I. Moral, Sozialmoral, Recht und Politik
Die Ausdifferenzierung von Recht und Moral, also von »äußerer« und »innerer« Verhaltensregulierung, gehört zu den Errungenschaften des modernen Staates. Sie ist historisch ein Nebenprodukt der Trennung von Recht und Religion; denn traditionell beruht unsere Moral auf der Religion im weitesten Sinn dieses Wortes. Die Säkularisierung des Rechts zog daher zugleich die prinzipielle Unterscheidung von Recht und Moral nach sich.
Dies wird meist als ein Prozeß der Befreiung verstanden, weil dadurch die Moral dem Rechtszwang entzogen wurde. Eine allzu enge Verbindung beider ist, wie die Erfahrung lehrt, der Freiheit nicht förderlich. Ebenso wie die Religion ist auch die Moral darauf angelegt, grundsätzlich alle Bereiche des menschlichen Lebens zu erfassen. Ein von der Moral her konzipiertes Recht stellt daher tendenziell alle Verhaltensäußerungen unter Rechtszwang. Im Unterschied dazu verfolgt ein Recht, das sich von religiöser Bevormundung gelöst hat, beschränkte Zwecke. Seine wesentlichen Aufgaben sind die Errichtung und Erhaltung einer politischen Ordnung, der Schutz ausgewählter Individualgüter und die Regulierung von Verhaltensweisen, die für das Funktionieren der jeweiligen Gesellschaft von essentieller Bedeutung sind. Dabei muß ein säkulares Recht keineswegs in einen Widerspruch zur Moral geraten. Einen durchgehenden Widerspruch könnte auf Dauer ohnehin keine Gesellschaft ertragen. Was das Recht verordnet, ist daher häufig auch moralisch geboten: z.B. andere nicht grundlos zu verletzen, Verträge zu erfüllen, sich an die allgemeine Ordnung zu halten. Anders als die Moral läßt das profane Recht den Bürgern jedoch einen Freiraum, in dem sie sich an anderen Maßstäben orientieren können. Hier kann jeder nach seiner persönlichen Auffassung handeln und versuchen, »nach seiner façon« glücklich zu werden.
Ihrer Funktion nach stellen Recht und Moral unterschiedliche Systeme der Verhaltenssteuerung dar: In der Moral geht es um die Steuerung des Handelnden ausschließlich durch ihn selbst nach Maßgabe seiner eigenen Überzeugung; demgegenüber läßt das Recht auch eine Steuerung von außen zu und kann daher auch gegen die Überzeugung des Betreffenden durchgesetzt werden. Vordergründig betrachtet ist die individuelle Freiheit umso größer, je kleiner der Raum ist, den das Recht für sich in Anspruch nimmt. Umso ausgedehnter ist nämlich der Bereich, der von rechtlichem Zwang frei bleibt.
Freilich sind Recht und Moral in der Realität nicht in der Weise getrennt, wie es das Denkmodell einer liberalen Gesellschaft suggeriert. Auch in der Epoche, die der Aufklärung folgte, gab es Versuche, das Recht in den Dienst moralischer Lehren zu stellen – nicht nur in Diktaturen, auch in Demokratien. Dafür liefert unter anderem die Gegenwart ein anschauliches Beispiel. Die deutsche Politik ist derzeit moralisch aufgeladen wie in Zeiten, die man längst überwunden glaubte, und das Recht bleibt davon nicht unberührt. Was nottut, ist daher, das Zusammenspiel der verschiedenen Systeme sozialer Steuerung zu erfassen, um zu erkennen, was anders geworden ist, als es der Theorie des demokratischen Rechtsstaats entspricht.
Für diesen Zweck lege ich einige Termini zugrunde, die über die Dichotomie von Recht und Moral hinausreichen:
- Moral = Steuerung des Handelnden durch sich selbst,
- Sozialmoral = Steuerung anderer durch »Moralisieren« und Belehren,
- Recht = Steuerung anderer durch organisierten Zwang,
- Politik = Steuerung anderer durch Rechtsetzung und Verwaltungshandeln.
Diese Begriffe sind auf die folgenden Überlegungen abgestimmt. Losgelöst hiervon könnte man etwa den Begriff der »Politik« auch anders be- stimmen.
