Marcel Mauss: Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale

Marcel Mauss: Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale, Frankfurt a.M.: Campus 2017. 360 S., 34 €

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Mar­cel Mauss: Die Nati­on oder Der Sinn fürs Sozia­le, Frank­furt a.M.: Cam­pus 2017. 360 S., 34 €

Der fran­zö­si­sche Sozio­lo­ge Mar­cel Mauss (1872–1950) ist dem deutsch­spra­chi­gen Publi­kum auf­grund sei­ner Schrift Die Gabe (frz. 1923/24, dt. 1968) bekannt, in der er aktu­el­le Anschluß­op­tio­nen an soli­da­ri­sche Hand­lungs­wei­sen archai­scher Früh­ge­sell­schaf­ten suchte.

Mauss’ eigent­li­ches Haupt­werk blieb aller­dings unvoll­endet. Es liegt nun erst­mals in deut­scher Spra­che vor, nach­dem es 2013 in einer müh­sa­men edi­to­ri­schen Glanz­leis­tung der fran­zö­si­schen For­scher Micha­el Four­nier und Jean Ter­ri­er aus Hef­ten und Map­pen zusam­men­ge­fügt wur­de. Deren Ein­füh­rung ist kun­dig und für die nach­ho­len­de Mauss-Exege­se hilf­reich, wenn­gleich der Leser zumin­dest teil­wei­se auf eine fal­sche Fähr­te gelockt wer­den soll. Denn die »anti­na­tio­na­lis­ti­sche poli­ti­sche Ein­stel­lung«, wel­che die Autoren als Leit­bild der Arbeit Die Nati­on begrei­fen, ist viel­mehr eine dezi­diert chau­vi­nis­mus­feind­li­che Hal­tung, der aber die grund­sätz­li­che Affir­ma­ti­on der Nati­on als sozia­ler Rea­li­tät zugrun­de liegt.

Das, was Mauss’ Text aus den 1920er Jah­ren für 2018 poli­tisch Den­ken­de und Han­deln­de so bedeu­tend macht, sind just jene Bezü­ge auf Nati­on und natio­na­les Zusam­men­le­ben, die heu­te aktu­ell zu lesen sind. Das Vor­han­den­sein einer Nati­on wird etwa an den Zustand gebun­den, daß die poli­ti­sche Treue­pflicht der Staats­bür­ger nicht sozia­len Unter­grup­pen – Klans, Stäm­men etc. – gehört, son­dern der Nati­on bzw. ihrer orga­ni­sa­to­ri­schen Hül­le in Form des Staa­tes, der in der Lage ist, sozia­le Ver­hält­nis­se und gesell­schaft­li­che Bezie­hun­gen zu regeln.

Die »lin­ken« Her­aus­ge­ber haben sicht­bar Schwie­rig­kei­ten mit Din­gen, die für poli­tisch »rechts« ste­hen­de ‑Akteu­re Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten abbil­den. Anders ist nicht zu erklä­ren, daß sie Mauss’ »Natio­na­li­täts­kri­te­ri­en« wie Abstam­mung oder Spra­che als »ver­wir­rend« bezeich­nen und eini­ge Absät­ze lang ver­su­chen, die­sen »Feh­ler« Mauss’ zu dekon­stru­ie­ren. Eine sol­che Her­an­ge­hens­wei­se wird dem Werk nicht gerecht und ist unnö­tig, denn Die Nati­on ist eine sozio­lo­gi­sche Stu­die, die in ihrer viel­schich­ti­gen, teils wider­sprüch­li­chen Ana­ly­se einer gründ­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung, aber kei­ner polit­päd­ago­gi­schen Ein­ord­nung bedarf.

