Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt, Stuttgart: Klett-Cotta 2015. 495 S., 29.95 €.
Angesichts aufsteigender Mächte in Asien und vor dem Hintergrund zunehmender islamischer Kontingente in den ehemals »Abendland« genannten Regionen kann die drängende Frage nach dem Eigenen Europas nicht erstaunen: Was begründet unser Wertesystem? Was steht im Zentrum unserer Überlieferung? Zu denjenigen, die neue Zugänge zu diesem Thema suchen, zählt der Oxforder Politiktheoretiker Larry Siedentop. Bereits vor einiger Zeit erregte er Aufsehen mit seiner These von der engen Verbindung von Christentum und moderner Demokratie. Nunmehr geht er den älteren Wurzeln des Liberalismus nach, die weit vor der Epoche der Aufklärung Konturen annahmen.
Siedentop zeigt, wie die junge Kirche im Laufe von Jahrhunderten den antiken Geisteskosmos und die Alltagswelt umformte. Paulus gilt ihm als maßgeblicher Katalysator von Individuationsprozessen. Seine Vorstellung von der Gleichheit vor Gott griff zwar erst spät auf rechtliche, politische und soziale Strukturen über, war aber eine grundlegende Voraussetzung für weitreichende Umwälzungen. Ursprünglich stand das Christentum, bei Siedentop materialreich untermauert, sogar für Frauenemanzipation. Von dieser Perspektive aus ist ein Bogen zu schlagen, der von Augustinus und von der Erziehungsfunktion des mittelalterlichen Mönchtums über das Naturrecht, die Reformation und den Humanismus bis zu bestimmten Ansätzen des aufgeklärten Denkens reicht.
Der Säkularismus ist der Moderne liebstes Kind. Siedentop untersteht sich, ihm das Gütesiegel auf legitime Verweltlichung streitig zu machen. Er definiert Menschsein in einem famosen Schlußkapitel als freie, verantwortliche Entscheidungsfähigkeit. Hier kommt eine tief moralische Dimension des Verständnisses von Säkularismus ins Spiel. Dieses christliche Erbe verhindert Entstellungen des Liberalismus, wie sie sich im Marktradikalismus und im asozialen Individualismus zeigen. Siedentop ist die erste Adresse unter den europäischen Ideenhistorikern, wenn es darum geht, genealogische Fehlinterpretationen aufzudecken. Man darf seinen Gedanken weite Verbreitung wünschen, wenngleich bei genauerem Hinsehen deutlich wird, daß die Linien komplizierter sind, als Siedentop sie oft darstellt.
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