Fragen wie Wer hat Recht?, Was ist bzw. heißt rechtlich, was rechtmäßig? finden im innerspanischen spanisch-katalanischen Konflikt heißestes Interesse: die einzig rechtmäßige und demokratische, die spanische Verfassungslegalität sieht sich der „höheren“ plebiszitären Legitimität der demokratischen katalanischen Nationalisten gegenüber. Ein parteiisches Verständnis von Demokratie bekämpft das andere.
Trotz aller parteiischer Mißbräuche und Kampfbegrifflichkeiten setzt Recht ein normales Funktionieren der bürgerlichen Institutionen – Rechtsstaat, Demokratie, Öffentlichkeit – voraus. Es hat seinen großen Auftritt, noch bevor ein Konflikt ausbricht, um genau diesen zu verhindern, oder aber es selbst steht als Lösung eines vorangegangenen Konflikts – vor allem in der typisch liberalen Form der Kompromißlösung – am Ende desselben.
Das Recht soll gleich der Wirtschaft nicht nur die Gewalt, sondern gleich jegliche Form von Politik überflüssig machen – ein Gedanke, der dem biederen Juristen und Status-quo-Liberalen Rajoy besonders nahe liegt.
Semantisch und auch der Sache nach völlig korrekt sind die katalanischen Separatisten am 1. Oktober von der Madrider Regierung handfest unterdrückt worden, wenn auch nicht nach allen Regeln der Kunst. Auch hat es, wie der Vorsitzende der demagogischen Linkspartei „Podemos“, Pablo Iglesias, theatralisch über die Lippen gebracht hat, „wieder“ politische Gefangene in Spanien gegeben. Nur darf man dabei nicht vergessen, daß jemanden aus politischen Gründen festnehmen zu lassen nicht per se ein Unrecht ist.
Es ist dreisteste linke Demagogie, glauben zu machen, jede Meinung oder Handlung, die politische Gefangenschaft nach sich ziehen könnte, müßte aus eben genau diesem Grunde toleriert, vielleicht sogar besonders geschützt werden. Ebenso gibt es aber auch keine bestehende politische Ordnung, und sei sie die freieste, offenste, demokratischste oder rechtsstaatliche auf der Welt, welche die ihr gefährlichen Meinungen und Handlungen nicht unterdrückte.
Der in Spanien sehr bekannte und auch von seinen Gegnern geschätzte kommunistische Politiker Julio Anguita hat vor kurzem die Eskalation des spanisch-katalanischen Konflikts mit einem Aufeinanderprallen zweier Züge verglichen, deren Zugführer beide korrupt, beide Dummköpfe sind. Der eine korrupte Dummkopf ist der spanische Premier Rajoy, der andere der katalanische president Carles Puigdemont. Anguita übertreibt nicht.
Abgesehen davon, daß sie wirklich korrupt und dumm, Rajoy noch dazu kleingeistig, sind, haben beide sich selbst in den letzten Jahren verschiedenen Sachzwängen, gleich Geistern, die sie riefen, ausgeliefert, von denen sie nun nicht mehr loskommen. Puigdemont aber sind seine Geister gewogener gewesen als die Geister Rajoys Rajoy: Zeit und Tatsachen arbeiten gleichermaßen für den Separatismus der Katalanen und Basken, aber gegen einen einheitlichen spanischen Staat.
Jeder von rein rational zu Werke gehenden Menschen ausgetragener Interessenkonflikt hat schon von sich aus das Potential, zu eskalieren. Der spanisch-katalanische Konflikt ist jedoch komplizierter als es ein reiner Interessenkonflikt ist. Und weder bei Rajoy noch bei Puigdemont ist es mit der Vernunft weit her. Rajoy ist mit seiner Beamtenmentalität, seinem Juridizismus und seiner common sense Masche nicht in der Lage, der Wirklichkeit gerecht zu werden.
Dazu noch hegt er den Köhlerglauben, man könne Probleme unentwegt auf morgen verschieben und solange aussitzen, bis sich alles von allein regelt. In diesem Glauben geht er ebenfalls davon aus, dass die Spanier eigentlich nur um ihren Lebensstandart besorgt seien. Und in seiner politischen Vorstellungswelt sorgen für die Beruhigung zeitweise aufgebrachter Spanier, wenn auch auf geheimnisvolle Weise, die beiden Ruhepole „Europa“ und „spanische Rechtsstaatlichkeit“ bzw. „Demokratie“ im Verein mit dem Lebensstandard.
Die letzten Wochen über war Rajoys Haltung ein einziges Flehen, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen. Nach fünf Jahren fuchteln mit dem Gesetzbuch in der Hand konnte es keinen anderern Ausweg mehr geben als die Flucht nach vorn: „Das Recht gelten machen“, mit all den harten Szenen, die sich am 1. Oktober abgespielt haben. Rajoy ließ triumphierend verlautbaren, das Referendum sei unterbunden worden und gescheitert.
