Darauf sind auch einige Leser in ihren Kommentaren eingegangen (vor allem “Gerrit” und “Der Feinsinnige”).
Es ist richtig: Man kann als Partei einen langfristigen Mittelwert von 10 % im Bundesdurchschnitt haben, von vielen belächelt, verspottet und geschmäht werden und trotzdem über Jahrzehnte die Themen setzen und damit den öffentlichen Diskurs bestimmen und in der Folge dann umfassende gesellschaftliche Verwerfungen auslösen.
Das ist den Grünen auf breiter Front gelungen. Dieser Durchmarsch in den Mainstream, diese Eroberung des Common sense wäre jedoch niemals möglich gewesen, wären die Grünen immer nur eine Partei gewesen, die sich alle paar Jahre um die Wählergunst bemüht.
Entscheidend war etwas anderes: Grünes Gedankengut hat seit den 70er Jahren nach und nach im täglichen Leben Wurzeln geschlagen, war für jedermann auch außerhalb des eigentlichen politischen Rahmens präsent und sichtbar.
Und diese Präsenz verstand sich in besonderer Weise darauf, bei aller Schrulligkeit sympathisch und irgendwie lieb zu wirken – man bekannte sich zu Gewaltfreiheit und Solidarität, war gut zu Menschen, Tieren und Pflanzen (auch wenn die Praxis oft anders aussah – man denke an die pädophilen Exzesse, doch die spielten in der öffentlichen Wahrnehmung, anders als in vergleichbaren Fällen innerhalb der Kirchen, nie eine Rolle).
Die Bandbreite grüner Präsenz reichte schon früh von Umweltschutzthemen und ökologischer Alltagspraxis in Haus, Garten und Küche über Kultur‑, Medien- und Verlagsprojekte bis hin zu Kindertagesstätten, Cafés, Kneipen, Gastronomie, Bio- und Fahrradläden, alternativen Reiseveranstaltern, Baufirmen, Partnerschaftsbörsen und Finanzdienstleistern.
Vor allem die Bereiche, in denen auch für bürgerliche Kreise sozusagen niedrigschwellige Kontaktangebote geschaffen wurden, hatten eine Eisbrecherfunktion und waren deshalb von kaum zu überschätzender Bedeutung:
Man kaufte auf dem Wochenmarkt seine Möhren bei den etwas schratigen, aber stets gutgelaunten langhaarigen Gemüsebauern aus der Landkommune, probierte aus dem netten Bioladen um die Ecke aus Neugierde mal das als besonders gesund geltende Vollkornbrot aus Demeter-Getreide, kostete auf einer Party auch mal vom französischen Biowein (sauer), reizte seine Magenschleimhaut mit Nicaragua-Kaffee (für die Revolution) und erfuhr nebenbei, daß der nette Kinderarzt und die fachlich versierte Klassenlehrerin des eigenen Nachwuchses mit den Grünen sympathisierten.
Auch wenn man diese Partei noch immer als eigentlich nicht wählbar betrachtete – der grüne Lebensstil, diese besondere Lockerheit und Lässigkeit, diese offen zur Schau getragene milde Verachtung der bürgerlichen Tretmühle, die Betonung des Seelischen und auch der tendenziell freizügige Umgang in Sachen Liebe und Sexualität machten neugierig und wirkten auf viele anziehend.
Wer grün dachte, engagierte sich oft auch sozial, war für Schwache und Hilfsbedürftige da, beriet die männliche Jugend in Angelegenheiten der Kriegsdienstverweigerung. Das Gemeinschaftsgefühl war stark und wurde immer stärker – nicht zuletzt, weil es gegen übermächtige Gegner ging wie Atomenergie, Polizeistaat, Waffenschmieden und die Natur zerstörende Großkonzerne. Fundierte Aufklärungsliteratur aus eigener Produktion begleitete das Engagement.
Auch auf die Rolle der Musik sollte man eingehen – neben einschlägigen politischen Sachen wie Ton Steine Scherben hatten Folk, Rock und psychedelische Sachen Konjunktur –, es kam das ins Spiel, was positive Emotionen auslöste, was sympathische Teilnahme bewirkte. Es war Musik nicht nur zum Hören, sondern auch zum Tanzen.
