1918 beschließt die Provisorische Nationalversammlung im Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich, dieses sei »Bestandteil der deutschen Republik«. 2018 fördert der Österreichische Rundfunk im Zuge einer allgemeinen Medienkampagne gegen Burschenschaften Ungeheuerliches zu Tage: »Der Obmann posiert vor einer Deutschlandflagge«.
Dazwischen liegen 100 Jahre, darunter das dreckige Dutzend, an dem die Nation bis heute krankt, sowie die Kreierung einer spezifisch österreichischen Erzählung – als Spätfolge der sieben Jahre Zugehörigkeit zum Dritten Reich nach dem Anschluß am 12. März 1938 vor genau 80 Jahren, der Wasserscheide der Geschichte Österreichs und seines nationalen Bekenntnisses.
Die auf Karl den Großen zurückgehende bairische Besiedlung der Marcha orientalis ist ebenso unbestritten, wie daß die Österreicher mit Ausnahme der Minderheiten und jener, die später »neu dazugekommen sind«, der deutschen Ethnie angehören. Diese Zugehörigkeit besteht unabhängig von gegenläufigen Zugehörigkeitsempfindungen insbesondere nach der Katastrophe von 1945; jene innerdeutsche von 1866 hingegen führte zu keiner Neubewertung, im Gegenteil: Gerade den zentralen Identifikationsfiguren eines erst viel später als Negation des deutschen lancierten österreichischen Nationalbewußtseins, war ein solches fremd.
Der von Friedrich Nietzsche bis Karl Kraus verehrte Adalbert Stifter, den das Entsetzen über den »Wahnsinnsfrevelkrieg zwischen Deutschen« körperlich erkranken ließ, äußerte: »Könnte ich dem deutschen Vaterland volles Glück geben, ich würde freudig dafür mein Leben opfern«. Der »Dichter Österreichs«, Franz Grillparzer, obwohl über 40 Jahre im österreichischen Staatsdienst, schrieb an Kaiserin Augusta von Sachsen-Weimar: »Tochter Weimars! Dort ist trotz Main- und Rheinlinie das wahre Vaterland jedes gebildeten Deutschen und als solchen mich erachtend unterzeichne ich mich als (…) gewissermaßen Ihr Untertan ehrfurchtsvoll Franz Grillparzer«. Die als Jubiläums-Stadttheater errichtete heutige Wiener Volksoper, zeigt eine Widmungsinschrift als »Pflegestätte deut- scher Kunst« und auf der Bühne regelmäßig Werke Mozarts, im Fürsterzbistum Salzburg geboren, dessen Erzbischof bis heute den Titel Primas Germaniae führt.
Als klassisches Beispiel der Verwechslung von Staatsbürgerschaft und Nationalität wird der Komponist heute sowohl von Österreich, als auch der BRD beansprucht, was im Zuge einer ZDF-»Bestenliste« für erhebliche Verstimmung im Nachbarland sorgte; hier wiederum zierte, als Tiefpunkt dieser betrüblichen Parenthese, vor einigen Jahren Schlagersternchen Conchita Wurst, die als Frau gewandete, aber vollbärtige Kunstfigur eines homosexuellen Transvestiten, die Spitze einer Reihung der bedeutendsten Österreicher. Während um einen weiteren Bartträger eher ein negativer Kompetenzkonflikt herrscht, dient Kaiser Franz Joseph paradoxerweise auch 100 Jahre nach Gründung der Republik als Kristallisationspunkt von deren heutigem österreichischen Nationalbewußtsein; dabei hatte dieser an seiner deutschen Nationalität nie einen Zweifel gelassen. Den Tag der Huldigung durch die Fürsten des wilhelminischen Kaiserreichs aus Anlaß seines sechzigjährigen Thronjubiläums hatte Franz Joseph als »den vermutlich schönsten« seines langen Lebens bezeichnet; ebenfalls 1908 entgegnete er dem englischen König Edward VII., als dieser ihn von einem Bündnis mit dem Deutschen Reich abzubringen versuchte: »Sir, ich bin ein deutscher Fürst.«
Die Fassade des Wiener Konzerthauses schließlich ziert die Inschrift »Ehrt eure deutschen Meister – Dann bannt ihr gute Geister« aus Wagners Meistersingern, wo Hans Sachs fortsetzt: »Und gebt ihr ihrem Wirken Gunst, / zerging in Dunst / das Heilge Römsche Reich, / uns bliebe gleich / die heilge deutsche Kunst!« Bald nach Eröffnung des Konzerthauses 1913, zergingen denn auch im Weltkrieg beide Nachfolgereiche des römisch-deutschen; sämtliche Truppenteile der »Gemeinsamen Armee« – neben dem Kaiser zweite Klammer der Doppelmonarchie –, die nicht aus den Ländern der ungarischen Krone stammten, wurden als »deutsche Regimenter« bezeichnet.
