Guerilla. Wenn Paris kollabiert.

Konrad Markward Weiß im Gespräch mit Laurent Obertone
PDF der Druckfassung aus Sezession 89/April 2019

WEISS: Antai­os hat­te gro­ßen Erfolg mit einer Neu­über­set­zung des Romans Das Heer­la­ger der Hei­li­gen von Jean Ras­pail. Es gibt eini­ge Abschnit­te in Gue­ril­la, die an Ras­pail erin­nern. Ist die­ser Klas­si­ker unum­gäng­lich, wenn man eine in Frank­reich spie­len­de Geschich­te die­ser Art schreibt?

OBERTONE: Zwangs­läu­fig haben wir es alle im Kopf, weil wir es alle gele­sen haben, unab­hän­gig vom jewei­li­gen poli­ti­schen Zugang. Ras­pails Buch erschien 1973 und galt sei­ner­zeit als über­trie­ben, als alar­mis­tisch. Wenn man aber heu­te die Schif­fe mit den Migran­ten sieht, die nach Euro­pa kom­men, ja, zwi­schen Afri­ka und Euro­pa pen­deln, wenn man sieht, wie Euro­pa gespal­ten ist und daß es jeden­falls kei­ne Ent­schlos­sen­heit gegen die Ankunft die­ser Migran­ten gibt, dann hat man wirk­lich das Gefühl, das Heer­la­ger zu durchleben.

Alle mei­ne Leser spre­chen mich dar­auf an, es gibt Bezug­nah­men, auch wenn nicht alles gleich abläuft: Ras­pail war wirk­lich pro­phe­tisch, weil er alles Heu­ti­ge schon vor vier­zig Jah­ren beschrie­ben hat; ich hin­ge­gen beschrei­be etwas, das qua­si aktu­ell ist.

Ich suche die Reak­tio­nen der Prot­ago­nis­ten nicht in der Zukunft, sie exis­tie­ren bereits. Das ist viel­leicht der gro­ße Unter­schied zwi­schen den bei­den Büchern.

WEISS: Sie stel­len jedem der 53 Kapi­tel Ihres Romans ein kur­zes Zitat vor­an, von ganz ver­schie­de­nen Autoren. Sind das Ihre prä­gen­den Lek­tü­ren? Wel­che waren ent­schei­dend, sowohl im Bereich der Lite­ra­tur als auch im Politischen? 

OBERTONE: Die­se Autoren sind nicht zwangs­läu­fig direk­te Beein­flus­ser, aber sie erge­ben ein Gesamt­bild der abend­län­di­schen Kul­tur, die ich im Buch auch zu Ihrem Recht kom­men las­sen woll­te, mit dem Hin­ter­ge­dan­ken, daß die­se Kul­tur durch die gegen­wär­ti­gen Ereig­nis­se ins­ge­samt bedroht ist.

Heu­te haben wir die Ten­denz zu glau­ben, daß alle, die vor uns gewe­sen sind, deut­lich weni­ger gescheit waren als wir, jeden­falls nicht wuß­ten, wo es lang geht, wäh­rend wir das sehr wohl wüß­ten. Ich woll­te zei­gen, daß es einen kul­tu­rel­len Bestand gibt, einen star­ken, sehr hell­sich­ti­gen, der eine schar­fe Auf­fas­sung der Din­ge vermittelt.

Mei­ne lite­ra­ri­schen Ein­flüs­se sind eher klas­sisch: Paul Valé­ry, Saint-Exu­pery, Cioran, Saint-John Per­se – also kei­ne wirk­lich poli­tisch enga­gier­ten Autoren, aber sol­che, die viel dar­über nach­ge­dacht haben, wie man Bot­schaf­ten auf dem Wege der Lite­ra­tur über­mit­teln kann.

WEISS: In Ihrem Best­sel­ler zu Gewalt und Kri­mi­na­li­tät im heu­ti­gen Frank­reich, La France Oran­ge Méca­ni­que, spre­chen Sie viel von »infrac­tions«, was an den Begriff »nui­sance« den­ken läßt, den Renaud Camus geschaf­fen hat – ein prä­gen­der Autor?

OBERTONE: Camus ist jemand, der sehr gut schreibt, viel­leicht sogar ein biß­chen zu gut, um von einem brei­ten Publi­kum gele­sen zu wer­den. Eini­ge Schlag­wor­te wer­den blei­ben, »Gro­ßer Aus­tausch« etwa, alles sehr ein­gän­gig; aber nur sehr weni­ge wer­den sich die Mühe machen, Camus wirk­lich zu lesen.