II. Selbststeuerung durch moralische Selbstbestimmung
Die Ethik der Alten war durch die Vorstellung einer objektiven Ordnung des Kosmos bestimmt, in die sich der Einzelne einzufügen hatte. Die richtige Lebensführung bestand darin, seine vorgegebene Aufgabe zu erkennen und zu erfüllen. Dagegen findet der moderne Mensch seine Heimat nicht in dem, was ist, sondern in dem, was er nach eigenen Vorstellungen selbsttätig hervorbringt. Diesem individualistischen Selbstverständnis entspricht eine subjektive Moral. Geboten ist danach nicht das, was uns als »Forderung des Tages« entgegentritt, sondern was wir aufgrund unserer eigenen Überzeugung zur Richtschnur unseres Verhaltens machen. Nur ein – autonomes – Handeln gemäß unserer subjektiven Überzeugung nennen wir moralisch, woher diese Überzeugung auch gekommen sein mag.
Der Inhalt dieser subjektiven Moral kann sehr verschieden sein. In traditionsverhafteten Gesellschaften geht es in der Regel um das Wohlergehen des Handelnden selbst und einer überschaubaren Bezugsgruppe. Die Moral kann aber auch einen altruistischen Charakter annehmen und dabei eine Weltgesellschaft anpeilen, in der es weder Ethnien noch Staaten, sondern nur Menschen als solche gibt. So etwa bei Immanuel Kant.
Wenn der kategorische Imperativ dazu auffordert, jeden Menschen als Selbstzweck zu behandeln, wird von allen Unterschieden, seien sie natürlicher oder historisch-kultureller Art, abgesehen. Nur das abstrakte Menschsein soll entscheiden. Die Moral des kategorischen Imperativs ist daher, ebenso wie die des Christentums, eine universalistische Menschheitsmoral.
Dem einzelnen sind bei der Verfolgung seiner moralischen Grundsätze keine internen Grenzen gesetzt. Er kann sein Leben der Versorgung von Kranken widmen, Notleidende bis zur Selbstaufgabe unterstützen, Obdachlose bei sich aufnehmen usw. Aber auch wo die Moral sich universalistisch gibt, ist sie in praktischer Hinsicht meist eine »Nahbereichsmoral«, weil jeder primär für sich und die ihm Nahestehenden sorgt und nicht daran denkt, diese hinter »Fernstehenden« zurückzusetzen.
III. Weisung zur Selbststeuerung
Eine andere Ebene wird eröffnet, wo moralische Grundsätze, die man subjektiv für richtig hält, als objektive Regeln deklariert werden, die für alle gelten sollen. Die Argumentation lautet dabei im Prinzip wie folgt: Es ist nach meiner Auffassung richtig, sich so und so zu verhalten – also verhaltet euch dementsprechend! Die Moral hört dabei auf, Produkt eines sich selbst steuernden Subjekts zu sein, und wird zu einer Vorschrift für andere. Soweit der jeweils Handelnde diese Sozialmoral in seine Überzeugung aufgenommen hat, ergibt sich aus seiner Sicht kein Unterschied, glaubt er doch, sich zugleich nach seiner Individualmoral zu verhalten. Das ist insofern richtig, als unsere Überzeugungen die unseren sind, ganz gleich, wie wir dazu gekommen sind. Von Bedeutung ist ihre Herkunft nur aus Sicht dessen, der uns eine solche Überzeugung vermittelt hat. Denn er hat uns damit nach seinen Vorstellungen gesteuert.
Wer moralische Forderungen propagiert, wird sich meist auch selbst danach richten. Aber es geht auch anders. Hat eine bestimmte Sozialmoral Fuß gefaßt, kann sie auch von Menschen und Institutionen verkündet werden, die offen dagegen verstoßen. Insofern verfügt die Sozialmoral über eine Eigengesetzlichkeit: einmal verstanden und akzeptiert, braucht sie keinen glaubwürdigen Verkünder mehr. Vielmehr kann jeder gegenüber jedem die bekannten sozialmoralischen Forderungen erheben und ihn dadurch in Zugzwang versetzen. Auch wer diesen Maßstäben selbst nicht entsprechen mag, kann so doch zur Entstehung eines sozialen Drucks beitragen, sich der gebilligten Moral zu fügen. So kann etwa auch derjenige dazu auffordern, die Bedürftigen zu unterstützen, der selbst gar nicht daran denkt, von seinem Wohlstand etwas abzugeben.
