Soziale Lenkung

I. Moral, Sozialmoral, Recht und Politik

I. Moral, Sozi­al­mo­ral, Recht und Politik

Die Aus­dif­fe­ren­zie­rung von Recht und Moral, also von »äuße­rer« und »inne­rer« Ver­hal­tens­re­gu­lie­rung, gehört zu den Errun­gen­schaf­ten des moder­nen Staa­tes. Sie ist his­to­risch ein Neben­pro­dukt der Tren­nung von Recht und Reli­gi­on; denn tra­di­tio­nell beruht unse­re Moral auf der Reli­gi­on im wei­tes­ten Sinn die­ses Wor­tes. Die Säku­la­ri­sie­rung des Rechts zog daher zugleich die prin­zi­pi­el­le Unter­schei­dung von Recht und Moral nach sich.

Dies wird meist als ein Pro­zeß der Befrei­ung ver­stan­den, weil dadurch die Moral dem Rechts­zwang ent­zo­gen wur­de. Eine all­zu enge Ver­bin­dung bei­der ist, wie die Erfah­rung lehrt, der Frei­heit nicht för­der­lich. Eben­so wie die Reli­gi­on ist auch die Moral dar­auf ange­legt, grund­sätz­lich alle Berei­che des mensch­li­chen Lebens zu erfas­sen. Ein von der Moral her kon­zi­pier­tes Recht stellt daher ten­den­zi­ell alle Ver­hal­tens­äu­ße­run­gen unter Rechts­zwang. Im Unter­schied dazu ver­folgt ein Recht, das sich von reli­giö­ser Bevor­mun­dung gelöst hat, beschränk­te Zwe­cke. Sei­ne wesent­li­chen Auf­ga­ben sind die Errich­tung und Erhal­tung einer poli­ti­schen Ord­nung, der Schutz aus­ge­wähl­ter Indi­vi­du­al­gü­ter und die Regu­lie­rung von Ver­hal­tens­wei­sen, die für das Funk­tio­nie­ren der jewei­li­gen Gesell­schaft von essen­ti­el­ler Bedeu­tung sind. Dabei muß ein säku­la­res Recht kei­nes­wegs in einen Wider­spruch zur Moral gera­ten. Einen durch­ge­hen­den Wider­spruch könn­te auf Dau­er ohne­hin kei­ne Gesell­schaft ertra­gen. Was das Recht ver­ord­net, ist daher häu­fig auch mora­lisch gebo­ten: z.B. ande­re nicht grund­los zu ver­let­zen, Ver­trä­ge zu erfül­len, sich an die all­ge­mei­ne Ord­nung zu hal­ten. Anders als die Moral läßt das pro­fa­ne Recht den Bür­gern jedoch einen Frei­raum, in dem sie sich an ande­ren Maß­stä­ben ori­en­tie­ren kön­nen. Hier kann jeder nach sei­ner per­sön­li­chen Auf­fas­sung han­deln und ver­su­chen, »nach sei­ner façon« glück­lich zu werden.

Ihrer Funk­ti­on nach stel­len Recht und Moral unter­schied­li­che Sys­te­me der Ver­hal­tens­steue­rung dar: In der Moral geht es um die Steue­rung des Han­deln­den aus­schließ­lich durch ihn selbst nach Maß­ga­be sei­ner eige­nen Über­zeu­gung; dem­ge­gen­über läßt das Recht auch eine Steue­rung von außen zu und kann daher auch gegen die Über­zeu­gung des Betref­fen­den durch­ge­setzt wer­den. Vor­der­grün­dig betrach­tet ist die indi­vi­du­el­le Frei­heit umso grö­ßer, je klei­ner der Raum ist, den das Recht für sich in Anspruch nimmt. Umso aus­ge­dehn­ter ist näm­lich der Bereich, der von recht­li­chem Zwang frei bleibt.