Natür­lich gehört er zu jenen, die sehr früh erkannt haben, was pas­sie­ren wird (wie Jean Ras­pail) und daß das ent­schei­den­de The­ma des Jahr­zehnts, womög­lich sogar des Jahr­hun­derts der Vor­gang ist, der gera­de abläuft: die Migra­ti­on. Unum­gäng­li­che Refe­ren­zen also.

WEISS: Ich bin zufäl­lig auf Gue­ril­la gesto­ßen, in einer ganz und gar »gewöhn­li­chen« Buch­hand­lung – hat der Erfolg von Oran­ge méca­ni­que auch Sie unum­gäng­lich gemacht, sogar für den kom­mer­zi­el­len Haupt­strom im Buch­han­del, der ein sol­ches Buch ansons­ten kaum auch nur im Sor­ti­ment hätte? 

OBERTONE: Ab dem Zeit­punkt, wo Oran­ge méca­ni­que die­sen Erfolg hat­te, hat sich die Maschi­ne­rie, haben sich die Buch­hand­lun­gen, ein wenig ange­paßt. Natür­lich haben eini­ge von ihnen das Buch trotz­dem nicht ange­bo­ten. Aber der Groß­teil sind ja schlicht Händ­ler, und letz­ten Endes wur­de Oran­ge méca­ni­que recht breit präsentiert.

Das ermög­lich­te ande­ren, dahin­ter­ste­hen­den Büchern – sowohl mei­nen eige­nen als auch jenen mei­nes Ver­lags RING ins­ge­samt – eine gewis­se Auf­merk­sam­keit von Sei­ten jener, die in die­ser Bran­che Ent­schei­dun­gen treffen.

WEISS: Gue­ril­la ist jenen gewid­met, »die nicht ver­stan­den haben« – und zu die­sen muß man wohl ins­be­son­de­re vie­le Medi­en oder das Anti­fa-Milieu zäh­len. Sie ver­wen­den ein Pseud­onym – waren Sie dazu gezwun­gen, auf­grund von Dro­hun­gen die­ser Kreise?

OBERTONE: Ich habe die­ses Pseud­onym gewählt, um wei­ter­hin »unpo­li­tisch« arbei­ten und den­noch poli­ti­sche Gedan­ken dar­le­gen zu kön­nen, die ich im Rah­men der Arbeit als Zei­tungs­jour­na­list nicht haben durf­te. Nach Oran­ge méca­ni­que hat mir das Pseud­onym gehol­fen, weil mir die­ser nüch­ter­ne Bericht über die Explo­si­on der Gewalt in Frank­reich tat­säch­lich Dro­hun­gen ein­ge­bracht hat; und so war es gut, mei­ne öffent­li­che Per­son von der pri­va­ten zu trennen.

WEISS: In Gue­ril­la schrei­ben Sie auch über eine Blog­ge­rin, die sich ver­zwei­felt um eine Reinter­pre­ta­ti­on der eigent­lich erdrü­cken­den Fak­ten und Rea­li­tä­ten bemüht, deren Opfer sie spä­ter selbst wird … 

OBERTONE: Die­se Krei­se, die ich in mei­nem Buch in gewis­ser Wei­se kari­kie­re, reprä­sen­tie­ren die poli­ti­sche Kor­rekt­heit, das »Wohl­den­ken­ken«. Sie leben von der Behaup­tung, eine höher­wer­ti­ge Inter­pre­ta­ti­on der Din­ge zu besit­zen, die dem gesun­den Men­schen­ver­stand weit über­le­gen sei, der eher dem nied­ri­gen Volk zuge­rech­net wird; sie kon­sta­tie­ren die Fak­ten zwar, aber sie leug­nen und umschif­fen sie und tun so, als ob man zu einem völ­lig ande­ren Schluß kom­men müsse.

Die­se Men­schen schwe­ben in gewis­ser Wei­se über den Rea­li­tä­ten, weil sie die finan­zi­el­len Mit­tel haben, den unan­ge­neh­men Kon­se­quen­zen der Rea­li­tät zu ent­ge­hen. Sie leh­nen es ab, egal wie deren Taten auch sein mögen, »Indi­vi­du­en zu stig­ma­ti­sie­ren«; im Gegen­teil, man ist außer­or­dent­lich groß­zü­gig, sehr offen, man zeigt es auch und zieht dar­aus sei­nen Stolz, sein Überlegenheitsgefühl.

