Oder liegt es an unserer Mentalität, daß wir bereit dazu sind, jedem Staat kritiklos zu dienen?
Fakt ist: Die Deutschen arbeiten so zahlreich und viel wie nie zuvor. Wolfgang Schäuble erhält dadurch Rekordeinnahmen und müßte eigentlich in Form einer Steuersenkung für die Mittelschicht „Danke“ sagen. Eine Mehrheit der Experten und die bürgerlichen Parteien fordern auch genau dies, streben aber nur kosmetische Änderungen an.
Eine Neuordnung der Beziehung zwischen Bürger und Staat schreibt sich dagegen niemand offensiv auf die Fahnen. Zu groß ist die Gefahr, dann als „neoliberal“ und „gefühlskalt“ abgestempelt zu werden, denn das deutsche Volk wünscht sich vermutlich gerade die Betreuung, Entscheidungsabnahme und Entlastung, die von der Bundesrepublik perfektioniert wurde.
Oswald Spengler lag 1919 also richtig, als er in Preußentum und Sozialismus feststellte:
Auch im Politischen gibt es keine Wahl; jede Kultur und jedes einzelne Volk einer Kultur führt seine Geschäfte und erfüllt sein Schicksal in Formen, die mit ihm geboren und die dem Wesen nach unveränderlich sind.
Und so ist der „Traumberuf“ (FAZ) des heutigen Studenten eben immer noch, nach dem Abschluß Beamter zu werden, um am großen Ganzen mitwirken zu können.
Nur aufgrund ihres preußischen Instinktes wählen die Deutschen auch weiter beharrlich Angela Merkel. Sie nehmen die Bundeskanzlerin als eine Organisatorin wahr, die par excellence jene Eigenschaften verkörpert, die uns seit Jahrhunderten als wesenseigen bekannt sind. „Wir schaffen das“ war dafür der perfekte Slogan. Er vereint praktischen Sinn mit Bodenständigkeit und macht deutlich, daß uns nur ein autoritativer Sozialismus an das Ziel bringen kann, das wir erreichen sollen.
Ob dies sinnvoll ist, fragt der antirevolutionäre, pflichtbewußte Deutsche nicht, weil er die Verwandlung der eigenen Elite verdrängt, um an die Richtigkeit des preußischen Organisationsprinzips wie bisher glauben zu können. In Sprechen wir über Preußen. Die Geschichte der armen Leute (1981) behauptet Joachim Fernau ziemlich am Schluß, wo er das Ende des real existierenden Preußens und den Übergang hin zum preußischen Stil, der subkutan wirkt, schildert:
Die Habenichtse waren preußisch, die Habeviel waren deutsch. Das scheint ein soziologisches Gesetz zu sein. Der arme Bayer ist nichts als Bayer, der reiche ist deutsch. Der bescheidene Deutsche ist deutsch, der reiche ist Europäer. Der superreiche Europäer ist nicht mehr Europäer, er ist Weltbürger. Die Geschichte Preußens ist aber die Geschichte der armen Leute. Die, die reich wurden, waren keine Preußen mehr.
Begriffen haben das die preußischen Deutschen bis heute nicht. Sie sind deshalb beim „Sozialismus als Lebensform“ stehengeblieben, haben jedoch das darin enthaltene „unendlich Starke und Freie“, von dem Spengler schwärmte, verloren. Obwohl die Deutschen inzwischen natürlich auch etwas von der Maximierungslogik des englischen Liberalismus übernommen haben, finden sie sich dennoch weiterhin unterbewußt damit ab, daß es nicht nur Profiteure geben kann, sondern vielmehr die Masse dienen muß, damit die Elite den Fortschritt verwirklichen kann.
Unter dem Vorzeichen der Moderne, die mit der Französischen Revolution und Industrialisierung anbrach, bedeutet dies allerdings, gerade den Wirtschafts- und Parteiführern zu folgen, die zugunsten einer globalen Orientierung aufgehört haben, preußisch zu sein.
Am prägnantesten hat dies Wilhelm Röpke 1945 in seinen „Betrachtungen eines Nationalökonomen über das Deutschlandproblem“ herausgearbeitet, die in der Aufsatzsammlung Marktwirtschaft ist nicht genug abgedruckt sind. Er skizziert darin, wie sich das Preußentum im 19. Jahrhundert mit dem Liberalismus der Großkapitalisten vermischte. Herausgekommen sei dabei ein „Monopolkapitalismus“ mit einer „neupreußischen Wirtschaftspolitik“.
Und diese Wirtschaftspolitik war als eine stark interventionistisch-subventionistisch-monopolistische so beschaffen, daß der wirtschaftliche Erfolg des einzelnen mehr und mehr davon abhing, ob er in Berlin die richtigen Fäden zu ziehen wußte oder nicht.
