Als »moralischer Warmblüter« sei der Mensch »auf die Aufrechterhaltung eines gewissen internen Selbstachtungsniveaus angewiesen«, schreibt Peter Sloterdijk in seinem Buch Zorn und Zeit, was nichts anderes heißt, als daß der Mensch »einen angeborenen Sinn für Würde und Gerechtigkeit« hat. Trägt das Gemeinweisen, in dem er sich bewegt, diesen »Intuitionen«, wie sie Sloterdijk nennt, nicht Rechnung, entstehe eine Tendenz zur Loslösung, die in entschlossenen Widerstand münden kann.
Dieser Widerstand muß nicht immer die Perspektive vor Augen haben, daß ein Umsturz der Verhältnisse möglich sei oder irgendwann der kairós – der passende Moment, um aktiv zu werden – eintreten werde, der den Dingen eine andere Richtung gibt. Es gibt auch hinreichend Beispiele dafür, daß Widerstand als Ausdruck des »angeborenen Sinns für Würde und Gerechtigkeit« auch dann geleistet wurde, wenn es kaum oder keinerlei Erfolgsaussichten gab und das eigene Widerstehen nur mehr symbolischen Charakter hatte. Dafür mag Henning von Tresckows vielzitierte Einlassung im Sommer 1944 stehen, als er betonte, das Attentat gegen Hitler müsse »um jeden Preis erfolgen«; es komme »nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat«. Tresckow war sich bewußt, daß der richtige Zeitpunkt für eine grundstürzende Änderung der Verhältnisse bereits verstrichen war und daß jeder, der zum Verschwörerkreis um Stauffenberg gehörte, das »Nessushemd« angezogen hatte. Dieses Empfinden verlangte geradezu nach einer höheren Sinngebung der Tat Stauffenbergs, die Tresckow in folgende Worte faßte: Wie Gott Abraham einst verheißen habe, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, hoffte er, »daß Gott auch Deutschland um unseretwillen nicht vernichten« werde.
Die persönlichen Zeugnisse der Verschwörer um Stauffenberg zeigen, daß es einer besonderen persönlichen Disposition bedarf, um den Wurf zu wagen. Peter Sloterdijk spricht in seinem oben genannten Buch von einer spezifischen Mischung aus »Mannesmut« (andreia) und »gerechtem Zorn«, der nicht nur für die »Abwehr von Beleidigungen und unbilligen Zumutungen« zuständig sei, sondern auch helfe, für Interessen einzutreten. In der griechischen Antike gab es dafür den Begriff thymós, den Sloterdijk in seiner »bürgerlich-gezähmten« Form als »Beherztheit« übersetzt, was nichts anderes als Mut und Tapferkeit, die Fähigkeit zur Selbstbehauptung, bedeutet. »Der thymós des Einzelnen« kann als »Teil einer Feldkraft« gedeutet werden, die dem »gemeinsamen Willen zum Erfolg Form verleiht«.
Es bedurfte wohl dieser besonderen »Feldkräfte«, um zum Beispiel in den antikommunistischen Widerstand im Baltikum oder Rumänien einzutreten, der direkt nach der sowjetischen Besetzung im Jahre 1944 einsetzte. »Waldbrüder« nannte man im Baltikum die Gruppen, die als Partisanen gegen die Besetzung und Sowjetisierung ihrer Länder kämpften. Aus heutiger Sicht mag dieser Widerstand sinn‑, weil von vornherein aussichtslos erscheinen, und doch dauerte er fast ein Jahrzehnt und forderte mindestens 50000 Tote. Aus Sicht der »Waldbrüder« stellte sich aber mit der neuerlichen sowjetischen Besetzung – das Baltikum war ja bereits 1940 ein Ziel der sowjetischen Okkupationspolitik – einmal mehr die Existenzfrage. Zu lebendig war noch die Erinnerung an die Deportationswellen, die erst mit dem Einmarsch der Wehrmacht endeten. Kurz vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion waren in Litauen noch 35000 Bürger, vor allem aus dem Beamtentum und der Intelligenz, aus politischen Gründen lebenslang verbannt worden. Bei Kriegsende befanden sich viele Litauer auf deutschem Boden; sie waren entweder gezwungen worden, im Reich Zwangsarbeit zu leisten, oder vor der Roten Armee geflohen.