Frei­lich sind Recht und Moral in der Rea­li­tät nicht in der Wei­se getrennt, wie es das Denk­mo­dell einer libe­ra­len Gesell­schaft sug­ge­riert. Auch in der Epo­che, die der Auf­klä­rung folg­te, gab es Ver­su­che, das Recht in den Dienst mora­li­scher Leh­ren zu stel­len – nicht nur in Dik­ta­tu­ren, auch in Demo­kra­tien. Dafür lie­fert unter ande­rem die Gegen­wart ein anschau­li­ches Bei­spiel. Die deut­sche Poli­tik ist der­zeit mora­lisch auf­ge­la­den wie in Zei­ten, die man längst über­wun­den glaub­te, und das Recht bleibt davon nicht unbe­rührt. Was not­tut, ist daher, das Zusam­men­spiel der ver­schie­de­nen Sys­te­me sozia­ler Steue­rung zu erfas­sen, um zu erken­nen, was anders gewor­den ist, als es der Theo­rie des demo­kra­ti­schen Rechts­staats entspricht.

Für die­sen Zweck lege ich eini­ge Ter­mi­ni zugrun­de, die über die Dicho­to­mie von Recht und Moral hinausreichen:

  1. Moral = Steue­rung des Han­deln­den durch sich selbst,
  2. Sozi­al­mo­ral = Steue­rung ande­rer durch »Mora­li­sie­ren« und Belehren,
  3. Recht = Steue­rung ande­rer durch orga­ni­sier­ten Zwang,
  4. Poli­tik = Steue­rung ande­rer durch Recht­set­zung und Verwaltungshandeln.

Die­se Begrif­fe sind auf die fol­gen­den Über­le­gun­gen abge­stimmt. Los­ge­löst hier­von könn­te man etwa den Begriff der »Poli­tik« auch anders be- stimmen.

II. Selbst­steue­rung durch mora­li­sche Selbstbestimmung

Die Ethik der Alten war durch die Vor­stel­lung einer objek­ti­ven Ord­nung des Kos­mos bestimmt, in die sich der Ein­zel­ne ein­zu­fü­gen hat­te. Die rich­ti­ge Lebens­füh­rung bestand dar­in, sei­ne vor­ge­ge­be­ne Auf­ga­be zu erken­nen und zu erfül­len. Dage­gen fin­det der moder­ne Mensch sei­ne Hei­mat nicht in dem, was ist, son­dern in dem, was er nach eige­nen Vor­stel­lun­gen selbst­tä­tig her­vor­bringt. Die­sem indi­vi­dua­lis­ti­schen Selbst­ver­ständ­nis ent­spricht eine sub­jek­ti­ve Moral. Gebo­ten ist danach nicht das, was uns als »For­de­rung des Tages« ent­ge­gen­tritt, son­dern was wir auf­grund unse­rer eige­nen Über­zeu­gung zur Richt­schnur unse­res Ver­hal­tens machen. Nur ein – auto­no­mes – Han­deln gemäß unse­rer sub­jek­ti­ven Über­zeu­gung nen­nen wir mora­lisch, woher die­se Über­zeu­gung auch gekom­men sein mag.

Der Inhalt die­ser sub­jek­ti­ven Moral kann sehr ver­schie­den sein. In tra­di­ti­ons­ver­haf­te­ten Gesell­schaf­ten geht es in der Regel um das Wohl­erge­hen des Han­deln­den selbst und einer über­schau­ba­ren Bezugs­grup­pe. Die Moral kann aber auch einen altru­is­ti­schen Cha­rak­ter anneh­men und dabei eine Welt­ge­sell­schaft anpei­len, in der es weder Eth­ni­en noch Staa­ten, son­dern nur Men­schen als sol­che gibt. So etwa bei Imma­nu­el Kant.

Wenn der kate­go­ri­sche Impe­ra­tiv dazu auf­for­dert, jeden Men­schen als Selbst­zweck zu behan­deln, wird von allen Unter­schie­den, sei­en sie natür­li­cher oder his­to­risch-kul­tu­rel­ler Art, abge­se­hen. Nur das abs­trak­te Mensch­sein soll ent­schei­den. Die Moral des kate­go­ri­schen Impe­ra­tivs ist daher, eben­so wie die des Chris­ten­tums, eine uni­ver­sa­lis­ti­sche Menschheitsmoral.