Ohne Zweifel war dieses Wirtschaftssystem gerade zu Zeiten des Kaiserreichs äußerst erfolgreich und sorgt noch heute dafür, daß Deutschland in der Weltwirtschaft so gut funktioniert wie kaum ein zweiter Staat dieser Größenordnung. Der gestiegene Volkswohlstand erlaubt es sogar, die Bürger viel effizienter zu disziplinieren und auszunehmen als jemals zuvor.
Während unter dem Soldatenkönig die ansonsten braven Untertanen begannen, die Steuern zu hinterziehen, als sie die Hälfte des Tages für den Staat schuften mußten, stellt dies für den aufgeklärten Bundesbürger kein Problem dar. Er hat sich in den „Kapitalismus als großbetriebliche Herrschaftsorganisation“ (Eduard Heimann) perfekt einpassen lassen und ist auch mit vergleichsweise wenig zufrieden, um die Projekte der Politik nicht zu gefährden.
“Preußisch bis in den Tod” könnte man dies nennen und von den Deutschen etwas mehr Egoismus verlangen, wenn nicht voraussehbar wäre, daß dies die Individualisierung nur noch mehr verschärfen würde, die wiederum dem Staat in die Karten spielt, der den vereinsamten Bürger dann unter dem Vorwand der sozialen Absicherung weiter an sich binden kann.
Röpke wollte deshalb neben einer „Dezentralisation im Sinne einer die Gebote der Wirtschaftlichkeit beachtenden Streuung des kleinen und mittleren Betriebes“ eine „Entmassung“ vorantreiben. Ihm war klar, daß jenseits des Staates sowie des Konglomerates aus etablierter Politik und Wirtschaft nur etwas zu wachsen beginnen kann, wenn es zum einen intakte Gemeinschaften gibt und zum anderen eine Form der nichtmaterialistischen Selbständigkeit. Was heißt das? Nur der Kleinbetrieb mit all seinen ökonomischen Mängeln bietet Freiheit.
Damit ist zugleich alles über die Verwirklichungsmöglichkeiten alternativen Wirtschaftens mit dem Ziel der politischen Befreiung gesagt. Positiv gewendet: Jeder kann sofort damit loslegen. Gerade in der gegenwärtigen Wissensgesellschaft stehen die Chancen auch wieder besser, sich mit seinen eigenen Ideen durchzusetzen. Ein kleiner Wissensbetrieb kann durchaus mit einem großen konkurrieren, wie die Entwicklung von Medienunternehmen in den letzten Jahren eindrucksvoll belegt. Im Industriezeitalter sah dies noch ganz anders aus.
Dennoch können die kleinen und mittleren Betriebe selbst bei einem weiteren Erstarken die gesellschaftliche Großmaschine nicht abschaffen. Eine tragfähige Alternative zum strafforganisierten, „neupreußischen“ Globalkapitalismus ist somit weit und breit nicht in Sicht. Die Konzentration von Macht und Kapital läßt sich vermutlich kaum anders überlisten als mit einem Zusammenbruch, der zunächst massenhaft Armut produzieren würde.
Maiordomus
Rolf Peter Sieferle nennt das, was Felix Menzel hier unter dem Titel "Preussentum und Kapitalismus" bzw. die Spannung zwischen Habenichts und Habeviel charakterisiert, "Sozialdemokratismus". Eine sehr breit angelegte Ideologie, die man, wie das Schicksal des Büchleins "Finis Germania" zeigt, unter dem Gesichtspunkt des Neoliberalismus kritisieren darf, dem Sieferle offensichtlich nicht ganz ferne steht und insofern für die Mehrheitsmeinung hier im Blog kaum repräsentativ ist, aber nicht unter dem Gesichtspunkt der Kritik am "Antifaschismus" und am "Antigermanismus", welch letzterer Begriff zwar bei Sieferle wegen der Kürze und des aphoristischen Stils seines Opus nicht ausreichend analysiert ist. Oswald Spengler halte ich für einen grossen Geist, der aber aufgrund des zum Teil bei Goethe entwickelten Analogiedenkens eher ein zukunftsweisender Literat war, wie Marx und Engels an eherne "Geschichtsgesetze" glaubte, als dass man ihn als Wissenschaftler noch voll zum Nennwert nehmen könnte. Demgegenüber halte ich, zumal als Vertreter des Faches Historische Demographie und als Kulturkritiker, Sieferle für einen Wissenschaftler, wiewohl sein letztes, zwar schon vor mehreren Jahren abgefasstes Büchlein klar als eine Art Bekenntnis eines Wissenschaftlers zu lesen ist, nicht explizit als eine Fortschreibung des wissenschaftlichen Werks.