Während also schon bisher das Bekenntnis zum deutschen Volkstum selbstverständlich und allgemein gewesen war, wurde dies 1918 auch der Wunsch nach dem Anschluß. Als Grundlage sollte das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« des US-amerikanischen Präsidenten Wilson dienen. Darauf berief sich auch die Provisorische Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten des alten Reichsrats, die Wilson alsbald mitteilten, daß sich nun »auch die deutsche Nation in Österreich als ein selbständiger Nationalstaat« konstituiere und »(…) alle jene Gebiete des bisherigen Österreich« beanspruche, »in denen Deutsche die Mehrheit (…)« bildeten – mit dem Staatsziel eines baldigen Anschlusses.
Besonderen Eifer zeigte diesbezüglich die Sozialdemokratie und deren bis heute säulenheilige Gründerväter und Führer Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer – beide Burschenschafter – sowie Staatskanzler Karl Renner und Otto Bauer, der parlamentarische Anschlußgegner als »Hoch- und Landesverräter« bezeichnete. Daß die reichsdeutschen politischen Verhältnisse ge- eignet schienen, den eigenen sozialrevolutionären Weizen zum Blühen zu bringen, wird dabei nicht als Nachteil betrachtet worden sein. Nach regem, einmütigem Austausch zwischen beiden Parlamenten, fixierten die Außenminister Bauer und Brockdorff-Rantzau ein Protokoll über den künftigen Anschluß-Staatsvertrag, das unter anderem Wien als zweite Hauptstadt vorsah. Das von der Konstituierenden Nationalversammlung verabschiedete und vom jüdischen Rechtspositivisten Hans Kelsen ausgearbeitete, bis heute gültige Bundes-Verfassungsgesetz, stand entscheidend unter dem Vorbehalt des Anschlusses und seiner reibungslosen Durchführbarkeit.
Dazu sollte es aufgrund der Anschlußverbote in den Diktaten von Versailles und St. Germain vorläufig nicht kommen – »eine klarere Verleugnung des angeblichen Selbstbestimmungsrechts ist kaum zu denken«, so der damalige US-Außenminister Lansing. Selbst Prälat Hauser, Vorsitzender der traditionell am wenigsten national gesinnten Christlich-Sozialen, formulierte darauf: »Uns wird die Zuflucht zu unserer Mutternation, zur Mutter Germania verweigert.« Nun wurde auch der Name Deutschösterreichs – alternative Vorschläge hatten vor seiner Einführung Deutsches Bergreich, Donau-Germanien oder Hochdeutschland gelautet – zugunsten des in den Pariser Vorortverträgen verwendeten Republik Österreich fallengelassen; die Sozialdemokratische Arbeiter-Partei Deutschösterreichs hingegen behielt diesen Namen bis 1933 bei.
Das Verdikt der Siegermächte zwang die betroffenen Regierungen auf die diskretere Ebene der Rechts- und Wirtschaftsangleichung. Aber selbst das Wiener Protokoll von 1931 über eine Zollunion unter Wahrung der vollen Unabhängigkeit wurde 1931 von Frankreich dem Völkerbund und von diesem dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt, der denkbar knapp dessen Vereinbarkeit mit St. Germain verneinte. Die Parteien und Volksvertreter aber überboten einander weiterhin in ihren Anschlußforderungen; auch das Volk drängte vehement in diese Richtung, was zwei Abstimmungen mit lediglich demonstrativem Charakter, aber um so deutlicheren Ergebnissen von schon damals etwa 99 Prozent in Tirol und Salzburg 1921 zeigten; der »Österreichisch-Deutsche Volksbund«, Anschluß als einziger Zielsetzung, zählte etwa 1,3 Millionen Mitglieder. war insgesamt die Konstante im unruhigen politischen Leben der ersten Republik.