Die­se Spe­zi­es ist in Frank­reich sehr ver­brei­tet – frü­her oder spä­ter wird aber auch die­se Uto­pie auf die Rea­li­tät sto­ßen und die­ser Schock wird, wie im Buch beschrie­ben, sehr hef­tig werden.

WEISS: Ein sehr wich­ti­ger Begriff in ihrem Buch und in Frank­reich ins­ge­samt ist das viv­re ensem­ble, aus dem bei Ihnen spä­ter das bien viv­re ensem­ble und dann das tres bien viv­re ensem­ble wird. Bit­te erklä­ren Sie die­sen Begriff.

OBERTONE: Zusam­men­le­ben, gutes Zusam­men­le­ben, vor­züg­li­ches Zusam­men­le­ben – das sind Begrif­fe, die es frü­her nicht gab, weil man sie nicht brauch­te. Denn wenn das Zusam­men­le­ben funk­tio­niert, braucht man es nicht zu pos­tu­lie­ren und zu beschwö­ren: Die Leu­te leben zusam­men, weil sie das­sel­be Leben tei­len und soli­da­risch sind, das ist dann ganz normal.

All die­se Begrif­fe, auch der Citoy­en, der jetzt stän­dig beschwo­ren wird: Das waren Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten, und erst spä­ter muß­te man unter dem Druck der sich ver­schlech­tern­den Rea­li­tä­ten gewis­se beschwich­ti­gen­de Ter­mi­ni ein­füh­ren. Wenn man fest­setzt, daß viv­re ensem­ble etwas Groß­ar­ti­ges ist, gibt es da eben auch den Sub­text, der besagt, daß es da ein Pro­blem gege­ben haben muß, dem man durch die­se Beschwö­rungs­for­meln begeg­nen wollte.

WEISS: Viv­re ensem­ble ist also ein Begriff, der in den Medi­en, in der Poli­tik, wirk­lich benutzt wird?

OBERTONE: Er ist sogar einer der fun­da­men­ta­len Begrif­fe des poli­ti­schen Dis­kur­ses: Da gibt es die »valeurs de la Répu­bli­que« und eben das viv­re ensem­ble, das sind ech­te Man­tras. Sie wer­den mas­siv ein­ge­setzt und haben viel­leicht tat­säch­lich eine beru­hi­gen­de oder sogar hyp­no­ti­sche Wir­kung auf das Auditorium.

Es wird uns ja immer gesagt, daß die Ein­wan­de­rung qua­si unver­meid­lich sei, ein natür­li­ches Phä­no­men, daß es der­glei­chen schon immer gab und man es daher akzep­tie­ren müs­se, und außer­dem sei sie ja auch noch eine Chan­ce für alle. Gleich zwei gute Grün­de also, sich zu öff­nen und zusammenzuleben.

In viv­re ensem­ble schwingt aber eben auch mit, daß es kein wirk­li­ches viv­re ensem­ble gibt, daß jeder in sei­ner Gemein­schaft bleibt und jene viel­be­schwo­re­nen Brü­cken, die alle berei­chern sol­len, gar nicht existieren.

WEISS: Sie selbst haben sich jeden­falls schon in die »Real­po­li­tik« gestürzt und einen Auf­ruf an die dama­li­ge Jus­tiz­mi­nis­te­rin Tau­bi­ra gerich­tet, bezüg­lich nicht ver­häng­ter oder ver­büß­ter gericht­li­cher Stra­fen. Wor­um ging es dabei?

OBERTONE: Man muß wis­sen, daß in Frank­reich das Straf­recht, sprich das Gesetz, nicht mehr wie vor­ge­se­hen ange­wen­det wird. Wenn sie irgend­ei­nem Ver­fah­ren bei­woh­nen, wer­den Sie fest­stel­len, daß Ver­ge­wal­ti­gung zwar mit 15 Jah­ren Gefäng­nis und 75.000 EUR Geld­stra­fe zu bestra­fen ist, der Straf­an­trag des Staats­an­wal­tes die­se Höchst­gren­ze aller­dings nie erreicht.