Dabei war es ein voller Erfolg für die Separatisten, nicht nur wegen der hohen Wahlbeteiligung, der unzähligen Stimmen für die Unabhängigkeit, der nationalistischen Eintracht usw.: die Bilder, die zeigen, wie alte Leutchen und Väter mit Kleinkindern brutal von gepanzerten Polizisten weggezerrt werden, sind bares Gold wert, auch wenn klar ist, daß es sich um menschliche Schutzschilde gehandelt hat. Frei nach Merkel: Szenen der Unterdrückung auf der Straße sind Unrecht. Sie sind eine Goldmine für den, der zu zeigen weiß, wer sich selbst auf welche Weise ins Unrecht gesetzt hat.
Es ist unglaublich, aber wahr: Gesetze zwingen, vor allem den, der sie dauernd im Munde zu führen gewohnt ist. Das ist es, was dem aus Galizien stammenden Rajoy geschehen ist. Die Art der Galizier, unentschlossen zu sein und nicht durchscheinen zu lassen, was sie im Schilde führen, ist auch Rajoy zu eigen. Dazu kommt noch seine selbstauferlegte Pharisäerrolle, nur nach Gesetz und Recht zu handeln. Streng genommen ist den katalanischen Separatisten aber mit rechtsstaatlichen Mitteln nicht beizukommen, und doch ist Rajoy dazu gezwungen gewesen.
Gemäß José Ortega y Gassets bekannter Formel: „Ich bin ich und meine Umstände“, hat Rajoy sich seinen erwählten Umstand, das Recht, zur Pflicht und zum Ich gemacht. Zum Recht gehören aber Entschlussfähigkeit, Wille und Macht, drei Dinge, an denen es Rajoy erwiesenermaßen mangelt. Daraus ergab sich auf der einen Seite, positiv für Rajoy, nicht wirklich in der Verantwortung zu stehen, auf der anderen und negativ, Zwang.
Seit Jahrzehnten wird in Katalonien systematisch Verfassungsbruch betrieben. Ginge es wirklich nach der Verfassung, schon vor Jahren hätte die katalanische Autonomie suspendiert, die separatistischen Politiker abgesetzt und gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden müssen. Um keinen Aufstand in Katalonien zu provozieren, aber auch aus Angst vor „dem Forum der Welt“, hat Rajoy in den letzten fünf Jahren außer Ritualismus betreiben nichts Wirksames unternommen.
Aber auch in den Jahrzehnten vor ihm ist nichts geschehen. Der Grund für dieses laissez-faire, laissez-passer den Separatisten gegenüber ist im Kuhhandel zu suchen, den es immer wieder zwischen den nationalistisch-separatistischen Regionalregierungen und der jeweiligen Madrider Zentralregierung gegeben hat.
Der Kuhhandel reicht zurück bis in die Zeit des Übergangs von der Francodiktatur zur Demokratie, der Transición (1975–1978). Die spanische Demokratie war vom Ausland interveniert, noch bevor sie mit dem Verfassungsdokument von 1978 aus der Taufe gehoben wurde. Zuerst waren es die Amerikaner, dann die BRD Helmut Schmidts mit ihrer Finanzierung der sozialistischen PSOE via Friedrich-Ebert-Stiftung sowie den Geldkoffern señor Flicks. Ausser strategischen und wirtschaftlichen Überlegungen wie der NATO-Einbindung und der europäischen Integration gab es noch einen weiteren gewichtigen Grund: man fürchtete, nach vierzig Jahren rechter Militärdiktatur könnte Spanien kommunistisch werden.
Diese damalige Befürchtung bestätigt Anguita mit der Aussage, man habe zum Zwecke der Errichtung des neuen demokratischen Regimes den Nationalisten, vor allem den katalanischen, den Vorzug gegeben um die Kommunisten auszubooten. Der Clou an der ganzen Sache sei besagtes Verfassungsdokument, in dem von einer einzigen, unteilbaren, vom spanischen Volke ausgehenden Souveränität bei gleichzeitiger Anerkennung von „Regionen und Nationalitäten“ gesprochen wird.
Anguita rationalisiert diese halbherzige Entscheidung der Verfassungsväter, von Nationalitäten und nicht gleich von Nationen zu sprechen, dahingegend, dass die Angst vor dem Militär sie daran gehindert habe, das noch vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts stammende, dann von der Diktatur forcierte unitarische Staatsmodell ganz beiseite zu lassen.