Gegensätze zwischen Christlichsozialen, Sozialdemokraten und Deutschnationalen hingegen verschärften sich im wirtschaftlich gebeutelten
»Restösterreich« zusehends; sie mündeten erst in die langem absehbare blutige Auseinandersetzung zwischen der christlich-sozialen Regierung und der Sozialdemokratie bzw. dem Österreichischen Bundesheer und den Heimwehren einerseits und dem Republikanischen Schutzbund andererseits. Nach dessen Niederschlagung kam es 1934 zur Erlassung einer neuen Verfassung und Einrichtung je nach Sichtweise autoritären oder »klerikalfaschistischen« Ständestaats unter der Führung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der im selben Jahr dem letztlich gescheiterten Juli- putsch der illegalen NSDAP zum Opfer fiel. Sein Nachfolger Schuschnigg regierte auf schmaler, schwindender Machtbasis gegen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten, während deren Zulauf und der stets virulent gebliebene Anschlußwunsch durch die zunehmende Strahlkraft des Dritten Reichs aufgrund dessen wirtschaftlicher und außenpolitischer Erfolge stetig wuchs. Das Berchtesgadener Abkommen, tatsächlich ein Diktat Hitlers an Schuschnigg, zwang diesen, führende Nationalsozialisten auf Schlüsselpositionen der Regierung zu berufen. Als Schuschnigg sich mit äußerst fragwürdiges Plebiszit zur Unabhän-
durchzuführen, wurde er zu dessen Absage sowie zum Rücktritt gezwungen, und nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 12. März war der Anschluß Österreichs formal am 13. vollzogen und wurde zwei Tage später von Hitler auf dem Wiener Heldenplatz verkündet.
Alain Minc, außenpolitischer Berater von Präsident Sarkozy (seine vier Großeltern waren allesamt dem Holocaust zum Opfer gefallen), äußerte mit sinngemäßer Anwendbarkeit auch auf den Anschluß: »Was ist München anderes als die erzwungene Anerkennung des Prinzips, wonach das deutsche Territorium jene Räume integriert, in denen die Volksnation siedelt?« Die fast hundertprozentige Zustimmung zum Anschluß in einer nachträglichen Volksabstimmung kam gewiß nicht in rechtsstaatlicher Weise zustande – eine überwältigende Mehrheit wäre aber jedenfalls erzielt worden. Dafür sprechen auch, als pars pro toto für die beiden bis heute dominierenden politischen Lager Österreichs, einerseits die mit 18. März 1938 datierte Feierliche Erklärung der österreichischen Bischofskonferenz; andererseits das Ersuchen Karl Renners, des sozialdemokratischen ersten Kanzlers Deutschösterreichs, an den neu eingesetzten nationalsozialistischen Bürgermeister Wiens: »Ich möchte sie bitten, daß sie mir die Möglichkeiten verschaffen, entweder in der Zeitung oder in Aufrufen, die man auf Plakaten drucken könnte, die alten Sozialdemokraten Wiens in meinem Namen aufzurufen, am 10. April für Großdeutschland und Adolf Hitler zu stimmen.«
Dennoch fand sich Renner, der schon 1918 erhebliche Geschmeidigkeit unter Beweis gestellt hatte, auch 1945 erst neuerlich als Staatskanzler, dann als Bundespräsident Österreichs wieder, das alsbald starke Absetzbewegungen von seinen deutschen Wurzeln zeigte. Hilfreich war dabei die alliierte Moskauer Deklaration, wonach »Österreich das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte« gewesen sei und die denn auch als Grundlage der »Opferthese« diente. Ende 1945 statuierte ÖVP-Bundeskanzler Leopold Figl in seiner Regierungserklärung, »daß wir kein zweiter deutscher Staat sind, daß wir kein Ableger einer anderen Nationalität jemals waren, noch sein wollen, sondern daß wir nichts anderes sind als Österreicher.« Unter dessen Parteikollegen und Unterrichtsminister Felix Hurdes fand sich in Schulzeugnissen an Stelle des Faches Deutsch nunmehr Unterrichtssprache, vulgo Hurdestanisch.