In traditionellen Gesellschaften wirkt die Sozialmoral überwiegend dahin, die Menschen dauerhaft auf bestimmte Verhaltensweisen festzulegen. Sie kann jedoch auch die Funktion übernehmen, die bestehenden Verhältnisse von Grund auf umzugestalten. Dazu bedarf es freilich zentraler Instanzen, welche das überkommene Denken gezielt beeinflussen können. Im Mittelalter waren dies die Kirchen, vom Beginn der Neuzeit an zusätzlich die Regierungen, Schulen und Universitäten, heute außerdem die Medien und die Institutionen frühkindlicher Erziehung – kurz, alle Einrichtungen, die einen gezielten Einfluß auf eine Vielzahl von bildungsfähigen Menschen ausüben.
In vielen visionären Sozialutopien, in denen es um die Schaffung eines neuen Menschen geht, hat man dies erkannt. Man setzte daher nicht auf die Familie, sondern auf die staatlich organisierte außerhäusliche Erziehung. Im Verband mit anderen und geleitet durch professionelle Erzieher sollte die heranwachsende Generation auf die »richtige« Moral eingestellt und auf das gewünschte Denken ausgerichtet werden. Nach gelungener Sozialisation würden sich die Zöglinge später aus eigener Überzeugung so verhalten, wie man es höheren Orts für richtig hielt. Nur in den negativen, »schwarzen« Utopien wurde das Bild von einer anderen Seite gezeigt und dargelegt, wie sehr es bei all dem um die Einübung einer neuen Unfreiheit bei gleichzeitigem Bewußtsein, frei zu sein, geht.
IV. Zwangspflichten und Zwangsrechte
Der von der Sozialmoral ausgehende Anstoß ist normalerweise nicht organisiert. Wo der Druck, sich bestimmten Normen gemäß zu verhalten, dagegen so geregelt ist, daß vorbestimmte Sanktionen mit ziemlicher Gewißheit eintreten, wird die informelle sozialmoralische Pflicht zur Rechtspflicht. Damit kann man das Verhalten anderer gezielter steuern.
Die primäre Rechtspflicht ist die, andere nicht zu verletzen. Selbstverständlich muß dafür zunächst festgesetzt werden, wer ein »anderer« in diesem Sinn ist und was ihm als das Seine zusteht. Das ist nicht in allen Kulturen dasselbe. Übereinstimmend ist jedoch, daß es letztlich um eine Unterlassungspflicht geht. Sie fordert nicht zu einem positiven Tun auf, sondern verpflichtet dazu, etwas Bestimmtes nicht zu tun, nämlich die Verletzung eines anderen zu unterlassen.
Wo eine altruistische Sozialmoral Eingang in das Recht gefunden hat, kann dieses allerdings auch die Pflicht statuieren, andere positiv zu unterstützen. Dann wird ein Rechtszwang zur tätigen Nächstenliebe installiert, ungeachtet, ob der Verpflichtete dies billigt oder nicht. Normalerweise werden solche Pflichten auf Geldzahlungen reduziert und mit anderen Zahlungen ununterscheidbar vermischt, womit sich ihr eigentlicher Zweck dem Blick entzieht. Der moderne Sozialstaat ist ein Umverteilungsstaat, der von den Vermögenden nimmt und den Bedürftigen gibt. Wer wen wofür unterstützt, ist dabei ein schwer durchdringliches Geheimnis. Wer sich nicht auf eigene Faust informiert, erfährt hiervon wenig, weil er es im Alltag nicht mit den Bedürftigen selbst, sondern allein mit dem Staat zu tun hat, der alle Steuern ohne Zweckbindung erhebt.
Rein theoretisch könnte man sich eine Rechtsordnung vorstellen, die nur Pflichten, aber keine subjektiven Rechte kennt. In diesem Fall müßten öffentliche Funktionsträger dafür sorgen, daß alle Bürger ihren Rechtspflichten nachkommen. Dies wäre jedoch sehr umständlich. Mit gutem Grund kennen daher alle Rechtsordnungen nicht nur Rechtspflichten, sondern auch subjektive Rechte derjenigen, die von solchen Pflichten begünstigt werden. Wer ein derartiges Recht innehat, kann auf die Erfüllung der korrespondierenden Pflicht selbsttätig hinwirken. Hat er von einem anderen eine Beeinträchtigung zu befürchten, muß er also nicht eine Behörde bitten, ihm beizustehen, sondern kann den anderen auf Unterlassung verklagen. Ist die Beeinträchtigung bereits erfolgt, kann er Schadensersatz fordern.