Zu den ersten Maßnahmen nach der Machtübernahme der Kommunisten in Litauen gehörte die Einberufung in die Rote Armee. Rund 100000 Männer zwischen 18 und 37 Jahren mußten nun auf sowjetischer Seite gegen Deutschland kämpfen, darunter viele, die vorher in den Reihen der Wehrmacht gestanden hatten. Gerade die Flucht oder die Deportation von Mittelschicht und Intelligenz führten dazu, daß dem Alleinherrschaftsanspruch der kommunistischen Parteien kaum mehr jemand entgegentrat. Dennoch entwickelte sich Widerstand, der sich beispielsweise in Litauen laut der Historikerin Ruth Leiserowitz aus Angehörigen der Litauischen Aktivistenfront, der militärischen Organisation »Keskutis«, Angehörigen der Polizei und der Schutzbataillone der deutschen Besatzungszeit, Soldaten der prodeutschen Plechavicius-Armee und deutschen Soldaten, die sich nicht in Kriegsgefangenschaft begeben wollten, zusammensetzte. Sie alle einte das Vorhaben, die erneute sowjetische Besatzung des Landes mit allen Mitteln zu bekämpfen. Welche Ziele diese Besatzung verfolgte, darüber ließen die Sowjets keine Zweifel aufkommen: Michail Suslow, bis zum Frühjahr 1946 Leiter des litauischen Büros der KPdSU und damit faktischer Herrscher in Litauen, wird von Leiserowitz mit folgenden Worten zitiert: »Litauen wird weiter existieren, aber ohne Litauer, und es wird sowjetisch sein.« Ein Mittel hierfür war eine umfassende Überfremdungspolitik (Russifizierung); Einheimische wurden gezielt aus allen Leitungsfunktionen gedrängt, was bei Esten, Litauern und Letten den Eindruck verfestigte, daß sie in einem besetzten Land lebten.
In Litauen gedieh der bewaffnete Widerstand am erfolgreichsten. Es bildeten sich landesweit Netzwerke. Außerhalb der Städte waren die Sowjets nicht mehr sicher. Es kam nicht nur zu Sabotageakten, auch Parteikader und Personen, die der Partei nahestanden, wurden mit gezielten Mordanschlägen ausgeschaltet. Die Perspektive, die die »Waldbrüder« antrieb, war nicht die Überzeugung, sie könnten die Rote Armee jemals allein aus dem Land drängen, sondern die Hoffnung auf Unterstützung durch die Westalliierten. Wäre ihnen klar gewesen, daß dies wohl zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erwogen wurde, wäre der Zustrom wahrscheinlich wesentlich geringer gewesen. Als sich die Erkenntnis durchzusetzen begann, daß die Westalliierten nichts zugunsten einer Änderung der Lage der baltischen Staaten unternehmen würden, kippte die Stimmung. Ein Spiegel hierfür sind die Tagebücher des »Waldbruders« Lionginas Baliukevicius, Deckname »Dzukas«, die Leiserowitz übersetzt hat. Anläßlich der Moskauer Außenministerkonferenz im Jahre 1947 notierte Dzukas: »Vor uns liegt Ungewißheit und schreckliches Unwissen. Diese angelsächsischen Diplomaten entscheiden in Moskau über Millionen Schicksale. Kaum zu glauben, daß sie an uns denken werden. Sie werden sich höchstwahrscheinlich nicht um uns kümmern.«
Während »Dzukas« daraufhin mehr und mehr in Resignation verfällt, die in den Worten »Was wird aus Litauen, wenn im Moment der Entscheidung keiner mehr da ist, der es wiederherstellen könnte?« gipfelt, tat die Erkenntnis, daß die Lage aussichtslos sei, der thymotischen Energie eines anderen bekannten »Waldbruders«, nämlich des 2010 verstorbenen estnischen Widerstandskämpfers Alfred Käärmann, keinen Abbruch. In seinen Erinnerungen machte er deutlich, was sie bewegte, weiter Widerstand zu leisten, obwohl es keinerlei Aussicht auf Erfolg mehr gab: »Das war die Hoffnung, daß es nicht so schlimm ist, solange man lebt, estnischen Boden unter den Füßen hat und die Waffe in der Hand. Und die Gewißheit, daß die eigene Waffe einen vor den Qualen rettet, sollte man erwischt werden.«
Auch der Widerstand, der sich in Rumänien gegen die sowjetische Besatzung entwickelte, nährte sich eine Zeitlang von der Hoffnung, daß »der Westen« aktiv würde, um eine grundsätzliche Änderung herbeizuführen. Dieser Widerstand verebbte auch nicht, als deutlich wurde, daß die Westalliierten keine Konfrontation mit der Sowjetunion zugunsten Rumäniens wagen würden. Und so lieferten sich die »Partizanii« des rumänischen Untergrundes nach Kriegsende einen zehn Jahre anhaltenden Kleinkrieg mit den »Interventionskommandos« des rumänischen Geheimdienstes Securitate, die keine Gnade kannten und das Gros der Widerstandsgruppen liquidierten.
