Als Durs Grünbein am vergangenen Donnerstag im Dresdner Kulturpalast auf dem Podium mit dem zur Deutlichkeit aufgelegten Uwe Tellkamp aneinandergeriet (eine je länger je mehr konsterniert-überforderte Moderatorin mühte sich um ein bißchen Unernst), schälte sich eine Grundfrage heraus: Ist, was den Konsens (Konsens?) der “Gesellschaft” (wessen Gesellschaft?) stört, ausschließlich destruktiv oder gehört dieses tiefe Schneiden zur Heilkunst dazu und mag derzeit angemessen sein?
Man kann sich die Diskussion (Diskussion?) zwischen den beiden renommierten und nun in den Strudel der politischen Verwerfungen getauchten Autoren hier in voller Länge anschauen, und Grünbeins Stil ist am besten damit beschrieben, daß er das alles irgendwie “spannend” findet, während Tellkamp einfach mal alle Fragen auf den Tisch packte.
So geriet ja gleich sein Eingangsstatement: Er reihte Vorfall an Vorfall, Ungeheuerlichkeit neben Nachlässigkeit, linke Arroganz neben nichtlinke Erschütterung – ein Mosaik der vergangenen zweieinhalb Jahre in Deutschland. Weil Tellkamp das alles nun nicht in eine durchgearbeitete Form packte, sondern wie eine Materialsammlung (eine vorläufige) auf dem Tisch ausbreitete, lag es als Frage da: Was machen wir damit?
Ich kam ziemlich am Ende zu Wort, als Fragen aus dem Publikum heraus erwünscht waren, und weil es auf dem Podium anderthalb Stunden lang um den Riß gegangen war, der sich zweifelsohne quer durch die “Gesellschaft” zieht, formulierte ich eine Überzeugung als Frage: ob die Herren nicht auch der Meinung seien, daß dieser Riß noch vertieft werden müsse, weil nur mittels dieser Vertiefung alles Ungefragte und Unausgesprochene endlich auf den Tisch käme, den Tellkamp schon reichlich vollgepackt hatte, also die großen Fragen, nicht die juristischen und statistischen Details.
Durs Grünbein hörte sich das an (es blieb ihm ja nichts anderes übrig) und antwortete seinerseits mit einer Frage: ob ich Lust an der Anarchie, an diesem wilden, unschönen, zerrissenen Zustand hätte – ihm käme es so vor, er höre da einen anarchischen Ton (oder so ähnlich).
Ich konnte nicht mehr darauf antworten, die Bürgerfragestunde war ja nicht als Dialog angelegt, aber jetzt, zwei Tage vor dem Beginn der Leipziger Buchmesse, ist ein Wort dazu angebracht, oder eine Feststellung zunächst: Durs Grünbein kennt das Grundprinzip der Revolte für den Staat, die Revolte für die Ordnung nicht. Man darf es ihm wohl nicht verdenken: Woher sollte er davon Kenntnisse haben? Hat er doch als seinerzeit mutiger Opponent gegen den DDR-Staat die Wende vor allem als Befreiung herbeidemonstriert und nicht als sichernde Abgrenzung und notwendige Teil-Illiberalität (wie wir das heute fordern müssen).
Ich war nun in meinem Leben bereits drei Mal jeweils für eine recht lange und intensive Zeit in Ländern, von denen das eine am Rande der Anarchie stand (Kamerun), das zweite gerade einen grauenhaften Bürgerkrieg hinter sich gebracht hatte und im Grunde unregierbar war (Bosnien), und das dritte auf den Dörfern in manchen aufgelassenen und nun völlig anders besiedelten Landstrichen eine harte Alltagsanarchie kannte (und kennt), eine gesetzloses, ekelhaftes Recht des Stärkeren (Rumänien).
Keinen dieser drei Zustände wünsche ich mir auch nur eine halbe Sekunde lang für unser Land und unser Volk, und ich hätte Herrn Grünbein am vergangenen Donnerstag in Dresden recht knapp und schlicht antworten wollen:
Wenn das Wort “Anarchie” jenseits alimentierter Wohnprojekte von links noch irgendeine ernsthafte Beschreibungskraft haben soll, muß es auf den Zustand an den deutschen Grenzen seit August 2015 angewendet werden. Dort herrschte Anarchie, und sie herrscht bis heute, denn wir haben trotz eines nicht abreisenden Stromes illegaler Einwanderer noch immer keine Grenzkontrollen. Wir haben keinen Überblick mehr darüber, wer sich in unserem Land aufhält, wer über wieviele Identitäten verfügt und wer unseren Staat und unsere Solidarität auf kriminelle Art und Weise ausnutzt (und dadurch zugleich immer verhöhnt).
