Gründen ist dies auch für das aus der Konkursmasse der Sowjetunion wiedererstandene Rußland von existentieller Bedeutung. Man muß daher kein »Putin-Versteher« sein, um zu erkennen, daß EU und NATO die Ukraine – ein historisch labiles Gebilde, das erst 1991 zur staatlichen Unabhängigkeit fand – als nützliches Werkzeug benutzen, um Moskau zu schwächen und das Einflußgebiet des Westens zu erweitern.
Auch im Nahen Osten hat die Rückkehr der Geschichte in diesem Jahr zu unabsehbaren Folgen geführt. Welch verhängnisvolle Rolle Großbritannien dort gespielt hat, räumte der damalige Außenminister Jack Straw im November 2002 in einem Gespräch mit dem New Statesman ein: »Die krummen Grenzen wurden von den Briten gezogen. Die Balfour-Deklaration und eine Reihe ihr widersprechender Garantien gingen an Palästinenser und Israelis gleichzeitig. Das ist eine interessante Geschichte, wenn auch keine unbedingt ehrenhafte.« Straws »krumme Grenzen« spielten auf das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 an. In dieser geheimen Übereinkunft hatten die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs ihre kolonialen Interessengebiete nach der Zerschlagung des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg festgelegt. Inhaltlich stand das Abkommen jedoch im Widerspruch zum Briefwechsel zwischen dem Emir des Hedschas und dem britischen Hochkommissar in Ägypten. Während in jener Hussein-McMahon-Korrespondenz der Jahre 1915/16 den Arabern die Unterstützung Londons im Fall eines Aufstands gegen das Osmanische Reich zugesagt und die Anerkennung einer anschließenden arabischen Unabhängigkeit in Aussicht gestellt wurde (»Lawrence von Arabien«), teilten Frankreich und Großbritannien statt dessen weite Teile des arabischen Territoriums unter sich auf. Innerhalb der jeweiligen Einflußzonen gründeten sie ohne Rücksicht auf historische Religions- und Stammesgrenzen Kunststaaten wie Jordanien, Irak, Syrien und Libanon.
Was Frankreich (das Land der Menschenrechte) und England (die älteste konstitutionelle Monarchie) in der Phase ihres globalen Imperialismus hinterlassen haben, sind »eingefrorene« Konflikte, die jetzt unter veränderten Bedingungen aufbrechen. So knüpft die Bewegung »Islamischer Staat« (IS), jahrelang mit Geldern aus den westlichen Bündnispartnern Katar und Saudi-Arabien fnanziert, an die vorkoloniale Epoche an und will zunächst zwischen Mittelmeer und Euphrat nach dem Vorbild Mohammeds ein Kalifat, einen sunnitischen Gottesstaat, errichten. Innerhalb von fünf Jahren, so IS-Anhänger, solle jedes Territorium, wo derzeit Muslime leben oder früher gelebt haben, zum künftigen Kalifat gehören: halb Asien, drei Viertel Afrikas, Teile Osteuropas und Andalusien. In der Hoffnung, durch die gewaltsame Beseitigung diktatorischer Regime im Irak und in Libyen die »Demokratisierung« des Orients in die Wege leiten zu können, haben die westlichen Staaten, allen voran die USA, statt dessen die Büchse der Pandora geöffnet und die Uhr der Geschichte zurückgedreht. Als Verbündete im Kampf gegen die fundamentalistischen IS-Milizen dürfen sich daher mittlerweile auch die rund 40 Millionen Kurden Hoffnung auf einen eigenen Staat machen; entgegen anderslautenden Versprechungen war ihr Siedlungsraum nach dem Ersten Weltkrieg dem Iran sowie den neuen Staaten Irak, Syrien und der modernen Türkei Atatürks zugeschlagen worden.
Israel wiederum, von den meisten Arabern und Muslimen bis heute als britisch-amerikanischer Stachel im eigenen Fleisch empfunden, muß selbst im 66. Jahr nach seiner Gründung noch immer um die Wahrung der staatlichen Existenz kämpfen. Als die zionistische Bewegung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, machten die Juden allenfalls drei Prozent der Bevölkerung Palästinas aus. Als Folge der Balfour-Deklaration von 1917 wuchs die jüdische Einwanderung unter dem britischen Protektorat indes lawinenartig an. Der Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 wies den damals 600000 Juden 55 Prozent des Territoriums zu, den 1,2 Millionen Palästinensern jedoch, die seinerzeit noch Eigentümer von 94 Prozent des Landes waren, lediglich 45 Prozent. Eine Lösung des Konflikts ist illusorisch, solange Israel seine völkerrechtswidrige Siedlungspolitik im 1967 besetzten Westjordanland sowie im annektierten Ost-Jerusalem fortsetzt und die USA dieses Vorgehen mit ihrem Veto im Weltsicherheitsrat decken.
