Mein Interesse gilt seit längerem der Hilflosigkeit des bürgerlichen Menschen gegenüber linken Gleichheitsforderungen. Die Gedankengänge, in denen der bürgerliche Mensch eine Welt verarbeitet, deren Wesen sich seiner Moral verweigert, sind viel faszinierender als die neuesten Sophistereien und Talmudismen der Linken.
Die bürgerliche Dummheit, die gegenüber der politischen Konsequenz und Durchsetzungsstärke der Linken immer aufs neue erschreckend versagt, ist nicht Mangel an Intelligenz, sondern Inkonsequenz und als solche zu erstaunlichen, wenn auch frustrierenden Paradoxien fähig.
In Sezession 82 arbeitet Lothar Fritze Folgendes als den Kern des Gerechtigkeitsverständnis Karl Marxens heraus:
Dem kommunistischen Verteilungsprinzip liegt damit nicht nur eine moralische, sondern auch eine metaphysische Intuition zugrunde – die implizite Annahme nämlich, daß der Einzelne für seine Entscheidungen und sein Handeln nicht verantwortlich ist und es deshalb nicht gerechtfertigt wäre, wenn er die daraus resultierenden Folgen zu tragen hätte. […] Das kommunistische Verteilungsprinzip zielt auf die Kompensation aller Ungleichheiten ab, die durch individuelle Dispositionen, Zufälle, Widerfahrnisse, die durch Erbschaft oder persönliches Handeln und Unterlassen entstehen.
Fritze kritisiert dieses kommunistische Verteilungsprinzip mittels der klassischen bürgerlichen Antwort auf linke Gleichheitsforderungen: der Unterscheidung zwischen Gleichstellung und Gleichberechtigung, zwischen einer abzulehnenden Ergebnisgleichheit und einer gebotenen Chancengleichheit. Von dort spannt er schließlich den Bogen zur heutigen Forderung nach weltweit unbegrenzter Niederlassungsfreiheit.
Fritzes Kritik an Marx kann man gut als die theoretisch hochwertige Version der Haltung behandeln, die die Masse der bürgerlichen Mitte gegenüber linken Forderungen nach Gleichheit an den Tag legt: nicht prinzipiell ablehnend, aber seine Orientierung am Leistungsprinzip anmahnend.
Aufgrund seiner begrifflichen Klarheit lassen sich an Fritzes Marxkritik hervorragend die beiden Probleme dieser Haltung herausarbeiten, die nicht wenig dazu beitragen, daß die bürgerliche Mitte sich der Linken gegenüber seit Jahrzehnten als hilflos erweist.
Das erste Problem ist ein theoretisches, das zweite betrifft das Empfinden der Moral. In diesem Teil befassen wir uns mit dem theoretischen Problem:
Die theoretische Trennung zwischen Gleichberechtigung und Gleichstellung ist nur durch eine normativistische Rechtsauffassung haltbar. Bei der Gleichberechtigung in diesem Sinne handelt es sich um die Gleichheit vor dem Gesetz. Bedauerlicherweise befaßt sich in der deutschen rechtsintellektuellen Szene, vom Außenseiter Reinhold Oberlercher abgesehen, kaum einer mit der Unterscheidung zwischen Recht und Gesetz.
Man muß jedoch nicht Oberlerchers gesamter Theorie folgen, um einzusehen, daß zwischen Gesetzen und Rechten ein wesentlicher Unterschied besteht. Gesetze sind Normen, also Sollaussagen. § 325 BGB ist eine solche Sollaussage:
Das Recht, bei einem gegenseitigen Vertrag Schadenersatz zu verlangen, wird durch den Rücktritt nicht ausgeschlossen.
Eine solche Sollaussage kann für alle gleichermaßen gültig sein. Das bedeutet Gleichheit vor dem Gesetz. §325 BGB gilt für alle Menschen im Geltungsbereich des Bürgerlichen Gesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland, auch für diejenigen, die niemals in die Position kommen werden, Schadensersatz im Zusammenhang mit einem Vertrag zu verlangen, von dem sie zurückgetreten sind.
