Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats

Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin: Matthes & Seitz Berlin 2017. 460 S., 30 €

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Wir befin­den uns im Marx­schen Dop­pel­jahr: 2017 – 150jähriges Jubi­lä­um des ers­ten Ban­des des Kapi­tal; 2018 – 200. Geburts­tag des Man­nes, der, so Pierre Drieu la Rochel­le, das 19. und 20. Jahr­hun­dert geis­tig domi­niert habe. Mit Hohn und Spott zog Marx (neben ihm sein Mäzen und Freund Engels) ins­be­son­de­re gegen Per­sön­lich­kei­ten in publi­zis­ti­sche Feh­den, die ihm im Spek­trum des sozia­lis­ti­schen bis kom­mu­nis­ti­schen Kos­mos sei­nen Rang als Wort­füh­rer strei­tig hät­ten machen können.

Ins­be­son­de­re der »frü­he« Marx leb­te in stän­di­gem Wider­spruch mit Lite­ra­ten und Publi­zis­ten, deren Suche nach einer gerech­te­ren Gesell­schaft er als »unwis­sen­schaft­lich« oder »roman­tisch« ver­warf. Die bei­den Jahr­zehn­te nach 1830 (»Vor­märz«), die auf die Revo­lu­ti­on von Februar/März 1848 zulie­fen, waren die mar­kan­tes­ten Dez­en­ni­en schwär­me­ri­scher Anti­ka­pi­ta­lis­ten. Der Durch­bruch der Indus­tria­li­sie­rung führ­te zu sozia­len Ver­wer­fun­gen und gebar Gesell­schafts­kri­ti­ker von links. Eine lite­ra­ri­sche Geschich­te die­ser Früh­so­zia­lis­ten legt nun Patrick Eiden-Offe vor. Der Lite­ra­tur- und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler wählt einen anspruchs­vol­len Zugang: Er möch­te die poe­ti­sche Begleit­mu­sik der zum Sub­jekt wer­den­den »Klas­se« von Lohn­ar­bei­tern auf­spü­ren, mit­hin die »Poe­sie der Klas­se aus den Ver­schüt­tun­gen der Geschich­te […] ber­gen« – und sie für die Jetzt­zeit neu den­ken. Im Zen­trum der Stu­die steht das Pro­le­ta­ri­at als sich selbst in sei­ner Exis­tenz bewußt wer­den­den Enti­tät: jene Schrift­stel­ler, die aus mora­li­schen oder sozia­len Moti­ven her­aus Par­tei für eben­je­ne arbei­ten­de Klas­se ergrif­fen, deren »tran­si­to­ri­schen« (ver­gäng­li­chen) Cha­rak­ter sie nicht bezwei­fel­ten. Das Pro­le­ta­ri­at als Ansamm­lung von Lohn­ab­hän­gi­gen soll­te sich selbst »auf­he­ben«, ent­we­der durch Stei­ge­rung des Lebens­stan­dards, d.h. Ver­bür­ger­li­chung, oder qua Über­win­dung der Klas­sen als sol­chen in einer »com­mu­nis­tisch« ver­faß­ten Gesell­schafts­ord­nung. »Roman­ti­schen Anti­ka­pi­ta­lis­mus« nennt Eiden-Offe (in Anleh­nung an Georg Lukács, ohne aber des­sen pejo­ra­ti­ve Note zu adap­tie­ren) jene Erschei­nung, die für die Zukunft eine neue Ord­nung jen­seits der im Vor­märz errich­te­ten Klas­sen­spal­tung anstreb­te, dies aber im Rück­griff auf ver­gan­ge­ne Epo­chen arti­ku­lier­te, als es, so die The­se, der­lei Frik­tio­nen noch nicht aus­ge­prägt gege­ben habe.