Neben Mauss’ Refle­xio­nen zur Nati­on sind sei­ne sozia­len Ansät­ze auf­schluß­reich. Als nicht­mar­xis­ti­scher Sozia­list folgt er einer­seits sei­nem Onkel Émi­le Durk­heim, wonach alle Theo­rien »sozia­lis­tisch« zu nen­nen wären, die eine »Anbin­dung aller bzw. eini­ger noch näher zu bestim­men­der öko­no­mi­scher Auf­ga­ben an die bewuß­ten Lei­tungs­or­ga­ne der Gesell­schaft for­dern«, und bezieht sich ande­rer­seits – eben­falls von Durk-heim inspi­riert – eben nicht auf das Pro­le­ta­ri­at als Klas­sen­sub­jekt, son­dern auf die Gesamt­ge­sell­schaft. In die­sem Sin­ne defi­niert Mauss Sozia­lis­mus als »Leh­re von der Über­nah­me der öko­no­mi­schen Macht durch die Gesell­schaft« mit­tels »Natio­na­li­sie­rung« als »Schaf­fung eines unter natio­na­ler Kon­trol­le ste­hen­den indus­tri­el­len und kom­mer­zi­el­len Eigentums«.

In Mauss’ Ritt durch sozia­lis­ti­sche Theo­rien und Pra­xen ver­weist er auf die spe­zi­fisch deut­sche sys­te­ma­ti­sche Her­an-gehens­wei­se an eben­sol­che, wobei er betont, daß es außer Fra­ge ste­he, daß »der Sinn fürs Sozia­le in Deutsch­land frü­her als sonst auf der Welt erwacht ist«.

Mit gro­ßer Sym­pa­thie unter­sucht er die preu­ßi­sche Tra­di­ti­on des »Staats­so­zia­lis­mus« und Bis­marcks Wir­ken. Letz­te­res habe zur Fol­ge gehabt, daß die Arbei­ter­klas­se dem Reich treu blieb, »weil sie ihre eige­nen Soli­dar­in­ter­es­sen kennt« und wis­se, daß die »Kre­di­te in ihren Ver­si­che­rungs­kas­sen Kre­di­te des Reichs sind«. Mauss nimmt also nicht, wie von den Her­aus­ge­bern sug­ge­riert, eine anti-natio­na­lis­ti­sche Hal­tung ein. Viel­mehr sind sei­ne Schluß­fol­ge­run­gen dezi­diert »sozi­al-natio­nal«.

Der Sozia­lis­mus nach Mauss hat nichts mit dem Bol­sche­wis­mus sei­ner Zeit zu tun, den er ablehnt (u.a. for­dert Mauss, Indi­vi­du­al­be­sitz zu för­dern, nicht zu ver­nich­ten), son­dern umfas­se »die Gesamt­heit der kol­lek­ti­ven Ideen, For­men und Insti­tu­tio­nen, deren Auf­ga­be es ist, durch die Gesell­schaft, sozi­al, die kol­lek­ti­ven öko­no­mi­schen Inter­es­sen der Nati­on zu regeln«. Dar­aus fol­gert Mauss, daß »der Sozia­lis­mus an die Erfah­rung der Natio­nen gebun­den« sei.

Mauss war eben Inter-Natio­na­list, kein Anhän­ger des Kos­mo­po­li­tis­mus, dem er vor­aus­schau­end unter­schob, er stre­be »fak­tisch die Zer­stö­rung der Natio­nen und die Schaf­fung einer Moral« an, »in deren Rah­men die Natio­nen kei­ne sou­ve­rä­nen, Geset­ze schaf­fen­den Auto­ri­tä­ten mehr dar­stel­len und auch nicht mehr die höchs­ten Zie­le sind, die der Opfer wür­dig wären«.

Rolf Peter Sie­fer­le hat eini­ge Jahr­zehn­te nach Mauss in ähn­li­cher Ton­la­ge ergänzt, daß auch der Sozi­al­staat an sich ohne die­se natio­na­le Bin­dung unmög­lich würde.

Mar­cel Mauss’ Die Nati­on stellt somit in vie­len Abschnit­ten her­aus­ra­gen­des Rüst­zeug für all jene zur Ver­fü­gung, die Inter­es­se an nicht­mar­xis­tisch-sozia­len Ansät­zen auf­wei­sen und danach trach­ten, die Sinn­haf­tig­keit der Nati­on als fort­schritt­li­cher Gesell­schafts­gat­tung sozio­lo­gisch beleuch­tet zu sehen.

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Mar­cel Mauss’ Die Nati­on kann man hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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