Dem ein­zel­nen sind bei der Ver­fol­gung sei­ner mora­li­schen Grund­sät­ze kei­ne inter­nen Gren­zen gesetzt. Er kann sein Leben der Ver­sor­gung von Kran­ken wid­men, Not­lei­den­de bis zur Selbst­auf­ga­be unter­stüt­zen, Obdach­lo­se bei sich auf­neh­men usw. Aber auch wo die Moral sich uni­ver­sa­lis­tisch gibt, ist sie in prak­ti­scher Hin­sicht meist eine »Nah­be­reichs­mo­ral«, weil jeder pri­mär für sich und die ihm Nahe­ste­hen­den sorgt und nicht dar­an denkt, die­se hin­ter »Fern­ste­hen­den« zurückzusetzen.

III. Wei­sung zur Selbststeuerung

Eine ande­re Ebe­ne wird eröff­net, wo mora­li­sche Grund­sät­ze, die man sub­jek­tiv für rich­tig hält, als objek­ti­ve Regeln dekla­riert wer­den, die für alle gel­ten sol­len. Die Argu­men­ta­ti­on lau­tet dabei im Prin­zip wie folgt: Es ist nach mei­ner Auf­fas­sung rich­tig, sich so und so zu ver­hal­ten – also ver­hal­tet euch dem­entspre­chend! Die Moral hört dabei auf, Pro­dukt eines sich selbst steu­ern­den Sub­jekts zu sein, und wird zu einer Vor­schrift für ande­re. Soweit der jeweils Han­deln­de die­se Sozi­al­mo­ral in sei­ne Über­zeu­gung auf­ge­nom­men hat, ergibt sich aus sei­ner Sicht kein Unter­schied, glaubt er doch, sich zugleich nach sei­ner Indi­vi­du­al­mo­ral zu ver­hal­ten. Das ist inso­fern rich­tig, als unse­re Über­zeu­gun­gen die unse­ren sind, ganz gleich, wie wir dazu gekom­men sind. Von Bedeu­tung ist ihre Her­kunft nur aus Sicht des­sen, der uns eine sol­che Über­zeu­gung ver­mit­telt hat. Denn er hat uns damit nach sei­nen Vor­stel­lun­gen gesteuert.

Wer mora­li­sche For­de­run­gen pro­pa­giert, wird sich meist auch selbst danach rich­ten. Aber es geht auch anders. Hat eine bestimm­te Sozi­al­mo­ral Fuß gefaßt, kann sie auch von Men­schen und Insti­tu­tio­nen ver­kün­det wer­den, die offen dage­gen ver­sto­ßen. Inso­fern ver­fügt die Sozi­al­mo­ral über eine Eigen­ge­setz­lich­keit: ein­mal ver­stan­den und akzep­tiert, braucht sie kei­nen glaub­wür­di­gen Ver­kün­der mehr. Viel­mehr kann jeder gegen­über jedem die bekann­ten sozi­al­mo­ra­li­schen For­de­run­gen erhe­ben und ihn dadurch in Zug­zwang ver­set­zen. Auch wer die­sen Maß­stä­ben selbst nicht ent­spre­chen mag, kann so doch zur Ent­ste­hung eines sozia­len Drucks bei­tra­gen, sich der gebil­lig­ten Moral zu fügen. So kann etwa auch der­je­ni­ge dazu auf­for­dern, die Bedürf­ti­gen zu unter­stüt­zen, der selbst gar nicht dar­an denkt, von sei­nem Wohl­stand etwas abzugeben.

In tra­di­tio­nel­len Gesell­schaf­ten wirkt die Sozi­al­mo­ral über­wie­gend dahin, die Men­schen dau­er­haft auf bestimm­te Ver­hal­tens­wei­sen fest­zu­le­gen. Sie kann jedoch auch die Funk­ti­on über­neh­men, die bestehen­den Ver­hält­nis­se von Grund auf umzu­ge­stal­ten. Dazu bedarf es frei­lich zen­tra­ler Instan­zen, wel­che das über­kom­me­ne Den­ken gezielt beein­flus­sen kön­nen. Im Mit­tel­al­ter waren dies die Kir­chen, vom Beginn der Neu­zeit an zusätz­lich die Regie­run­gen, Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten, heu­te außer­dem die Medi­en und die Insti­tu­tio­nen früh­kind­li­cher Erzie­hung – kurz, alle Ein­rich­tun­gen, die einen geziel­ten Ein­fluß auf eine Viel­zahl von bil­dungs­fä­hi­gen Men­schen ausüben.