Speziell bei den sozialen Unterstützungspflichten ist die Sache jedoch anders organisiert. Zwar sind im modernen Recht auch Sozialhilfeansprüche klagbar. Aber die Klage ist nicht gegen diejenigen zu richten, die letztlich dafür aufkommen müssen – die Steuerzahler nämlich –, sondern gegen den Staat bzw. die zuständige Körperschaft. Dadurch kommt es zu einem verdeckten »Gegnertausch«: An die Stelle der tatsächlich Belasteten tritt der Staat. Auf diese Weise kann der Bürger dazu gezwungen werden, für Leute aufzukommen, die er weder kennt noch schätzt. Mittels des subjektiven Rechts auf Asyl können sich Fremde Zutritt zu dem Land und den dort vorgesehenen Leistungen verschaffen, die sich nicht im geringsten assimilieren wollen. Wer moralisch nicht bereit ist, unbekannte Zuwanderer unter sein Dach aufzunehmen, muß auf der rechtlichen Ebene dennoch mit der polizeilichen Beschlagnahme überschüssigen Wohnraums für eben diesen Zweck rechnen usw.
V. Politisierung des Rechts
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war das Recht ein von der Politik weitgehend unabhängiger Bereich. In der Folge wurde es zunehmend als ein Mittel zur politischen Gestaltung der Gesellschaft entdeckt. Dieser Prozeß fiel zusammen mit der sogenannten Positivierung des Rechts. Damit ist gemeint, daß man dem Recht immer weniger eine eigene Existenz zuschrieb und sein Wesen vielmehr darin erblickte, staatliche Vorschrift und nichts sonst zu sein, was auch immer der obrigkeitliche Verhaltensbefehl zum Inhalt hatte. Im Rückblick war die damit einhergehende Instrumentalisierung des Rechts die Voraussetzung dafür, viele Modernisierungsprozesse unter staatlicher Regie durchführen zu können. Man brauchte nicht mehr zu warten, bis die Einsicht der meisten dazu gereift war; man brauchte die gewünschten Verhaltensweisen nur anzuordnen und zwangsweise durchzusetzen. Auch die Umgestaltung des Rechtsstaats zum Sozialstaat war nur auf diesem Weg möglich. Anstatt wie ehedem auf die moralisch motivierte Wohltätigkeit Privater zu vertrauen, wurde das Recht in immer größerem Stile dazu eingesetzt, eine moralisch legitimierte Zwangsordnung zu errichten. Das Mittel dafür war die steuerlich nanzierte Errichtung von Institutionen, welche die frühere Gesellschaft so nicht gekannt hatte.
Mit der Politisierung des Rechts war aber noch etwas verbunden: Politikern ist die Rücksichtnahme auf die Freiheit des Bürgers von Haus aus fremd. Menschen bilden für sie meist nur das Mittel für übergeordnete Zwecke. Es bedarf großer Anstrengungen, den Hobbes’schen Leviathan zu zähmen und in ein rechtsstaatliches Gemeinwesen zu verwandeln. Zum Nachteil der Demokratie sind nur wenige Bürger in der Lage, das filigrane Räderwerk zu verstehen, auf dem eine rechtsstaatliche Demokratie beruht. Die Sozialmoral, die von vornherein auf ihren Horizont zugeschnitten ist, verstehen sie ungleich besser. Daher ist es in der Demokratie eine geläufige Erscheinung, daß Politiker primär an diese Sozialmoral appellieren. Das hat zwei Konsequenzen. Einmal wird dadurch die Politik moralisch aufgeladen. Sodann aber nimmt auch das von der Politik erzeugte Recht einen moralischen Charakter an. Die eingangs beschriebene Trennung von Recht und Moral löst sich dabei auf, der soziale Rechtsstaat verliert sein rechtsstaatliches Profil und nimmt stattdessen ein moralisches an. Was man einmal individuelle Freiheit nannte, macht dem kollektiven Bewußtsein Platz, auf der richtigen Seite zu stehen und die anderen, die sich auf der falschen befinden, mit der Härte des Gesetzes zu treffen.