Es wird sich immer um zehn Jah­re han­deln, ohne Geld­stra­fe, und der Rich­ter wird dann häu­fig auf ein Straf­aus­maß befin­den, das wie­der­um unter­halb des Straf­an­trags liegt, auf sie­ben Jah­re im All­ge­mei­nen. Die Per­son, die ins Gefäng­nis soll, hat anschlie­ßend mit einem »Straf­voll­zugs­rich­ter« zu tun, der dar­über ent­schei­det, in wel­cher Wei­se die Gefäng­nis­stra­fe absol­viert wird.

Meist wird die­ser einen Teil der Stra­fe auf das Tra­gen einer Fuß­fes­sel beschrän­ken. Und gera­de­zu auto­ma­tisch wird der Häft­ling schließ­lich von einem Straf­er­laß pro­fi­tie­ren. Aus vier wer­den zwei oder drei Jah­re. Auf die­se Wei­se wer­den all­jähr­lich unzäh­li­ge Gefäng­nis­stra­fen nicht exe­ku­tiert – sonst wären die Gefäng­nis­se völ­lig überfüllt.

Aber man lehnt es ab, Gefäng­nis­se zu bau­en und die Stra­fen zu voll­zie­hen, denn die dar­über­lie­gen­de Ideo­lo­gie sagt, daß man den Tätern eine zwei­te, drit­te oder vier­te Chan­cen geben müs­se. Die Bevöl­ke­rung ver­langt sicher sehr nach har­ten Stra­fen, aber das Milieu der Ent­schei­dungs­trä­ger, die Gesetz­ge­ber also, die Medi­en, sind ein pro­gres­sis­ti­sches Milieu, das in die umge­kehr­te Rich­tung strebt.

Die Idee einer Bestra­fung exis­tiert im Grun­de über­haupt nicht mehr, man spricht nicht mehr davon, den Täter von der Gesell­schaft zu tren­nen, um die­se zu schüt­zen, son­dern dar­über, ihm zu hel­fen, ihn zu ver­ste­hen und ihn zu beglei­ten. Ich woll­te, indem ich die Jus­tiz­mi­nis­te­rin zur Rede gestellt habe, den Bür­gern ermög­li­chen, die Rea­li­tät wahrzunehmen.

WEISS: Gab es eine Reaktion? 

OBERTONE: Nein, natür­lich nicht, weil das ja wirk­lich zwei ver­schie­de­ne Wel­ten sind – Wel­ten, die ein­an­der igno­rie­ren. Man kann bei der poli­tisch kor­rek­ten Welt nach­fra­gen, so viel man möch­te, sie ist von ihrem rei­nen Gewis­sen über­zeugt und betrach­tet uns als die Inkar­na­ti­on des Bösen, daher gibt es kei­nen Dialog.

Das ist es aber, was ich mit mei­nen Büchern ver­su­che: einen Bin­de­strich zwi­schen die­se bei­den Wel­ten zu set­zen und davor zu war­nen, daß die Bevöl­ke­rung ihre Ansich­ten immer mehr radi­ka­li­sie­ren wird, gegen­über den Migran­ten, den Kri­mi­nel­len und sogar gegen­über die­ser Oberschicht.

Und die­se Ober­schicht wird ihrer­seits eben­falls ihre Ansich­ten radi­ka­li­sie­ren und dar­auf behar­ren, die Migran­ten sei­en Hei­li­ge, und sie sei­en – wie die Kri­mi­nel­len – Opfer der Gesell­schaft, die unte­ren auto­chtho­nen Bevöl­ke­rungs­schich­ten jedoch glü­hen­de, kul­tur­lo­se Rassisten.

WEISS: Sie erwäh­nen in Gue­ril­la auch einen Arzt, der ver­stan­den hat, wie die Din­ge lau­fen – und trotz­dem gezwun­gen ist, stän­dig die Wun­den zu hei­len, die das viv­re ensem­ble geschla­gen hat. Haben Sie die Hoff­nung, daß jene, die beruf­lich mit den heu­ti­gen Rea­li­tä­ten kon­fron­tiert sind, irgend­wann aus der Schwei­ge­spi­ra­le aus­bre­chen werden? 