In vie­len visio­nä­ren Sozi­al­uto­pien, in denen es um die Schaf­fung eines neu­en Men­schen geht, hat man dies erkannt. Man setz­te daher nicht auf die Fami­lie, son­dern auf die staat­lich orga­ni­sier­te außer­häus­li­che Erzie­hung. Im Ver­band mit ande­ren und gelei­tet durch pro­fes­sio­nel­le Erzie­her soll­te die her­an­wach­sen­de Gene­ra­ti­on auf die »rich­ti­ge« Moral ein­ge­stellt und auf das gewünsch­te Den­ken aus­ge­rich­tet wer­den. Nach gelun­ge­ner Sozia­li­sa­ti­on wür­den sich die Zög­lin­ge spä­ter aus eige­ner Über­zeu­gung so ver­hal­ten, wie man es höhe­ren Orts für rich­tig hielt. Nur in den nega­ti­ven, »schwar­zen« Uto­pien wur­de das Bild von einer ande­ren Sei­te gezeigt und dar­ge­legt, wie sehr es bei all dem um die Ein­übung einer neu­en Unfrei­heit bei gleich­zei­ti­gem Bewußt­sein, frei zu sein, geht.

IV. Zwangs­pflich­ten und Zwangsrechte

Der von der Sozi­al­mo­ral aus­ge­hen­de Anstoß ist nor­ma­ler­wei­se nicht orga­ni­siert. Wo der Druck, sich bestimm­ten Nor­men gemäß zu ver­hal­ten, dage­gen so gere­gelt ist, daß vor­be­stimm­te Sank­tio­nen mit ziem­li­cher Gewiß­heit ein­tre­ten, wird die infor­mel­le sozi­al­mo­ra­li­sche Pflicht zur Rechts­pflicht. Damit kann man das Ver­hal­ten ande­rer geziel­ter steuern.

Die pri­mä­re Rechts­pflicht ist die, ande­re nicht zu ver­let­zen. Selbst­ver­ständ­lich muß dafür zunächst fest­ge­setzt wer­den, wer ein »ande­rer« in die­sem Sinn ist und was ihm als das Sei­ne zusteht. Das ist nicht in allen Kul­tu­ren das­sel­be. Über­ein­stim­mend ist jedoch, daß es letzt­lich um eine Unter­las­sungs­pflicht geht. Sie for­dert nicht zu einem posi­ti­ven Tun auf, son­dern ver­pflich­tet dazu, etwas Bestimm­tes nicht zu tun, näm­lich die Ver­let­zung eines ande­ren zu unterlassen.

Wo eine altru­is­ti­sche Sozi­al­mo­ral Ein­gang in das Recht gefun­den hat, kann die­ses aller­dings auch die Pflicht sta­tu­ie­ren, ande­re posi­tiv zu unter­stüt­zen. Dann wird ein Rechts­zwang zur täti­gen Nächs­ten­lie­be instal­liert, unge­ach­tet, ob der Ver­pflich­te­te dies bil­ligt oder nicht. Nor­ma­ler­wei­se wer­den sol­che Pflich­ten auf Geld­zah­lun­gen redu­ziert und mit ande­ren Zah­lun­gen unun­ter­scheid­bar ver­mischt, womit sich ihr eigent­li­cher Zweck dem Blick ent­zieht. Der moder­ne Sozi­al­staat ist ein Umver­tei­lungs­staat, der von den Ver­mö­gen­den nimmt und den Bedürf­ti­gen gibt. Wer wen wofür unter­stützt, ist dabei ein schwer durch­dring­li­ches Geheim­nis. Wer sich nicht auf eige­ne Faust infor­miert, erfährt hier­von wenig, weil er es im All­tag nicht mit den Bedürf­ti­gen selbst, son­dern allein mit dem Staat zu tun hat, der alle Steu­ern ohne Zweck­bin­dung erhebt.

