Es besteht kein Zweifel daran, daß unser tradiertes Verständnis einer normativen Kultur durch die tiefgreifenden Umwälzungen der Moderne aufgelöst worden ist. Doch gibt es auf dem Feld der Kultur noch Hoffnung? Werden sich in Zukunft neue Möglichkeiten zur Gestaltung eröffnen? Der promovierte Philosoph Alexander Grau meint: nein – und rehabilitiert den in Mißgunst geratenen Begriff des Kulturpessimismus. Grau zeigt dabei, daß Kulturpessimismus nicht als Frage der politischen Haltung, sondern als ein Grundvorgang der Moderne zu verstehen ist.
Zuletzt analysierte der Cicero-Autor in seinem 2017 erschienenen Essay Hypermoral. Die Lust an der Empörung die gesellschaftlichen Mechanismen der spätmodernen Massengesellschaft. Jetzt konfrontiert uns Grau mit dem Zustand unserer eigenen Kultur. Seine Prognose fällt düster aus. Die Kultur gehört zur Natur des Menschen, sie ist auf einen Impuls zurückzuführen, mit dem sich der Mensch gegen seine eigene Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit auflehnt, so Graus Definition. Dadurch entstehe zugleich ein Ordnungssystem, das der Natur entgegengesetzt werde, um somit Orientierung im chaotischen Naturzustand zu bieten. Kultur als »Symbolsystem« (Clifford Geertz) wirkt dabei sowohl integrierend als auch segregierend.
Durch eine in den »spätkapitalistischen Wohlstandgesellschaften« einsetzende Dynamik der globalen Vernetzung würde diesem klassischen Kulturbegriff jedoch der Boden entzogen. Die Transformation der Kultur ist nach Grau auf einen »falsch verstandenen Individualismus« einerseits und die »Heterogenisierung« der Gesellschaft andererseits zurückzuführen. Um diesen Prozeß zu veranschaulichen, führt uns Grau durch die europäische Ideengeschichte und zeigt, daß die »Phase der Postkulturalität« in der wir jetzt leben, einen »notwendigen Entwicklungsschritt« markiert. Dabei helfen Geistesgrößen von T. S. Eliot bis hin zu Theodor W. Adorno. Sie zeigen: Die Tendenz zur Auflösung liegt in uns selbst.
In einer fortschrittsorientierten Gesellschaft kann die Kultur nur als ein zu überwindendes Relikt der Vergangenheit verstanden werden. Grau geht allerdings noch einen Schritt weiter und konstatiert, »Gesellschaften ohne Kultur sind möglich« – sie werden die Zukunft bilden. Deshalb finde der moderne Mensch auch seinen Sinn nicht in der Überwindung der Endlichkeit, sondern in dem genauen Gegenteil, in der Verherrlichung derselben. Der Kulturpessimismus sei somit die letzte Möglichkeit, »die Würde des Menschen zu wahren.«
Grau gelingt es, den Kulturpessimismus von seiner verklärenden Nostalgie zu befreien und in einen zeitgenössischen Kontext zu setzen. Der Leser wird auf die Herausforderungen und Entwicklungen eines auseinanderfallenden Kulturbegriffs hingewiesen. Doch stehen wir wirklich auf verlorenem Posten, löst der Verlust der klassischen kulturellen Symbole auch zwangsläufig den Gestaltungswillen des Menschen auf?
Alexander Grau: Kulturpessimismus. Ein Plädoyer, Springe: zu Klampen 2017. 157 S., 16 € – hier bestellen