Der antikommunistische Widerstand in Rumänien ist durch ein besonderes Maß an thymotischer Energie gekennzeichnet, wie der in Kronstadt geborene Schriftsteller Hans Bergel in einem Beitrag deutlich machte. Bergel nennt in diesem Zusammenhang zum Beispiel die »Gruppe Gavrila«, die die Securitate-Einheiten unentwegt in Bewegung hielt: »Dank ihrer ans Fabulöse grenzenden Härte bei extremen Marschleistungen im Hochgebirge und in den Bergwäldern erweckte sie den Eindruck allgegenwärtiger, die Moral der Interventions-Bataillone zermürbender Präsenz.«
Durch ein hohes Maß an Disziplin und Moral schaffte es diese Gruppe, sich den Rückhalt in der Bevölkerung zu sichern. Insbesondere junge Frauen – Ärztinnen, Lehrerinnen, Bäuerinnen –, so hebt der 2006 verstorbene, in Deutschland als »militanter rechtsextremer Aktivist« verfemte Ion Gavrila Ogoranu hervor, riskierten ihr Leben, um seiner Gruppe zu helfen. Vor Augen hatten die »Partizanii« eine Securitate, deren Terror ganze Dörfer »an den Rand der Existenzverzweiflung« trieb. Auch hier steht wieder die Frage im Raum, was diese Widerstandskämpfer, die »gleich Wildtieren« im Hochgebirge leben mußten, die Frost und Schnee trotzten und in Höhlen lebten, dazu brachte, auszuharren, um weiter Widerstand zu leisten. Gavrila Ogoranu, der sich 29 Jahre lang dem Zugriff der Securitate entziehen konnte, formulierte hierfür Gründe, die grundsätzlicher Natur sind: »Solange es Widerstand gab und die Menschen im Land davon wußten, war der Nation noch nicht das moralische Rückgrat gebrochen, durfte sie von sich sagen, daß sie Würde und Selbstachtung noch nicht ganz verloren hatte, denn es gab einige, die sich im Namen aller nicht in die Knie zwingen ließen.«
Dieser Widerstand, der auch nicht kippte, als deutlich wurde, daß deren Aktivisten für den Westen bestenfalls Schach guren für eigene Zwecke waren, hatte für Rumänien indes Konsequenzen, die an die Folgen der Liquidierung großer Teile des konservativen Widerstands gegen Hitler im Nachgang zum 20. Juli 1944 erinnern: Die »moralische Substanz der Nation«, wie Bergel sie nennt, wurde physisch weitgehend vernichtet; sie fehle dem »Land heute an allen Ecken und Enden«. Ihre Auslöschung bedeutete zugleich »die Zerschlagung von Kulturkontinuität«, was den Rumänen erst jetzt bewußt werde.
Dieser »dialektische Umschlag« des Widerstands ist ein Grund dafür, daß sowohl in Deutschland bei Kriegsende als auch in Rumänien nach der »Wende« nur mehr wenige Persönlichkeiten zur Verfügung standen, die sich kraft ihrer Autorität gegen diese Zerschlagung hätten auflehnen und zu Leitfiguren eines anderen Weges hätten werden können.