Rein theo­re­tisch könn­te man sich eine Rechts­ord­nung vor­stel­len, die nur Pflich­ten, aber kei­ne sub­jek­ti­ven Rech­te kennt. In die­sem Fall müß­ten öffent­li­che Funk­ti­ons­trä­ger dafür sor­gen, daß alle Bür­ger ihren Rechts­pflich­ten nach­kom­men. Dies wäre jedoch sehr umständ­lich. Mit gutem Grund ken­nen daher alle Rechts­ord­nun­gen nicht nur Rechts­pflich­ten, son­dern auch sub­jek­ti­ve Rech­te der­je­ni­gen, die von sol­chen Pflich­ten begüns­tigt wer­den. Wer ein der­ar­ti­ges Recht inne­hat, kann auf die Erfül­lung der kor­re­spon­die­ren­den Pflicht selbst­tä­tig hin­wir­ken. Hat er von einem ande­ren eine Beein­träch­ti­gung zu befürch­ten, muß er also nicht eine Behör­de bit­ten, ihm bei­zu­ste­hen, son­dern kann den ande­ren auf Unter­las­sung ver­kla­gen. Ist die Beein­träch­ti­gung bereits erfolgt, kann er Scha­dens­er­satz fordern.

Spe­zi­ell bei den sozia­len Unter­stüt­zungs­pflich­ten ist die Sache jedoch anders orga­ni­siert. Zwar sind im moder­nen Recht auch Sozi­al­hil­fe­an­sprü­che klag­bar. Aber die Kla­ge ist nicht gegen die­je­ni­gen zu rich­ten, die letzt­lich dafür auf­kom­men müs­sen – die Steu­er­zah­ler näm­lich –, son­dern gegen den Staat bzw. die zustän­di­ge Kör­per­schaft. Dadurch kommt es zu einem ver­deck­ten »Geg­ner­tausch«: An die Stel­le der tat­säch­lich Belas­te­ten tritt der Staat. Auf die­se Wei­se kann der Bür­ger dazu gezwun­gen wer­den, für Leu­te auf­zu­kom­men, die er weder kennt noch schätzt. Mit­tels des sub­jek­ti­ven Rechts auf Asyl kön­nen sich Frem­de Zutritt zu dem Land und den dort vor­ge­se­he­nen Leis­tun­gen ver­schaf­fen, die sich nicht im gerings­ten assi­mi­lie­ren wol­len. Wer mora­lisch nicht bereit ist, unbe­kann­te Zuwan­de­rer unter sein Dach auf­zu­neh­men, muß auf der recht­li­chen Ebe­ne den­noch mit der poli­zei­li­chen Beschlag­nah­me über­schüs­si­gen Wohn­raums für eben die­sen Zweck rech­nen usw.

V. Poli­ti­sie­rung des Rechts

Bis zum Beginn des 19. Jahr­hun­derts war das Recht ein von der Poli­tik weit­ge­hend unab­hän­gi­ger Bereich. In der Fol­ge wur­de es zuneh­mend als ein Mit­tel zur poli­ti­schen Gestal­tung der Gesell­schaft ent­deckt. Die­ser Pro­zeß fiel zusam­men mit der soge­nann­ten Posi­ti­vie­rung des Rechts. Damit ist gemeint, daß man dem Recht immer weni­ger eine eige­ne Exis­tenz zuschrieb und sein Wesen viel­mehr dar­in erblick­te, staat­li­che Vor­schrift und nichts sonst zu sein, was auch immer der obrig­keit­li­che Ver­hal­tens­be­fehl zum Inhalt hat­te. Im Rück­blick war die damit ein­her­ge­hen­de Instru­men­ta­li­sie­rung des Rechts die Vor­aus­set­zung dafür, vie­le Moder­ni­sie­rungs­pro­zes­se unter staat­li­cher Regie durch­füh­ren zu kön­nen. Man brauch­te nicht mehr zu war­ten, bis die Ein­sicht der meis­ten dazu gereift war; man brauch­te die gewünsch­ten Ver­hal­tens­wei­sen nur anzu­ord­nen und zwangs­wei­se durch­zu­set­zen. Auch die Umge­stal­tung des Rechts­staats zum Sozi­al­staat war nur auf die­sem Weg mög­lich. Anstatt wie ehe­dem auf die mora­lisch moti­vier­te Wohl­tä­tig­keit Pri­va­ter zu ver­trau­en, wur­de das Recht in immer grö­ße­rem Sti­le dazu ein­ge­setzt, eine mora­lisch legi­ti­mier­te Zwangs­ord­nung zu errich­ten. Das Mit­tel dafür war die steu­er­lich nan­zier­te Errich­tung von Insti­tu­tio­nen, wel­che die frü­he­re Gesell­schaft so nicht gekannt hatte.

