Der preußische König Friedrich Wilhelm I. führte 1717 die Schulpflicht ein. Er legte damit einen Grundstein für die sprunghaften wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts und den Kriegsvorwehen verschoben sich die Prämissen erstmals. Garantierte die Schulpflicht anfangs das Erlernen von Grundfähigkeiten und Allgemeinwissen, häufig auch die Alphabetisierung breiter Volksschichten, nutzten moderne Staaten den umfassenden Zugriff auf alle Kinder und Jugendliche später als gesellschaftlichen Gleichrichter.
Mit jedem neuen Totalitarismus wurde an den Schulen ein immer neuer Mensch gelehrt, der sich paßgenau und reibungslos einfügen sollte. Lautete die Devise des preußischen Schulsystems »belohnt wird, wer etwas leistet«, lehrten die modernen Schulsysteme das Prinzip »belohnt wird, wer sich anpaßt«. Deutschland und das westliche Europa haben die Schwelle zu einem neuen Totalitarismus spätestens 2015 überschritten. Im gleichen Jahr erschien Michel Houellebecqs Soumission.
Darin wird Ben Abbes, ein führendes Mitglied der Muslimbrüder, zum französischen Staatspräsidenten gewählt. Innerhalb seiner Regierung beanspruchen seine Muslimbrüder jedoch nur das Bildungsministerium: Wer die Jugend hat, bestimmt über die (totalitäre) Zukunft. Ob nun Realität oder Fiktion – »belohnt wird, wer sich anpaßt« bedeutet heute mehr denn je, daß das Erlernen von sozialen Anpassungskompetenzen an Schulen einen zunehmenden Stellenwert einnimmt und nicht selten über die Notengebung mitentscheidet. Mit Blick auf das deutsche Schulsystem kritisiert das der Lehrer Oliver Hauschke in seinem Buch Schafft die Schule ab. Er stellt fest: »Es ist die Art und Weise, wie Schule, die Fächer und das Lernen heute immer noch sind. Es ist die strenge und unsinnige Kategorisierung nach Fächern und Schulzweigen, die Besserwisserei von Lehrkräften, die auch noch das letzte Haar in der Suppe suchen und dabei oft das Positive übersehen.«
Rückblickend auf 20 Jahre an verschiedenen Stellen im deutschen Schuldienst kritisiert er, daß sich das Schulsystem vor allem dadurch selbst am Leben erhält, indem es sich aus Anpassern rekrutiert sowie jede Veränderung und Kritik mit Hinweis auf die eigene Erfolgsgeschichte und Unfehlbarkeit wegbügelt. Hauschke fordert deshalb, die Schule nicht zu reformieren, weil sie nicht reformierbar ist, sondern als Institution abzuschaffen und »Lernorte« zu etablieren, an denen Schüler (freilich unter Fortgeltung der Schulpflicht) ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechend, entdeckend und selbstbestimmt lernen, dafür aber keine Noten mehr erhalten.
Man könnte lächelnd einwenden, wie genau das denn realisiert werden soll, wer den immensen Bedarf an Lehrern deckt, die allen Interessenlagen der Schüler entgegenkommen können und auch, nach welchen Kategorien der Arbeitsmarkt dann Einstellungen vornimmt, wenn es weder Noten noch Zeugnisse mehr geben soll. Die Kritik an diesem absolut notwendigen Diskurs um das deutsche Schulsystem muß viel weiter gehen: Hauschke blendet nämlich, und das macht sein Buch trotz seiner wichtigen Botschaft zu einem enorm schlechten Buch, alle gesellschaftlichen und noch wichtiger: alle wirtschaftlichen Bedürfnisse an das Schulsystem aus. Für ihn leben wir in einer Gesellschaft aus Freiheit, Gleichheit, Pluralität und Demokratie. Zu unserem Glück brauchen wir nur noch ein gutes Schulsystem. Als Prototyp des Oberstudienrates ignoriert er damit die Realität.
Daß wir längst in einer »Demokratiesimulation« (Martin Sellner) leben, paßt nicht in sein Weltbild. Deswegen interessiert ihn auch nicht, daß die Schulsysteme der westlichen Welt die Aufgabe haben, angepaßte und ortlose Individuen zu formen, die sich traditionslos und kosmopolitisch in das Heer des weltweiten Wohlstandsproletariates einreihen, um heute in Berlin und morgen in Dubai ohne Reibungsverlust die gleichen Arbeiten verrichten zu können und das damit erwirtschaftete Einkommen unmittelbar über den Konsum der Weltwirtschaft zurückzugeben. Die größte gesellschaftliche Herausforderung ist für Hauschke folglich der Klimawandel, nicht etwa der aufkeimende Totalitarismus, der über den stattfindenden Bevölkerungsaustausch die Abschaffung der Demokratie unumkehrbar und die Schule zu einem Ort der krassen Umerziehung macht. Solche Themen blendet Hauschke aus, sonst passen die Thesen nicht mehr zum festgesetzten Intervall. Er legt stattdessen Wert auf die geschlechtergerechte Schreibweise von »Schüler / innen«.
Oliver Hauschke: Schafft die Schule ab. Warum unser Schulsystem unsere Kinder nicht bildet und radikal verändert werden muss, Berlin: mvg Verlag 2019. 224 S., 16,99 € – hier bestellen