Anguitas Behauptung ist nur teilweise richtig. Genauso, wie nach einem Krieg, mehr noch nach einem Bürgerkrieg aus dem noch dazu eine Militärdiktatur hervorgegangen ist, zentralisiert und alles obrigkeitsstaatlich „mit der Hand auf dem Pistolenholster“ angeordnet wird, so tritt bei der Überführung in ein demokratisches Regime der gegenteilige Effekt ein: die Kompromißbereitschaft erscheint beinahe grenzenlos, alle sind an einem Tisch versammelt mit scheinbar einem einzigen Ziel vor Augen.
Unter Berücksichtigung des Kuhhandels, des ausländischen Interventionismus sowie der für Spanien – und Katalonien! – charakteristischen Korruption, war es ein einmaliges und widernatürliches Treibhausklima, in dem die Verfassungschimäre erzeugt wurde. Mit einer versteinerten Chimäre in der Hand hat Rajoy die katalanischen Separatisten von ihrem Vorhaben abzubringen versucht!
Selbst spanische Rechtsexperten gestehen mittlerweile ein, es sind Fakten, nicht Gesetze, die Staaten schaffen, welche dann ihrerseits vom (internationalen) Recht anerkannt werden. Ein katalanischer Staat liegt bereits zum greifen nahe, in den nächsten Tagen wird Puigdemont sehr wahrscheinlich die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien erklären.
Weder mit dem Staatsrecht noch mit dem internationalen Recht ist der Konflikt zu lösen. Überhaupt ist zu bezweifeln, daß es sich bei ihm um eine Rechtsangelegenheit handelt. Der Konflikt ist und bleibt politischer Natur und harrt deswegen einer politischen Austragung und Lösung, die aber so nicht kommen will, sondern nur unter Schmerzen.
Die katalanischen Separatisten wollen angeblich friedlich, Rajoy will angeblich gemäß dem Gesetz vorgegangen sein. Beide Parteien wähnen sich im Recht. Dabei ist alles nur eine reine Machtfrage, wobei die Macht hier – wie so oft in der neueren Geschichte – eindeutig bei den „gewaltlosen Zivilisten“ liegt. Rajoys Ohnmacht hingegen liegt offen zutage. Obwohl die Separatisten in Katalonien schwerlich 50% der Bevölkerung ausmachen, bestünde eine, wenn nicht vernünftige, so doch friedliche Lösung in der Anerkennung eines souveränen Katalanenstaates, etwas, was noch über die höchst überfällige Anerkennung einer real existierenden katalanische Nation hinausginge.
Katalonien ist in Spanien nicht mehr zu halten. Seine Entlassung in die Unabhängigkeit verletzte weniger den spanischen Nationalstolz, als daß es bedeutete, den Spaniern offen ins Gesicht zu sagen, daß die Erfolgsgeschichte ihrer jungen Demokratie doch nur eine Lüge war. Das ist ein Verdikt, welches der Vorsitzende von „Podemos“, Pablo Iglesias, mit unbefangenen Historikern und Politikwissenschaftlern – und wer ist das in Spanien schon! – wie auch mit den wenigen ganz klugen extremen Rechten teilt.
Die Frage, ob Spanien ein Polizeistaat ist, ist mit „unter anderem auch das“ zu beantworten. Spanien ist schon seit Jahrzehnten „unter anderem“ ein Polizeistaat, dank dem ETA-Terrorismus und dem bösen Gewissen der korrupten Politikerkaste.
Innerhalb dieses spanischen Polizeistaates aber hat sich Katalonien zu einer Tyrannei gemausert, in der separatistische Demagogen und Geschäftemacher das „Volk“ verführen und den Ton angeben.
t.gygax
Interessanter Beitrag. Andrerseits- wenn man Begriffe wie "Selbstbestimmungsrecht der Völker" und "Souveränitöt" ernst nimmt und das Volk für wichtiger hält als den Staat, dann kann man den Katalanen nur gratulieren. Es wäre wünschenswert, daß - sollte es dazu kommen- dieser Unabhängigkeitsfunke auch nach Südtirol und auf andere Regionen überspringt, denn die liegen näher bei uns. Nebenbei: was ist an regional kleinen Staaten ( ein künftiges Katalanien) eigentlich schlecht? Ich wäre froh, Baden-Württemberg löste sich aus der BRD und würde ein Schweizer Kanton, und Bayern würde als österreiches Bundesland wesentlich besser fahren als im jetzigen status quo. Naja, Träume... da werden die Herrschenden schon dafür sorgen, daß bei uns alles so bleibt wie es ist, und sich nie etwas ändert-es sei denn man schreitet einen weiteren Sc hritt dem Abgrund entgegen.....und läßt sich von einer Figur wie Macron endgültig zum Kolonialstaat des französischen Staates herabwürdigen.......