Diese von oben herab verordnete neue nationale Identität fand im Volk zunächst wenig Widerhall, wie auch zahlreiche Anekdoten belegen: Noch 1966 füllte sich das Wirtshaus einer kleinen Gemeinde im Wiener Umland nach der deutschen Niederlage im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft rasch, weil es, so die hereinströmenden Männer, »zu Hause wegen der heulenden Frauen nicht auszuhalten« sei. Aber auch Politiker wie Victor Adlers Sohn Friedrich, jahrzehntelang Generalsekretär der Sozialistischen Arbeiterinternationalen, konnten mit der neuen Staatsideologie wenig anfangen. Selbst der langjährige »Sonnenkönig« Bruno Kreisky äußerte in seinem letzten Fernsehinterview: »Ich bin ein Deutscher.«
Jörg Haiders Aussage, wonach »die österreichische Nation eine ideologische Mißgeburt gewesen ist, denn die Volkszugehörigkeit ist die eine Sache und die Staatszugehörigkeit die andere«, löste 1988 jedoch bereits einen Skandal aus. Haider hatte schon in den 1970er Jahren als Obmann des Rings Freiheitlicher Jugend eine frühe Migrationsfreundlichkeits-Plakatkampagne aufs Korn genommen, wo ein Kind einen Gastarbeiter in breitem Wienerisch mit Bezugnahme auf die gängige abfällige Bezeichnung für Balkanstämmige fragt: »I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric – Warum sogns’ zu dir Tschusch?« Haider konterte mit »I haaß Müller, du haaßt Müller – Warum sogns’ zu dir Piefke?« Und tatsächlich war inzwischen im Zuge einer langsamen Erosion das allgemeine Bekenntnis zum deutschen Volkstum – durch das Wirken der Druckmedien und einschlägiger universitärer Zeitgeschichtler und so läppischer Elemente wie einschlägigen TV-Dokumentationen und ‑Satireformaten, des teilweise differierenden Küchenvokabulars sowie entsprechend instrumentalisierten Triumphen der »Skination« und problematischen Aspekten des bundesrepublikanischen Massentourismus nach Österreich – gegenüber einem spezifisch österreichischen Nationalbewußtsein in den Hintergrund getreten, das sich gerade über die Abgrenzung zum Nachbarn definierte.
Im Ergebnis entwickelte sich, auch und gerade in Kreisen, die diesbezüglich sonst das Gras wachsen hören, ein geradezu liebevoll gepflegter und durch die Medien verläßlich angefachter legaler »Rassismus« gegen- über den »Piefkes«, insbesondere in der Bundeshauptstadt. Abwasser auf diese Mühlen war dabei eine Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und historischer Unbildung, durch die eine deutschnationale Haltung mit einer Unterordnung unter die BRD gleichgesetzt wurde, obwohl die gesamtdeutsche Musik jahrhundertelang gerade in Wien gespielt hatte.
Die unmittelbar nach dem Regierungseintritt der FPÖ lancierte gegenwärtige Affäre um ohnehin geschwärzte und wohl seit Jahrzehnten nicht mehr gesungene geschmacklose antisemitische Passagen in Liederbüchern zweier Korporationen wurde zum Vorwand einer generellen Hatz auf Burschenschaften und das Dritte Lager insgesamt stilisiert – aufgrund dessen traditionell deutschnationaler Haltung. Deshalb wird dieses nun, ausgerechnet von der berufenen Seite der Sozialdemokratie einschließlich des linksextremen Milieus, des mangelnden Patriotismus geziehen – als ob deren zusätzliches Bekenntnis zu einem größeren Ganzen der insgesamt geradezu vorbildlich staatstragenden Haltung national-freiheitlicher Kreise Abbruch tun würde. Das vorbehaltlose Be- kenntnis der Anderen zum ebenfalls größeren Ganzen einer fälschlich mit Europa gleichgesetzten EU scheint dagegen keine Loyalitätsprobleme aufzuwerfen.
Schmerzlich genug: Durch die drängendere Gefahr der schwindendenden europäischen Identität Europas, verliert das Bekennen zur deutschen Identität Österreichs zusehends an Bedeutung. Dieses Bekenntnis wurde von 1918 über 1938 bis 2018 von der unpolitischen Selbstverständlichkeit zum politischen Offenbarungseid, dann zur Provokation und schließlich zum Skandal.
Der Vollständigkeit halber: Ein Anschluß an die Bundesrepublik, ohnehin seit Menschengedenken selbst von deutschnationalen Österreichern nicht mehr gefordert, wäre in Anbetracht der gegenwärtigen realpolitischen Verfaßtheit des Nachbarstaates gerade für diese eine eher erschreckende Perspektive. Trotzdem und deswegen: »Deutschland. Meine Liebe – Mein Alptraum.«