OBERTONE: Die­se Leu­te gehö­ren eben trotz ihres Wis­sens um die Rea­li­tä­ten einem Milieu an, das ihre Wor­te sehr genau beob­ach­tet und eine Anpas­sung an den herr­schen­den Dis­kurs von ihnen ver­langt. Die­se Leu­te den­ken sich: Ich habe vier­zig Jah­re damit zuge­bracht, die Kar­rie­re­lei­ter hin­auf­zu­stei­gen, ich wer­de nicht von heu­te auf mor­gen das aus­spre­chen, was mich sofort abstür­zen las­sen wird.

Dem­sel­ben Phä­no­men begeg­net man bei den Medi­en. Ich bin sogar bekann­ten Jour­na­lis­ten gro­ßer Medi­en begeg­net, die im Grun­de mit allem über­ein­stimm­ten, was ich sage – aber aus­spre­chen kön­nen sie es nicht. Es ist ein biß­chen wie bei einem Sar­di­nen­schwarm – eine könn­te kehrt­ma­chen, und viel­leicht fol­gen die ande­ren – aber wer wird die­se eine sein?

WEISS: Die Geschich­te von Gue­ril­la beginnt in Cour­neuve – ein rea­ler oder ima­gi­nä­rer Ort? 

OBERTONE: Ein rea­ler Ort, im Depar­te­ment 93, jenem mit der höchs­ten Kri­mi­na­li­tät und den kras­ses­ten Sozi­al­pro­ble­men. Die Ban­lieue-Sied­lung Cité Tau­bi­ra selbst ist fik­tiv, aber in Cour­neuve gibt es die »Cité der 4000«, die sehr bekannt ist, als Hort über­bor­den­der Kriminalität.

Für die Poli­zei ist es sehr gefähr­lich, die­se Sied­lung auch nur zu betre­ten; wenn sie es tut, dann früh am Mor­gen, mit einer beein­dru­cken­den Zahl von Fahr­zeu­gen, um nicht die Art Schwie­rig­kei­ten zu bekom­men, die im Buch die Ket­te der Ereig­nis­se in Gang setzt.

WEISS: In den deutsch­spra­chi­gen Län­dern ist Ban­lieue mehr oder weni­ger zu einem Syn­onym für Paris gewor­den – wie ist die Situa­ti­on anders­wo in Frankreich? 

OBERTONE: In Lyon gab es in den 80er Jah­ren die aller­ers­ten Auf­stän­de, brann­ten die ers­ten Autos, gab es die ers­ten Zusam­men­stö­ße zwi­schen der Poli­zei und Jugend­li­chen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund – man ver­stand damals gar nicht, was eigent­lich passierte.

Dann wur­de neben Mar­seil­le vor allem Paris zum Epi­zen­trum. Der gesam­te Pari­ser Ban­lieue-Gür­tel ist ein Pul­ver­faß, wie man 2005 gese­hen hat: Die­se Auf­stän­de ver­brei­ten sich rasch, sie wer­den von ande­ren Quar­tie­ren auf­ge­nom­men, es gibt eine Art Wettlauf.

Ich sage nicht, daß sie mono­li­thisch sind, es gibt Riva­li­tä­ten von einem Vier­tel zum ande­ren, von einem Hoch­haus zum ande­ren. Man kann nicht von »der Ban­lieue« gegen die Poli­zei spre­chen. Aber es gibt jeweils Stütz­punk­te, gehal­ten im Wesent­li­chen vom Dro­gen­han­del, die sich gegen jede Form von Auto­ri­tät erhe­ben und gegen jeden Rivalen.

Und sie fin­den inzwi­schen auch in allen mitt­le­ren und sogar klei­nen Städ­ten das Phä­no­men des Dro­gen­han­dels; nach­dem die Zuwan­de­rer von den Behör­den nach und nach auf Mit­tel- und Klein­städ­te ver­teilt wur­den, dürf­te es auch einen direk­ten Zusam­men­hang mit der Ver­schlech­te­rung der Sicher­heits­la­ge in vie­len Klein­städ­ten geben, die bis­her von die­sen Phä­no­me­nen ver­schont geblie­ben waren.

WEISS: Bit­te erklä­ren Sie die­se Zusam­men­hän­ge für den deutsch­spra­chi­gen Leser – Reli­gi­on, Fami­lie, Clans, aber auch die berüch­tig­ten soge­nann­ten »caïds«.

