Wir befinden uns im Marxschen Doppeljahr: 2017 – 150jähriges Jubiläum des ersten Bandes des Kapital; 2018 – 200. Geburtstag des Mannes, der, so Pierre Drieu la Rochelle, das 19. und 20. Jahrhundert geistig dominiert habe. Mit Hohn und Spott zog Marx (neben ihm sein Mäzen und Freund Engels) insbesondere gegen Persönlichkeiten in publizistische Fehden, die ihm im Spektrum des sozialistischen bis kommunistischen Kosmos seinen Rang als Wortführer streitig hätten machen können.
Insbesondere der »frühe« Marx lebte in ständigem Widerspruch mit Literaten und Publizisten, deren Suche nach einer gerechteren Gesellschaft er als »unwissenschaftlich« oder »romantisch« verwarf. Die beiden Jahrzehnte nach 1830 (»Vormärz«), die auf die Revolution von Februar/März 1848 zuliefen, waren die markantesten Dezennien schwärmerischer Antikapitalisten. Der Durchbruch der Industrialisierung führte zu sozialen Verwerfungen und gebar Gesellschaftskritiker von links. Eine literarische Geschichte dieser Frühsozialisten legt nun Patrick Eiden-Offe vor. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler wählt einen anspruchsvollen Zugang: Er möchte die poetische Begleitmusik der zum Subjekt werdenden »Klasse« von Lohnarbeitern aufspüren, mithin die »Poesie der Klasse aus den Verschüttungen der Geschichte […] bergen« – und sie für die Jetztzeit neu denken. Im Zentrum der Studie steht das Proletariat als sich selbst in seiner Existenz bewußt werdenden Entität: jene Schriftsteller, die aus moralischen oder sozialen Motiven heraus Partei für ebenjene arbeitende Klasse ergriffen, deren »transitorischen« (vergänglichen) Charakter sie nicht bezweifelten. Das Proletariat als Ansammlung von Lohnabhängigen sollte sich selbst »aufheben«, entweder durch Steigerung des Lebensstandards, d.h. Verbürgerlichung, oder qua Überwindung der Klassen als solchen in einer »communistisch« verfaßten Gesellschaftsordnung. »Romantischen Antikapitalismus« nennt Eiden-Offe (in Anlehnung an Georg Lukács, ohne aber dessen pejorative Note zu adaptieren) jene Erscheinung, die für die Zukunft eine neue Ordnung jenseits der im Vormärz errichteten Klassenspaltung anstrebte, dies aber im Rückgriff auf vergangene Epochen artikulierte, als es, so die These, derlei Friktionen noch nicht ausgeprägt gegeben habe.
Eiden-Offe ist ein engagierter Wissenschaftler; die Sympathie für »romantische Antikapitalisten« ist spürbar. Ihm geht es um eine Rehabilitierung romantischen Denkens in der politischen Linken, die rationalistische Darstellungen für deutlich höherwertiger erachtet als das Operieren mit imaginierten Bildern. Bei letzteren dächte man wohl zuvörderst an Georges Sorel und seine Theorie sozialer Mythen als mobilisierender Phänomene, etwa für die Arbeiterklasse im Generalstreik gegen die über die Produktionsmittel verfügende Bourgeoisie. Tatsächlich findet Sorel in Eiden-Offes Panorama romantisch-sozialistischen Denkens nicht statt, wohl aber Sorels Vorläufer, der frühsozialistische Denker Pierre-Joseph Proudhon. Der Schwerpunkt des romantischen Antikapitalismus jedoch lag in Deutschland, wo eine Denkströmung reüssierte, die den Geist des »rebellischen Gesellen« pflegte und Ideen lokal gegliederter, staatsferner, vereinsähnlicher Selbstorganisationen der Arbeiter kultivierte. Diese Tradition des Gesellen- und Handwerkssozialismus, die Marx und Engels scharf ablehnten, war ein spezifisch deutsches Phänomen. Man wandte sich gegen die »Marterhöhlen« (Wilhelm Weitling) der modernen Fabriken und stellte das Leid der Arbeiter poetisch dar, wobei, zu Marxens und Engels’ Leid, wie Eiden-Offe herausschält, die moralische Ebene immer stärker gewichtet wurde als die wissenschaftliche Analyse der dem Kapitalismus immanenten Klassenbeziehungen. Neben Weitling ist es insbesondere das Werk Georg Weerths, das auf breitem Raum dargestellt wird. Dessen literarische Verarbeitung des Streik-Topos als Kampfform der sich selbst bewußt werdenden Industriearbeiter, als Kampfform des »wahren Sozialismus«, läßt erneut an die später folgenden Ausarbeitungen Sorels denken – die wiederum nicht erwähnt werden. Dabei könnte gerade mit Sorel veranschaulicht werden, welch dezidiert romantische Überbleibsel noch im Sozialismus des späten 19. Jahrhunderts hervortraten, und zwar trotz der recht erfolgreichen Verwissenschaftlichung der sozialistischen bis kommunistischen Weltanschauung durch Marx zwischen Vormärz und Jahrhundertwende.
Ungeachtet solch kleinerer Mängel ist die fordernde Studie Patrick Eiden-Offes gewinnbringend zu lesen. Anhand der romantisch-antikapitalistischen poetischen Reflexionen all der Weitlings und Weerths wird ein ewiges Problem der Linken deutlich: Für wen erarbeitet man Ideen, für wen streitet man? Anders: Wer ist das zu konstituierende »Wir«, das gegen die »Ausbeuter« kontrastiert wird? Wer oder was ist, zu guter Letzt, das Volk? Eine überzeugende Antwort wurde schon damals nicht gefunden.
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Patrick Eiden-Offes Die Posie der Klasse kann man hier bestellen.