Eiden-Offe ist ein enga­gier­ter Wis­sen­schaft­ler; die Sym­pa­thie für »roman­ti­sche Anti­ka­pi­ta­lis­ten« ist spür­bar. Ihm geht es um eine Reha­bi­li­tie­rung roman­ti­schen Den­kens in der poli­ti­schen Lin­ken, die ratio­na­lis­ti­sche Dar­stel­lun­gen für deut­lich höher­wer­ti­ger erach­tet als das Ope­rie­ren mit ima­gi­nier­ten Bil­dern. Bei letz­te­ren däch­te man wohl zuvör­derst an Geor­ges Sor­el und sei­ne Theo­rie sozia­ler Mythen als mobi­li­sie­ren­der Phä­no­me­ne, etwa für die Arbei­ter­klas­se im Gene­ral­streik gegen die über die Pro­duk­ti­ons­mit­tel ver­fü­gen­de Bour­geoi­sie. Tat­säch­lich fin­det Sor­el in Eiden-Offes Pan­ora­ma roman­tisch-sozia­lis­ti­schen Den­kens nicht statt, wohl aber Sor­els Vor­läu­fer, der früh­so­zia­lis­ti­sche Den­ker Pierre-Joseph Proudhon. Der Schwer­punkt des roman­ti­schen Anti­ka­pi­ta­lis­mus jedoch lag in Deutsch­land, wo eine Denk­strö­mung reüs­sier­te, die den Geist des »rebel­li­schen Gesel­len« pfleg­te und Ideen lokal geglie­der­ter, staats­fer­ner, ver­eins­ähn­li­cher Selbst­or­ga­ni­sa­tio­nen der Arbei­ter kul­ti­vier­te. Die­se Tra­di­ti­on des Gesel­len- und Hand­werks­so­zia­lis­mus, die Marx und Engels scharf ablehn­ten, war ein spe­zi­fisch deut­sches Phä­no­men. Man wand­te sich gegen die »Mar­ter­höh­len« (Wil­helm Weit­ling) der moder­nen Fabri­ken und stell­te das Leid der Arbei­ter poe­tisch dar, wobei, zu Mar­xens und Engels’ Leid, wie Eiden-Offe her­aus­schält, die mora­li­sche Ebe­ne immer stär­ker gewich­tet wur­de als die wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­se der dem Kapi­ta­lis­mus imma­nen­ten Klas­sen­be­zie­hun­gen. Neben Weit­ling ist es ins­be­son­de­re das Werk Georg Weerths, das auf brei­tem Raum dar­ge­stellt wird. Des­sen lite­ra­ri­sche Ver­ar­bei­tung des Streik-Topos als Kampf­form der sich selbst bewußt wer­den­den Indus­trie­ar­bei­ter, als Kampf­form des »wah­ren Sozia­lis­mus«, läßt erneut an die spä­ter fol­gen­den Aus­ar­bei­tun­gen Sor­els den­ken – die wie­der­um nicht erwähnt wer­den. Dabei könn­te gera­de mit Sor­el ver­an­schau­licht wer­den, welch dezi­diert roman­ti­sche Über­bleib­sel noch im Sozia­lis­mus des spä­ten 19. Jahr­hun­derts her­vor­tra­ten, und zwar trotz der recht erfolg­rei­chen Ver­wis­sen­schaft­li­chung der sozia­lis­ti­schen bis kom­mu­nis­ti­schen Welt­an­schau­ung durch Marx zwi­schen Vor­märz und Jahrhundertwende.

Unge­ach­tet solch klei­ne­rer Män­gel ist die for­dern­de Stu­die Patrick Eiden-Offes gewinn­brin­gend zu lesen. Anhand der roman­tisch-anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen poe­ti­schen Refle­xio­nen all der Weit­lings und Weerths wird ein ewi­ges Pro­blem der Lin­ken deut­lich: Für wen erar­bei­tet man Ideen, für wen strei­tet man? Anders: Wer ist das zu kon­sti­tu­ie­ren­de »Wir«, das gegen die »Aus­beu­ter« kon­tras­tiert wird? Wer oder was ist, zu guter Letzt, das Volk? Eine über­zeu­gen­de Ant­wort wur­de schon damals nicht gefunden.

– – –

Patrick Eiden-Offes Die Posie der Klas­se kann man hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)