Ein Recht hingegen ist immer das Recht einer bestimmbaren Person und es hat einen ebenso bestimmbaren Gegenstand (in Oberlerchers Terminologie eine „Naturalie“). Leicht einzusehen ist dies im Falle von Eigentumsrechten im umgangssprachlichen Sinn dieses Wortes: dem Sacheigentum. Dieses besteht darin, daß die Gesellschaft die Verfügungsgewalt einer bestimmten Person über eine bestimmten Sache anerkennt.
Dieser Vorgang läßt sich aus logischen Gründen nicht aus einer Norm ableiten, die für alle gleichermaßen Geltung haben soll. Denn dabei könnte es nie einen Grund geben, warum der Eine und nicht der Andere Eigentümer dieser Sache wird. Gesetze können nur die Übertragung von Eigentum regeln (was ist ein legitimer Kaufvertrag?), aber nicht seinen Ursprung.
(John Lockes Versuch einer naturrechtlichen Ableitung des Eigentums aus der menschlichen Arbeit geht bewußt von der irrealen Annahme der Unbegrenztheit der vorgefundenen Arbeitsmaterialien, vor allem von Grund und Boden aus.)
Juristen erkennen dies übrigens in der Weise an, daß sie Eigentumsverhältnisse durch die Methode der sogenannten Märchenerzählung ermitteln: „Es war ein mal ein Eigentum … und wenn der ursprüngliche Eigentümer das Eigentum nicht verloren hat, dann hat er es noch heute.“
Sie legen einen Zeitpunkt fest, vor dem die Eigentumsverhältnisse zwischen den Streitparteien nicht strittig sind. Von dort aus ermitteln sie anhand der Gesetze, ob das Eigentum von einem Eigentümer auf einen anderen Eigentümer übergegangen ist. Damit umgehen sie das Problem, daß das als ursprünglich zugrundegelegte Eigentumsverhältnis sich aus keinem Gesetz herleiten läßt.
Für die Prozeßführung ist dies die einzig sinnvolle Lösung. Für die Verteidigung der bürgerlichen Mitte gegen linke Gleichheitsforderungen reicht das hingegen nicht. Das Meinungsmillieu, das man heute die bürgerliche Mitte nennt, beruht selbst auf dem Gleichheitsideal von 1789. Weil Rechte von Personen sich nie aus Normen herleiten lassen, ist es der Linken immer möglich, die bürgerliche bloße Gleichheit vor dem Gesetz als Chimäre oder Betrug zu entlarven.
Marx war nur der folgenreichste in der weiten Reihe derer, die richtigerweise darlegten, wie die Versprechungen, die an die Gleichheit vor dem Gesetz geknüpft sind, durch die Ungleichverteilung der Rechte wieder aufgehoben werden.
Eine die Gleichheit zum moralischen Wert erhebende Gemeinschaft kommt deshalb nie um die Konsequenz herum, daß aus der Forderung nach der Gleichheit vor dem Gesetz die nach der Angleichung der Rechte wird. Auf der Basis des von beiden geteilten Gleichheitsideals hat der Linke gegenüber dem Bürgerlichen immer recht.
Maiordomus
Auf der Basis dieser durchaus vielversprechenden Exposition lässt sich noch nicht inhaltlich über diesen Essay debattieren. Dass diejenigen, die aufgrund von Eigentum, Arbeit und auch als Nettozahler eines Systems der bürgerlichen Gesellschaft "Spiesser" genannt wurden und zum Teil immer noch so genannt werden, gehört zu den Vorurteilen von Intellektuellen und Künstlern. Es scheint mir mit ein Grund zu sein, warum diese oft nach links abdriften. Bei sogenannten Konservativen Revolutionären gehörte indes das antibürgerliche Vorurteil stets dazu, vgl. den jungen und frühen Ernst Jünger. Auch der junge Marx verstand sich zunächst mal wie damalige Burschenschaftler als antibürgerlich und antiphiliströs.