Im Gegensatz dazu ist der Spanische Bürgerkrieg ein Beispiel geglückter Bewahrung von »Kulturkontinuität« durch entschlossenen Widerstand zum richtigen Zeitpunkt (dem kairós). Hier gelang es falangistisch-faschistischen sowie konservativ-nationalistischen Kräften, die von Deutschland unterstützt wurden, eine von Frankreich und der Sowjetunion geförderte »Volksfront« aus Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten von der Macht fernzuhalten. Die Zweite Republik, die 1931 in Spanien nach dem Verzicht Alfons XIII. auf die Thronrechte ausgerufen worden war, stieß mit ihrer linksbürgerlichen Regierung sowohl seitens der monarchistischen Rechten als auch der radikalen Sozialisten unter dem »spanischen Lenin« Francisco Largo Caballero auf Widerstand. Die Regierungskoalition setzte auf eine Zurückdrängung der Kirche, die Reduzierung der Armee und eine Verkleinerung des Großgrundbesitzes. Die Wahlen von 1936 zeigten, daß sich der linke und der rechtskonservative Block in etwa gleich stark gegenüberstanden und die Mitte faktisch nicht mehr existierte. Aufgrund des Wahlsystems, wohl aber auch durch Wahlfälschungen kam es zu einem Wahlsieg der »Volksfront«, was in der sozialistischen Presse als »proletarische Revolution« gefeiert wurde. Konservative, Nationalisten und Monarchisten befürchteten, daß dem Land durch soziale und separatistische Agitation der Zerfall drohe. Das waren Befürchtungen, für die es triftige Gründe gab, erklärte doch der konservative Parteiführer Gil-Robles, daß seit dem Frühjahr 1936 171 Kirchen niedergebrannt, 269 Morde verübt und über 1000 Personen verletzt worden waren. Spanien drohte unregierbar zu werden, was bei Generälen wie dem auf den Kanaren befehlenden Francisco Franco die Überzeugung wachsen ließ, die politischen Verhältnisse gewaltsam verändern zu müssen. Er avancierte zu einem der geheimen Drahtzieher eines Militärputsches, für den die Ermordung des monarchistischen Politikers José Calvo Sotelo nur mehr den Anlaß bildete. In einem aber verschätzte sich Franco; er hatte sicherlich keinen dreijährigen Bürgerkrieg vor Augen, als er putschte, sondern einen Militärputsch im Stil der pronunciamientos des 19. Jahrhunderts, die darauf hinausliefen, die Regierung abzusetzen und eine konservative Militärregierung einzusetzen. Spanien hatte sich aber seitdem grundlegend verändert; die politische Linke machte rasch klar, daß sie erbitterten Widerstand leisten würde. Die Stalinistin Dolores Ibárruri formulierte hierfür den Leitspruch »¡No pasarán!« (Sie werden nicht durchkommen). Hätten nicht Deutschland und Italien eingegriffen, wäre der Putsch zusammengebrochen. Und dennoch: Der von thymotischer Energie getriebene Franco hatte den Wurf im entscheidenden Moment gewagt, um der »Volksfront« in die Arme zu fallen. Er hatte den Mut, sich an die Spitze der Putschisten zu stellen und war von dem Willen durchdrungen, den Gruppierungen, durch die er das Vaterland bedroht sah, den Weg an die Macht zu versperren.
Die hier angeführten Beispiele Stauffenberg, Franco, Ion Gavrila Ogoranu oder auch das des »Waldbruders« Alfred Käärmann zeigen, welche Bedeutung in einer krisenhaften politischen Situation das entschlossene Hervortreten einzelner hat, die sich zu Identifikationsfiguren des Widerstands machen. Ihr Widerstand ist, um hier an Dominique Venner anzuknüpfen, »ohne die Vorbedingung eines identitären Gedächtnisses« nicht möglich. Venner, der im Mai 2013 aus Protest gegen die politischen Verhältnisse Hand an sich legte, wies in diesem Zusammenhang auch auf die hierfür erforderliche thymotische Energie hin; auf die Notwendigkeit, das »Worte durch Taten bekräftigt« werden müssen, wenn es erforderlich erscheint.
Mit Blick auf die aktuelle Lage in Deutschland – das zunehmend, um noch einmal Hans Bergel zu zitieren, durch die »Ruinierung der Grundpositionen, deren eine Gemeinschaft für die Zukunft bedarf« geprägt ist – wird man festhalten müssen, daß diese Identifikationsfiguren zwar vorhanden sind, aber bisher nur in Einzelfällen mit Taten hervorgetreten sind. Eine außerparlamentarische Bewegung wie zum Beispiel Pegida hat auch deshalb viel von ihren »Feldkräften« verloren, weil ihr diese möglichen Identifikationsfiguren im entscheidenden Zeitpunkt nicht im ausreichenden Maße die notwendige Orientierung gegeben und ihr persönliches Gewicht in die Waagschale geworfen haben. Ein durchaus aussichtsreicher Hebel des Widerstands gegen die Überfremdung Deutschlands droht auch deshalb zu einer Marginalie bundesrepublikanischer Geschichte herabzusinken.