VI. Erziehung und Umerziehung als Staatsziel
Richten wir den Blick auf das gegenwärtige Zusammenspiel der skizzierten Steuerungssysteme, so zeigt sich folgendes: Ebenso wie der Mainstream in Fragen der persönlichen Lebensgestaltung ist die Moral der meisten heute individualistisch geprägt. Das persönliche Streben gilt dem eigenen Wohlergehen und Weiterkommen ohne Rücksicht auf fremde Interessen. Bezugssysteme wie Ehe, Familie, Nation und Religion verlieren zusehends ihre Anziehungs- und Prägekraft.
Scheinbar unberührt hiervon dominiert in Teilen der Öffentlichkeit eine altruistische Sozialmoral, der zufolge man sein Herz für alle Bedrückten und Beladenen öffnen muß, die der Zufall gerade in den Fokus rückt. Angefacht durch Politik und Medien, hat sich in Deutschland eine nie dagewesene Hilfs- und Aufnahmebereitschaft entwickelt. Wie bei der Sozialmoral häufig, werden jedoch Forderungen aufgestellt, die vorwiegend von anderen eingelöst werden sollen und derentwegen man selbst keine großen Opfer bringen muß, dies jedenfalls dann nicht, wenn man sich als Angehöriger privilegierter Schichten den Folgen unschwer entziehen kann. Wer über das nötige Vermögen verfügt, kann sich ohne weiteres Häuser in »ruhigen« Wohngegenden leisten, seine Kinder in »ausländerfreie« Schulen schicken, kann »gehobenen« Freizeitbeschäftigungen unter Seinesgleichen nachgehen, kurz: sich in eine eigene Welt zurückziehen, in der er von dem, was er mit seinen Forderungen ausgelöst hat, nichts spürt. Die unterschiedliche Struktur von Moral und Sozialmoral macht es möglich, daß von der »Gesellschaft« Altruismus gefordert wird, während man selbst auf dem »Ego-Trip« bleibt. Wer allerdings aufgrund seiner persönlichen Moral der dominierenden Sozialmoral offen widerspricht, muß sich auf ein Spießrutenlaufen gefaßt machen.
Das säkulare Recht hat im Laufe der Zeit nicht nur eine Vielzahl sozialmoralischer Forderungen in sich aufgenommen, es ist auch dazu übergegangen, die Moral des Bürgers wie in vormodernen Zeiten zu steuern und diesen über das außerrechtlich richtige Verhalten zu belehren. Das Mittel hierzu sind rechtliche Vergünstigungen für gewünschte Verhaltensweisen und die Einflußnahme auf den staatseigenen, mittlerweile die ganze Gesellschaft umspannenden personellen Apparat. Mag man es noch für Zufall halten, daß die frühzeitige Trennung der Kinder von ihren Eltern und ihre außerhäusliche Erziehung mit hohem Aufwand gefördert wird – die Lehrpläne der Schulen, die Ausrichtung der Hochschulen an den Erziehungszielen der politischen Führung, die Sanktionierung politisch unkorrekten Verhaltens, die Kriminalisierung unerwünschter Äußerungen sprechen eine deutliche Sprache: das Recht ist wieder zum Erziehungsmittel geworden, auch im Verhältnis zu Erwachsenen.
Die Politik, die für diese »Entmodernisierung« verantwortlich ist, argumentiert dabei nicht offen, sondern verlegt sich darauf, »Zeichen zu setzen« und versteckte Anschübe zu geben. Sie setzt sozialmoralisch hysterisierte Massen im eigenen Interesse auf jede aufkeimende Opposition an. Bis hinauf in die höchsten Regierungsämter ist die moralische Diffamierung Andersdenkender zum Mittel der Politik geworden. Zusammen mit den weitgehend gleichgeschalteten Medien arbeitet die deutsche Politik wie seit Hitler und Honecker nicht mehr an der Umerziehung der gesamten Gesellschaft.
Das moderne Recht war an sich dazu gedacht, dem Staat eine rationale Ordnung zu verschaffen. Mittlerweile ebnet es wiederum einem moderaten Tugendterror den Weg. Viele Bürger spüren durchaus, daß rechtsstaatliche Errungenschaften auf dem Altar von Interessen geopfert werden, die mit dem Rechtsstaat wenig zu tun haben. Mit rechtlichen Zusammenhängen wenig vertraut, tun sie sich jedoch schwer, dieses Gefühl in eine begriffliche Form zu bringen. Sie sollten sich mit ihrer Erkenntnis beeilen. Denn wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.