OBERTONE: In einer sol­chen Ban­lieue-Sied­lung, »Cité« genannt, ver­su­chen die Bewoh­ner nicht wirk­lich, sich sozi­al zu inte­grie­ren. Sie bezie­hen Sozi­al­hil­fe und leben nur inner­halb ihrer eige­nen Grup­pe, in der sie sich einen Ruf zu erar­bei­ten ver­su­chen, und das erfolgt dort nun ein­mal vor­wie­gend über kri­mi­nel­le Akte wie Dro­gen­han­del. Mit wach­sen­dem Erfolg nimmt auch der Respekt zu, im Gefäng­nis eben­so, das letzt­lich nur eine Art Erwei­te­rung der Ban­lieue dar­stellt, weil sich dort fast alle wie­der­be­geg­nen und die­sel­ben Ban­den­phä­no­me­ne aus­bil­den wie draußen.

Die­je­ni­gen nun, die in die­sem Milieu beson­de­ren Respekt genie­ßen, nennt man caïds. Das sind also die­je­ni­gen, die einen höhe­ren Pro­fit aus Dro­gen­han­del, Pro­sti­tu­ti­on und­so­wei­ter ein­strei­chen und die Netz­wer­ke lei­ten, eine Art rudi­men­tä­res Mafia-System.

Man­che von ihnen haben sogar klei­ne »Armeen«, die bereit sind, ihnen zu Hil­fe zu kom­men, wenn sie im Gefäng­nis sind. Einem caïd, der wegen Mor­des an einer Poli­zis­tin vor Gericht stand, haben sei­ne Kom­pli­zen mit Hil­fe von Spreng­stoff zur Flucht verholfen.

Kurz gesagt: In allen grö­ße­ren fran­zö­si­schen Städ­ten eta­bliert sich inzwi­schen eine Art Gegenherrschaft.

WEISS: In Gue­ril­la spre­chen Sie von zehn Mil­li­ar­den Euro »Repa­ra­ti­ons­zah­lun­gen«, die einer der isla­mi­schen Anfüh­rer for­dert, der »von der Dro­hung mit dem Cha­os lebt«; in dem Moment, wo tat­säch­lich Cha­os aus­bricht, ist sein Geschäfts­mo­dell beendet. 

Dem Phä­no­men begeg­net man auch in Hou­el­le­becqs Unter­wer­fung, wo die­ser eben­falls von einer Art Erpres­sung des Staa­tes spricht, der gezwun­gen ist, alle ein­schlä­gi­gen mus­li­mi­schen Ver­ei­ni­gun­gen immer stär­ker zu ali­men­tie­ren – dort gelangt sogar eine mus­li­mi­sche Par­tei an die Macht. 

Steht eine Muslim­par­tei in Frank­reich bevor, oder bleibt es bei dem Sys­tem der Ali­men­tie­rung zwecks Ruhigstellung?

OBERTONE: Man spricht schon seit eini­gen Jah­ren dar­über, es gab Ver­su­che, aber bis heu­te haben mus­li­mi­sche Par­tei­en, wenn über­haupt, nur lokal funk­tio­niert, und selbst dort nicht wirk­lich gut. Viel­leicht gibt es unter den Ima­men auch die Über­le­gung, daß es bes­ser sei, kei­ne direk­te poli­ti­sche Kon­fron­ta­ti­on zu schaf­fen, son­dern wei­ter­hin Kräf­te zu sam­meln, indem man durch mehr oder weni­ger offe­ne Erpres­sung von Sub­ven­tio­nen immer stär­ker wird.

Viel­leicht hält man das für sinn­vol­ler als eine Par­tei, deren Anfüh­rer Erklä­run­gen abge­ben wür­den, die für die Öffent­lich­keit viel zu radi­kal wären.

WEISS: In Ihrem Buch gibt es vie­le gewalt­tä­ti­ge Sze­nen, eine der bru­tals­ten ist jene, wo die iden­ti­tä­ren Akti­vis­ten von der Poli­zei ein­ge­kes­selt und zusam­men­ge­schla­gen wer­den. Sie spre­chen recht aus­gie­big von die­ser Bewe­gung – sind Sie ein Unter­stüt­zer oder Fürsprecher? 

OBERTONE: Ich gehö­re kei­ner poli­ti­schen Bewe­gung an und glau­be, daß es ent­schei­dend ist, eine sehr unab­hän­gi­ge Sicht der Din­ge zu haben. Ab dem Zeit­punkt, wo man ein Nahe­ver­hält­nis hat, wird man nicht mehr als Bericht­erstat­ter über Fak­ten betrach­tet, son­dern als Parteigänger.