Mit der Poli­ti­sie­rung des Rechts war aber noch etwas ver­bun­den: Poli­ti­kern ist die Rück­sicht­nah­me auf die Frei­heit des Bür­gers von Haus aus fremd. Men­schen bil­den für sie meist nur das Mit­tel für über­ge­ord­ne­te Zwe­cke. Es bedarf gro­ßer Anstren­gun­gen, den Hobbes’schen Levia­than zu zäh­men und in ein rechts­staat­li­ches Gemein­we­sen zu ver­wan­deln. Zum Nach­teil der Demo­kra­tie sind nur weni­ge Bür­ger in der Lage, das fili­gra­ne Räder­werk zu ver­ste­hen, auf dem eine rechts­staat­li­che Demo­kra­tie beruht. Die Sozi­al­mo­ral, die von vorn­her­ein auf ihren Hori­zont zuge­schnit­ten ist, ver­ste­hen sie ungleich bes­ser. Daher ist es in der Demo­kra­tie eine geläu­fi­ge Erschei­nung, daß Poli­ti­ker pri­mär an die­se Sozi­al­mo­ral appel­lie­ren. Das hat zwei Kon­se­quen­zen. Ein­mal wird dadurch die Poli­tik mora­lisch auf­ge­la­den. Sodann aber nimmt auch das von der Poli­tik erzeug­te Recht einen mora­li­schen Cha­rak­ter an. Die ein­gangs beschrie­be­ne Tren­nung von Recht und Moral löst sich dabei auf, der sozia­le Rechts­staat ver­liert sein rechts­staat­li­ches Pro­fil und nimmt statt­des­sen ein mora­li­sches an. Was man ein­mal indi­vi­du­el­le Frei­heit nann­te, macht dem kol­lek­ti­ven Bewußt­sein Platz, auf der rich­ti­gen Sei­te zu ste­hen und die ande­ren, die sich auf der fal­schen befin­den, mit der Här­te des Geset­zes zu treffen.

VI. Erzie­hung und Umer­zie­hung als Staatsziel

Rich­ten wir den Blick auf das gegen­wär­ti­ge Zusam­men­spiel der skiz­zier­ten Steue­rungs­sys­te­me, so zeigt sich fol­gen­des: Eben­so wie der Main­stream in Fra­gen der per­sön­li­chen Lebens­ge­stal­tung ist die Moral der meis­ten heu­te indi­vi­dua­lis­tisch geprägt. Das per­sön­li­che Stre­ben gilt dem eige­nen Wohl­erge­hen und Wei­ter­kom­men ohne Rück­sicht auf frem­de Inter­es­sen. Bezugs­sys­te­me wie Ehe, Fami­lie, Nati­on und Reli­gi­on ver­lie­ren zuse­hends ihre Anzie­hungs- und Prägekraft.

Schein­bar unbe­rührt hier­von domi­niert in Tei­len der Öffent­lich­keit eine altru­is­ti­sche Sozi­al­mo­ral, der zufol­ge man sein Herz für alle Bedrück­ten und Bela­de­nen öff­nen muß, die der Zufall gera­de in den Fokus rückt. Ange­facht durch Poli­tik und Medi­en, hat sich in Deutsch­land eine nie dage­we­se­ne Hilfs- und Auf­nah­me­be­reit­schaft ent­wi­ckelt. Wie bei der Sozi­al­mo­ral häu­fig, wer­den jedoch For­de­run­gen auf­ge­stellt, die vor­wie­gend von ande­ren ein­ge­löst wer­den sol­len und derent­we­gen man selbst kei­ne gro­ßen Opfer brin­gen muß, dies jeden­falls dann nicht, wenn man sich als Ange­hö­ri­ger pri­vi­le­gier­ter Schich­ten den Fol­gen unschwer ent­zie­hen kann. Wer über das nöti­ge Ver­mö­gen ver­fügt, kann sich ohne wei­te­res Häu­ser in »ruhi­gen« Wohn­ge­gen­den leis­ten, sei­ne Kin­der in »aus­län­der­freie« Schu­len schi­cken, kann »geho­be­nen« Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen unter Sei­nes­glei­chen nach­ge­hen, kurz: sich in eine eige­ne Welt zurück­zie­hen, in der er von dem, was er mit sei­nen For­de­run­gen aus­ge­löst hat, nichts spürt. Die unter­schied­li­che Struk­tur von Moral und Sozi­al­mo­ral macht es mög­lich, daß von der »Gesell­schaft« Altru­is­mus gefor­dert wird, wäh­rend man selbst auf dem »Ego-Trip« bleibt. Wer aller­dings auf­grund sei­ner per­sön­li­chen Moral der domi­nie­ren­den Sozi­al­mo­ral offen wider­spricht, muß sich auf ein Spieß­ru­ten­lau­fen gefaßt machen.