Wir haben keine Vorstellung davon, wer diesen gesetzlosen Zustand beenden könnte, wir schütteln über die neue CSU-Begeisterung für den härtesten Abschiebe-Horst aller Zeiten den Kopf, weil wir auch mit ihm bloß einen Bruchteil von der Anzahl abschieben werden, die täglich dazustößt: Denn wir haben immer noch keine geschlossene Grenze, und solange das so ist und solange die Verantwortlichen eine Grenze für einen Anachronismus und ihre Wiedererrichtung für ein Ding der Unmöglichkeit (für etwas zutiefst Unmodernes, für eine Repressalie) halten, herrscht Anarchie, punktum.
Wenn Anarchie herrscht, wo es eine Rechtsordnung gibt, die man problemlos umsetzen könnte, muß man als Verteidiger der Ordnung und als Gegner der Willkür jeden Konsens stören, der sich in der Politik oder auf einem Podium breitzumachen anschickt. Man muß den Riß begrüßen wie der Geologe einen Aufschluß am Gestein:
Es muß sichtbar werden, was sich da abgelagert hat in den vergangenen Jahrzehnten, sedimentiert aus Utopie, Verantwortungslosigkeit, Verkennung des Menschen, Experimentierwut und Verachtung des Eigenen.
Jemanden, der das Mindestmaß an Staatlichkeit noch verteidigen will, nach seiner Lust an der Anarchie zu fragen, bedeutet, das Anarchistische im Regierungshandeln nicht wahrgenommen zu haben. Ordnung, Recht und Sicherheit werden nicht mehr von oben her gewährleistet, sondern wiederum von jener Schicht irgendwo in der Mitte dieser “Gesellschaft”, die sowieso alles stemmt und leistet. Deren drängenden Wunsch nach Infragestellung der Verantwortlichen ist das Gegenteil von “Lust auf Anarchie”. Deren drängender Wunsch ist vielmehr eine tragfähige und verläßliche Antwort auf existentielle Fragen – und kein weiteres Hinhalten mit geschmeidigen Sprüchen.
RMH
Vergleichbar, aber harmloser formuliert als "dramatischer Riss", könnte man in Anlehnung an ein Kapitel in Nietzsches "Also sprach Zarathustra" auch von den Tugendlehrern des Schlafes und den Aufgeweckten sprechen. Im Kapitel 13 des Werkes "Also sprach Zarathustra", "Von den Lehrstühlen der Tugend" finden sich folgende Weisheiten des "Tugendlehrers":
"Friede mit Gott und dem Nachbar: so will es der gute Schlaf. Und Friede auch noch mit des Nachbars Teufel! Sonst geht er bei dir des Nachts um.
Ehre der Obrigkeit und Gehorsam, und auch der krummen Obrigkeit! So will es der gute Schlaf. Was kann ich dafür, dass die Macht gerne auf krummen Beinen wandelt?
Der soll mir immer der beste Hirt heißen, der sein Schaf auf die grünste Aue führt: so verträgt es sich mit dem gutem Schlafe.
Viel Ehren will ich nicht, noch große Schätze: das entzündet die Milz. Aber schlecht schläft es sich ohne einen guten Namen und einen kleinen Schatz.
Eine kleine Gesellschaft ist mir willkommener als eine böse: doch muss sie gehn und kommen zur rechten Zeit. So verträgt es sich mit gutem Schlafe.
Sehr gefallen mir auch die Geistig-Armen: sie fördern den Schlaf. Selig sind die, sonderlich, wenn man ihnen immer Recht giebt."
Mir kommt es so vor, als ob der Herr Grünbein ist ein solcher Tugendlehrer sein könnte und der Herr Tellkamp eben kein Schläfer ...
Unsere herrschenden Diskursführer sind wahrlich die "letzten Menschen" Zarathustras.
https://gutenberg.spiegel.de/buch/also-sprach-zarathustra-ein-buch-fur-alle-und-keinen-3248/6