Des­we­gen infor­mie­re ich mich über alle poli­ti­schen Bewe­gun­gen, wer­de mich ihnen aber nie­mals anschlie­ßen. Ich ken­ne also die­ses Milieu, sehe wie es sich ent­wi­ckelt, sich an neue Situa­tio­nen anpaßt und es wird häu­fig, trotz manch­mal recht bana­ler Aktio­nen, von den Medi­en benutzt, um zu pro­pa­gie­ren »seht her, die rechts­extre­me Bedro­hung ist immer noch da!«.

So ist es für die Iden­ti­tä­ren sehr schwer zu bestehen: Sie pro­vo­zie­ren, wis­sen aber, daß die Pro­vo­ka­ti­on gegen sie benutzt wer­den wird – was sie in ihren Aktio­nen recht einschränkt.

WEISS: Spre­chen wir über Deutsch­land. In Gue­ril­la gibt es einen »Mer­kel-Platz«, spä­ter beklagt sich jemand, daß es ein wei­ter Weg gewe­sen sei von »Heil Hit­ler« zu »Refu­gees Wel­co­me«, aber die Ergeb­nis­se sich in einem glei­chen wür­den: einer von Deutsch­land aus­ge­hen­den Beset­zung des fran­zö­si­schen Ter­ri­to­ri­ums. Beob­ach­ten Sie die Situa­ti­on in der BRD? 

OBERTONE: Da Deutsch­land für die rest­li­che Welt das Böse schlecht­hin inkar­niert hat, kann die BRD heu­te nicht anders, als in Sachen Will­kom­mens­kul­tur viel mehr als alle ande­ren zu tun. Dort ist das Gewis­sen am Werk, womög­lich fühlt sich jeder Deut­sche his­to­risch schul­dig und muß daher der Ers­te sein, der die­se Men­schen aufnimmt.

Man hat aber doch den Ein­druck, daß die öffent­li­che Mei­nung nicht völ­lig betäubt ist, son­dern daß es Reak­tio­nen gibt: eine neue Par­tei etwa, eine poli­ti­sche Reak­ti­on also, die vor ein paar Jah­ren noch unvor­stell­bar gewe­sen wäre. Das Buch von Thi­lo Sar­ra­zin und des­sen erstaun­li­cher Erfolg ist auch ein Zeichen.

Es gibt also doch ein Bedürf­nis in der Bevöl­ke­rung, sich ander­wei­tig zu infor­mie­ren und dar­über nach­zu­den­ken, ob das eige­ne Ver­schwin­den wirk­lich die ein­zi­ge Opti­on ist.

WEISS: Redu­ziert es Ihre Hoff­nung nicht, wenn Sie sehen, daß trotz allem, was 2015 und seit­dem gesche­hen ist, noch immer 87 Pro­zent der deut­schen Wäh­ler für den ein­wan­de­rungs­freund­li­chen Par­tei­en­block stimmen? 

OBERTONE: Tat­säch­lich gibt es eine sehr star­ke Kon­di­tio­nie­rung der euro­päi­schen Völ­ker, ein sehr star­kes Schuld­be­wußt­sein, so daß »falsch« zu wäh­len schon ein sehr schwie­ri­ger Akt gewor­den ist, fast sogar phy­sisch. Wenn man dar­über mit Fran­zo­sen spricht, bedeu­tet eine ande­re Wahl für sie eine ech­te Wen­de, sie ste­hen inner­lich dann qua­si schon mit einem Bein in der Unter­welt, so stark sind sie von den Medi­en ein­ge­schüch­tert und konditioniert.

Erst recht ist das in Deutsch­land so, mit sei­ner Ver­gan­gen­heit, von der man sich um jeden Preis rein­wa­schen muß. Was Sar­ra­zin getan hat, war außer­ge­wöhn­lich, denn er hat­te ja etwas zu ver­lie­ren. Übli­cher­wei­se kön­nen nur jene spre­chen, die nichts zu ver­lie­ren haben.

WEISS: Gegen Ende beschrei­ben Sie die wei­te­re Ent­wick­lung in sehr dys­to­pi­scher Wei­se, die­se Pas­sa­ge erin­nert unter ande­rem stark an The Road von Cor­mac McCar­thy, wo ein schlich­ter Strom­ge­ne­ra­tor, Lebens­mit­tel­vor­rä­te etc. auf ein­mal größ­te Bedeu­tung gewin­nen – und das ist es ja auch, was immer mehr Men­schen heu­te vor­se­hen, die soge­nann­ten »Prep­per«. Ken­nen Sie die­se Bewe­gung oder rüs­ten Sie sich viel­leicht sogar selbst auf die­se Weise? 