Das säku­la­re Recht hat im Lau­fe der Zeit nicht nur eine Viel­zahl sozi­al­mo­ra­li­scher For­de­run­gen in sich auf­ge­nom­men, es ist auch dazu über­ge­gan­gen, die Moral des Bür­gers wie in vor­mo­der­nen Zei­ten zu steu­ern und die­sen über das außer­recht­lich rich­ti­ge Ver­hal­ten zu beleh­ren. Das Mit­tel hier­zu sind recht­li­che Ver­güns­ti­gun­gen für gewünsch­te Ver­hal­tens­wei­sen und die Ein­fluß­nah­me auf den staats­ei­ge­nen, mitt­ler­wei­le die gan­ze Gesell­schaft umspan­nen­den per­so­nel­len Appa­rat. Mag man es noch für Zufall hal­ten, daß die früh­zei­ti­ge Tren­nung der Kin­der von ihren Eltern und ihre außer­häus­li­che Erzie­hung mit hohem Auf­wand geför­dert wird – die Lehr­plä­ne der Schu­len, die Aus­rich­tung der Hoch­schu­len an den Erzie­hungs­zie­len der poli­ti­schen Füh­rung, die Sank­tio­nie­rung poli­tisch unkor­rek­ten Ver­hal­tens, die Kri­mi­na­li­sie­rung uner­wünsch­ter Äuße­run­gen spre­chen eine deut­li­che Spra­che: das Recht ist wie­der zum Erzie­hungs­mit­tel gewor­den, auch im Ver­hält­nis zu Erwachsenen.

Die Poli­tik, die für die­se »Ent­mo­der­ni­sie­rung« ver­ant­wort­lich ist, argu­men­tiert dabei nicht offen, son­dern ver­legt sich dar­auf, »Zei­chen zu set­zen« und ver­steck­te Anschü­be zu geben. Sie setzt sozi­al­mo­ra­lisch hys­te­ri­sier­te Mas­sen im eige­nen Inter­es­se auf jede auf­kei­men­de Oppo­si­ti­on an. Bis hin­auf in die höchs­ten Regie­rungs­äm­ter ist die mora­li­sche Dif­fa­mie­rung Anders­den­ken­der zum Mit­tel der Poli­tik gewor­den. Zusam­men mit den weit­ge­hend gleich­ge­schal­te­ten Medi­en arbei­tet die deut­sche Poli­tik wie seit Hit­ler und Hon­ecker nicht mehr an der Umer­zie­hung der gesam­ten Gesellschaft.

Das moder­ne Recht war an sich dazu gedacht, dem Staat eine ratio­na­le Ord­nung zu ver­schaf­fen. Mitt­ler­wei­le ebnet es wie­der­um einem mode­ra­ten Tugend­ter­ror den Weg. Vie­le Bür­ger spü­ren durch­aus, daß rechts­staat­li­che Errun­gen­schaf­ten auf dem Altar von Inter­es­sen geop­fert wer­den, die mit dem Rechts­staat wenig zu tun haben. Mit recht­li­chen Zusam­men­hän­gen wenig ver­traut, tun sie sich jedoch schwer, die­ses Gefühl in eine begriff­li­che Form zu brin­gen. Sie soll­ten sich mit ihrer Erkennt­nis beei­len. Denn wer in der Demo­kra­tie schläft, wacht in der Dik­ta­tur auf.

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