Ich selbst (Jahrgang 1962, im kleinstädtischen Umfeld einer schleswig-holsteinischen Hafenstadt aufgewachsen) wurde seit den späten 70ern auf genau diese Weise zum Sympathisanten und Wähler der Grünen. Damit ist ein weiterer wichtiger Punkt angesprochen: das Jugendliche. Grünes Auftreten war meist jugendlich-unbeschwert – weit entfernt von der säuerlichen Übellaunigkeit verschwitzter Krawattenträger und jeder muffigen Kleinbürgerlichkeit.
So wirkte es jedenfalls. Natürlich gab es bei den Grünen auch ältere Semester, doch selbst die wirkten auf eine eigentümliche Weise verjüngt.
Wir sehen, daß die Grünen jenseits des Parteipolitischen eine enorme Alltagspräsenz hatten und unendlich viele Kontaktflächen mit einigen Sympathiewerten bieten und nutzen konnten. So gelang es mühelos, nach und nach auch Wähler aus dem bürgerlichen Lager für die so sympathisch wirkende grüne Sache zu begeistern.
So wurde „Grün“ auch zum Medienthema und als Lebensgefühl bald von der Werbung entdeckt. Die Linken hatten dieses grüne Lebensgefühl als ideales Lockmittel für ein bürgerliches Publikum entdeckt, das sich eigentlich nach etwas ganz anderem sehnte als nach linker Politik. Doch die Sache wurde zum Selbstläufer und im Laufe der Zeit dann bekanntermaßen zum Irrläufer.
Grünes Denken wird heute längst als teils sauertöpfische, teils hysterische Bevormundung in Alltagsfragen, als anmaßende Klugscheißerei und als zersetzend in Fragen der Identität und allgemein als neue Art der Spießigkeit wahrgenommen. Doch noch immer ist sie tonangebend. Damit nun zum erhofften Rollback.
Was kann man von der AfD, ihren Sympathisanten und deren spezifischem Lebensgefühl erwarten? Ihre Anhänger werden nur im Ausnahmefall Kitas betreiben oder Biokräuter feilbieten, werden auch sonst in ihren öffentlichen Lebensäußerungen eher verhalten und bescheiden sein. Denn sie stammen oft aus jenen geschmähten bürgerlichen, teils auch kleinbürgerlichen Milieus, gegen die sich seinerzeit der grüne Lebensstil offensiv richtete.
Das „Das macht man nicht!“ wirkt hier noch sehr stark – man hat keine Lust zur Revolte gegen die Normalität, sieht auch keine Notwendigkeit. Hier neigte und neigt man nicht dazu, sich öffentlichkeitswirksam zu produzieren, ist eher zurückhaltend und vielleicht sogar zugeknöpft.
Das leider aus gutem Grund – rief es seinerzeit höchstens gutmütigen Spott hervor, wenn man sich als Anhänger der Grünen outete (außer vielleicht im ländlichen Bayern, wo es auch schon mal derbere Antworten setzen konnte), drohen einem heute, wenn man sich (vor allem im Westen) als AfD-Sympathisant zu erkennen gibt, unter Umständen ganz andere Reaktionen.
Und dennoch wird kein Weg daran vorbeiführen, im öffentlichen Raum gerade diese niedrigschwelligen Kontaktangebote zu schaffen, um Sympathiewerbung im vorpolitischen Raum zu betreiben. Und das gegen einen starken Widerstand. Trotzdem darf man niemals die Contenance verlieren, muß freundlich und im weitesten Sinne annehmbar bleiben.
Ohne eine starke und sympathisch wirkende Präsenz in der breiten Fläche würde die AfD das Erfolgsrezept der Grünen niemals nachkochen können. Es käme nur etwas Ungenießbares und unsagbar Fades dabei heraus.
Abdiel
Bester Meyer-Artikel bis jetzt von der Analyse her! Die AfD alleine kann kein Umfeld schaffen, wie es den Grünen gelungen ist, weil der ideologische Markenkern der Partei nicht so klar erkennbar ist. Das kann nur durch ein breites rechtes Umfeld geschehen, dem es gelingen muß, ebenso klare kulturelle und metapolitische Signale auszusenden wie einst die Grünen. Nicht ganz einfach. Kleidungsstile und Habitus der Rechten sind breiter aufgestellt, aber dadurch auch schwerer zuzuordnen. Wir brauchen Kulturinitiativen, Lesekreise, wir sollen versuchen, gleichgesinnte Handwerker zu beauftragen und Läden zu besuchen. Wird trotzdem schwierig. Wo wird unser Kern sichtbar? Vorschläge...?