Für die Vertreter des Linksliberalismus hat die Rückkehr der Geschichte auch innenpolitisch unerwartete Folgen: Die aufbrechenden Konflikte haben in Europa vielerorts zu einer längst überwunden geglaubten Ausdifferenzierung der jeweiligen Gesellschaften auf kulturellem, religiösem und politischem Gebiet geführt, was der egalitaristischen Eine-Welt-Ideologie vehement widerspricht. So beklagte Ulrich Beck, Leiter eines Forschungsprojekts zum »Methodologischen Kosmopolitismus«, auf dem Höhepunkt des jüngsten Gaza-Krieges, daß dieser in europäischen Städten seinen Widerhall finde: »Wir – viele Deutsche und andere Europäer – setzen deutsche, französische, italienische Juden mit Israelis gleich. Plötzlich werden die Nachbarn wieder zu Juden und damit zu Ausländern im eigenen Land.« Der Soziologe Beck vergaß zweierlei zu erwähnen: erstens, daß sich nicht nur in Deutschland die offziellen Repräsentanten der jüdischen Gemeinden mit Israel identifzierten und seinem militärischen Vorgehen die uneingeschränkte Solidarität bekundeten, sowie zweitens, daß es in der überwiegenden Mehrzahl zugewanderte Muslime waren, die ihrem antijüdischen und antiisraelischen Haß freien Lauf ließen.
Die importierten Kriege und Bürgerkriege, ob national oder religiös motiviert, lassen die Integrationshoffnungen und Bereicherungsträume der Kosmopoliten und Multikulturalisten als Farce erscheinen. Für die weitgehend ungeregelte Zuwanderung dürfte die Grenze des Sozialverträglichen somit bald erreicht sein; auf anderen Gebieten hat die Liberalität zu einer Bindungslosigkeit geführt, an deren Ende die Auflösung der Gesellschaft stehen wird. Auf diesen Irrweg wies Präsident Putin in einer Rede am 30. September 2013 hin: »Viele euro-atlantische Länder … verleugnen ihre moralischen Prinzipien und alle traditionellen Identitäten: nationale, kulturelle, religiöse und sogar sexuelle. Sie machen eine Politik, die große Familien gleichstellt mit homosexuellen Partnerschaften, den Glauben an Gott mit dem Glauben an den Teufel.« Der eingangs zitierte Bernd Ulrich schleuderte Putin und seinesgleichen entgegen: »So schwul, so libertär, so säkular – und dabei nach wie vor ökonomisch so erfolgreich, das können sie nicht fassen. Die Vorstellung, daß die westlichen Gesellschaften nicht trotz ihrer Toleranz, ihrer Pluralität, ja ihrem ganzen verweichlichten Gehabe so erfolgreich sind, sondern eben deshalb, die ist ihnen komplett wesensfremd.« Angesichts des in den USA, besonders aber in EU-Europa seit Jahren zu beobachtenden wirtschaftlichen und politischen Niedergangs zeugt Ulrichs Philippika von einem erstaunlichen Realitätsverlust.
Die Attitüde, unliebsame Erscheinungen zu verleugnen oder sie als lediglich soziale Probleme zu bemänteln, die man mit beherztem Griff in staatliche Kassen lösen kann, ist die Konsequenz eines illusionären Welt- und Menschenbildes. In Abwandlung des berühmten Gastarbeiter-Zitats von Max Frisch ließe sich sagen, die Eine-WeltIdeologen rufen nach Menschen, aber es kommen Iraner, Syrer, Türken, Roma, Schiiten, Sunniten, Salafsten, Kopftuchträgerinnen, Verfechter von Blutrache, Ehrenmorden etc. Der »Mensch«, abstrahiert von seiner genetischen, ethnischen, geschichtlichen und soziokulturellen Herkunft, ist bloße Fiktion, eine abstrakte Gattungsbezeichnung und Hülle ohne Inhalt – gemäß der Sentenz des französischen Staatsrechtlers Joseph de Maistre, der schon vor 200 Jahren erklärte, noch nie habe er einen »Menschen« getroffen, sondern immer nur Italiener, Franzosen, Russen oder Engländer. Einmal mehr lehrt die Rückkehr der Geschichte, daß nicht das ihr 1989/90 prophezeite Ende auf der Tagesordnung steht, sondern ein Kampf der Kulturen, der durch eine verfehlte Politik jetzt auch inmitten der euro-atlantischen Gesellschaften droht.