Wir hatten zunächst wegen unseres Umzugs und Hauskaufs viel mit Ämtern zu tun. An den harschen Ton (durchgängig!) mußten wir uns gewöhnen.
Aus Dresden, wo wir zuvor wohnten, waren wir anderes gewöhnt als barsche, bellende, sofort aggressive Stimmen. Relativ rasch lernten wir hier, daß es hilft, wenn man zunächst ruhig und höflich bleibt, dann aber, bei der dritten mürrischen Antwort einen anderen Ton anschlägt.
Traurig – aber ist so & bewährt sich bis heute. Ähnlich in Supermarkt, Schule, öffentlichen Verkehrsmitteln. Eigentlich will ich überhaupt nicht, daß die Leute strammstehen vor mir. Aber grundlos angeblökt werden – mag doch keiner?
Unsere Kinder sind damit großgeworden, daß es eines besonderen kommunikativen Geschickes bedarf, um in Sachsen-Anhalt mit Leuten des öffentlichen Dienstes, mit Handwerkern, Kassiererinnen und selbst Ärzten klarzukommen. Sie kennen es kaum anders. (Meine Heimat, Rhein-Main, ist auch kein überfreundliches Gebiet – aber kein Vergleich zu Sachsen-Anhalt!)
Nun waren wir wieder in England. Wie so oft kommen wir mit völlig anglophilen Kindern zurück. „Die sind sooo nett! Alle!“- „ Die hat einfach so ‘Darling´ zu mir gesagt! Dabei hab ich mich echt blöd angestellt!“ –„Mama, das stimmt nicht, was Du immer sagst mit dem ‘Ressentiment´! Oder es stimmt nur für Sachsen-Anhalt… Hier in England aber sind auch die einfachsten Leute supernett! Die Putzfrauen, die Busfahrer, alle!“
Stimmt. (Allerdings kennen wir nur Englands Süden. Und Kubitschek runzelt ohnehin die Stirn: „Talk smart, act hard“, das sei einfach „…. keine deutsche Mentalität.“ In Wahrheit kommt K. aus Oberschwaben und kennt süßliches Gerede sehr gut!)
Wir müssen nun argumentative Schleifen drehen, um die Heimat unserer Kinder zu rechtfertigen. Klappt mäßig. Mit einigem Aufwand kann man das hiesige Idiom als irgendwie „erdigen Charme“ zurechtdrehen. Sachsen-Anhalt bleibt irgendwo doch der Keller der Nation. Die Besenkammer.
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23. Oktober 2019
Beim Flanieren durch die Verlagsstände auf der Buchmesse tippte mich einer zart an. Er ist 58 (hab ich nachher gegooglet) und findet mich „ wahnsinnig interessant“.
Er habe in der vergangenen Viertelstunde mein Verhalten beim Bücherbeschauen beobachtet (eigentlich bereits übergriffig, oder?) und bitte um Pardon.
Er spräche eigentlich nie fremde Frauen an. Ich nun hätte allerdings ausgerechnet zu jenen Büchern interessiert gegriffen, die ihm, Professor der Kunstgeschichte, selbst auch lesenswert erschienen. Das sei doch eine Art Magie! Oder?
Naja. Er: Kein unsympathischer Mensch; so mittel. Er lädt mich auf einen Kaffee ein. Er sei „enthusiasmiert“ von meiner „Weiblichkeit“, ohje. Ich habe eh gerade Kaffeedurst.
Ich bin skeptisch. Was er auch immer sagt, hinterfrage ich. Er findet jeden Einwand von mir „großartig“. Wir tauschen Visitenkarten aus. Abschiedsküßchen – oh bitte nicht! Notdürftig abgewendet.
Heute seine mail, nachdem er mich “im Netz aufindig gemacht” habe: „Geehrte Frau K., nun bin ich im Bilde, wie man so sagt. Ich kenne jetzt ihren Hintergrund. Sie sind eine großartige Fälscherin. Bitte streichen Sie mich von der Liste Ihrer Bekannten.“ Hm. Kein Schaden.
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25.Oktober 2019
Ohgott, meine Vergangenheit holt mich ein. Was ist nämlich ab heute Pflichtlektüre für meine Tochter im Deutschunterricht? Myron Levoy: Der gelbe Vogel.
Ich kenne das Buch. Ich war ähnlich alt wie meine Tochter, als ich es las. Ich las nicht nur etliche Bücher von Myron Levoy, ich las ohnehin wie eine Besessene. Vor allem war es zu 80% ähnlicher Stoff: Zweiter Weltkrieg, Drittes Reich, Hitler, Kaninchen, den ganzen Kanon rauf und runter. Es war wie ein Sog. Das war andererseits kein Wunder – die Regale des Bücherbusses waren voll davon.
Ich bin sicher, auch diese Überdosis an Opferbüchern haben mich zu dem gemacht, was ich bin, hat mich auf die Gedanken gebracht, die ich denke. Insofern sind es natürlich keine wirklich schlechten Lektüren.
Grad Der gelbe Vogel, wiewohl x‑fach ausgezeichnet, ist mir aber nicht in guter Erinnerung. Worum geht’s? Klappentext: „Naomi steht unter Schock, weil sie mit ansehen mußte, wie ihr Vater von den Nazis erschlagen wurde.“
Viel mehr muß man nicht wissen. Es ist ein dröges Buch: „Shaun Kelly und er stritten sich auf dem Schulweg endlos darüber, wer oder was besser ist, die P‑40 oder die Spitfire. Die Baseballmannschaft der Yankees oder die Brooklyn Dodgers. Sie sprachen über Schlagball und ihre Modellflugzeuge. Sie erzählten sich die neuesten dreckigen Witze.“ Usw., usf. Naomi sagt dauernd “ukay”, was soll das bedeuten?
Ich hoffe, meine Tochter muß nicht Position beziehen zu Spitfire, Yankees, ukay oder dreckigen Witzen.
Ich meine: Dieses Buch ist 42 Jahre alt. Es ist eine Übersetzung. Insofern ist es genausowenig ein Buch für den Deutschunterricht wie es eine Übersetzung der Schatzinsel, von Robinson Crusoe und Don Quijote wären.
Sollte es im Deutschunterricht – und grad im Spektrum „Literatur“! – nicht zuvörderst um Sprachkunst, Stilvermögen, Epochales gehen? Aber nein, abseitiges, sekundäres Geplärre zieht mehr. Hier geht es um „du Arschloch!“, „Halt’s Maul“, „Schisser“. Und dennoch hat diese Lektüre offenkundig die höhere Moralität für sich.
Tochter: „Die Frau L. [Deutschlehrerin] hat gesagt, wir lesen das jetzt wegen Halle.“
Was soll man da noch sagen? Schöne Grüße an Vorgestern! An den hohlen Reflex, an die Hilflosigkeit!
Das nun soll hier nicht fehlen: Was Kinder und Jugendliche nach Meinung von Caroline Sommerfeld und mir wirklich lesen/vorgelesen bekommen sollten: Ausführlich hier!
Lotta Vorbeck
"... nun bin ich im Bilde, wie man so sagt. ... Bitte streichen Sie mich von der Liste Ihrer Bekannten.“
Auch in den benachbarten, an den anhaltinischen Keller der Nation grenzenden Besenkammern bezeichnete man dererlei "Verehrer" einst als "Schleimscheißer".