OBERTONE: Ich selbst bin nicht so, aber die­se bei uns »sur­vi­va­lis­tes« genann­te Bewe­gung hat eine erheb­li­che Bedeu­tung gewon­nen. Bis jetzt ist es für den Bür­ger der zivi­li­sier­ten Gesell­schaft eine Selbst­ver­ständ­lich­keit: nach Hau­se kom­men, Fern­se­her an, Kühl­schrank auf.

Nun neh­men aber Befürch­tun­gen zu, wonach ein all­ge­mei­ner Zusam­men­bruch sehr schnell ein­tre­ten könn­te, etwa dann, wenn kein Strom mehr da ist: Kom­mu­ni­ka­ti­on, Hei­zung, Hilfs- und Sicher­heits­or­ga­ni­sa­tio­nen, und plötz­lich ist jeder auf sich selbst und sei­ne Fami­lie zurückverwiesen.

Ich habe das in Gue­ril­la ja beschrie­ben. Es gibt nun tat­säch­lich Leu­ten, die mei­nen, sich für sol­che Fäl­le bes­ser rüs­ten zu müs­sen, was wie­der­um ein Zei­chen dafür ist, daß etwas ins Rut­schen gera­ten ist. Für mich sind sol­che Befürch­tun­gen Vor­zei­chen gro­ßer Probleme.

WEISS: Soweit sind Sie aber nun auch nicht von einer der Zukunfts­pro­gno­sen über­zeugt, daß Sie womög­lich für sich selbst schon eine Wahl getrof­fen hätten? 

OBERTONE: Das Sze­na­rio von Hou­el­le­becq hat eine gewis­se Wahr­schein­lich­keit; die Leu­te von den Nach­rich­ten­diens­ten wer­den Ihnen sagen, der­glei­chen kön­ne ohne Wei­te­res in zwei Jah­ren pas­sie­ren, oder in 15 oder in 40 oder aber über­haupt nicht; und ande­re Fak­to­ren könn­ten auf­tre­ten, an die man heu­te noch gar nicht denkt.

In mei­nem Buch ist es ein sozia­ler, es könn­te aber auch ein wirt­schaft­li­cher Aus­lö­ser sein, den­ken Sie nur an die Ben­zin­steu­er und die Gelb­wes­ten! Uns allen bleibt nicht viel ande­res übrig, als bezüg­lich der Zukunft Wet­ten abzu­ge­ben, ohne unse­re Erfolgs­aus­sich­ten zu kennen.

WEISS: Also tei­len Sie nicht die Ansicht einer Ihrer Figu­ren, die sagt: »Sie brau­chen gar nicht zu gewin­nen, weil wir schon ver­lo­ren haben«?

OBERTONE: Unter den Fort­schritts­gläu­bi­gen gibt es eine gewis­se Auf­op­fe­rungs­be­reit­schaft. Ich den­ke, daß vie­le von ihnen die Pro­blem­la­ge begrif­fen haben und nicht mehr davon aus­ge­hen, daß die Din­ge so ver­lau­fen, wie man es sich vor­ge­stellt hat – aber ihre Selbst­ach­tung, ihre Iden­ti­tät, all das hängt von ihrer unbe­ding­ten Gesin­nungs­treue ab; selbst wenn sie also sehen, daß es nicht funk­tio­nie­ren kann, wol­len sie die Idee nicht aufgeben.

Mehr Staat, mehr Sozi­al­hil­fe, mehr Umver­tei­lung, mehr Ein­wan­de­rung – irgend­wann klappt es. Es ist wie mit der kom­mu­nis­ti­schen Dok­trin oder schon wäh­rend der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on: Da brauch­te es immer mehr Mili­tanz, immer mehr Gesin­nungs­treue, denn irgend­wann wür­de alles gut werden.

Aber die­ser Zeit­punkt liegt immer in der Zukunft und nicht im Heu­te – das klas­si­sche Kenn­zei­chen der Uto­pie, die für Fak­ten undurch­läs­sig ist. Daher die Bereit­schaft, mög­lichst weit zu gehen, was auch immer geschieht, und ich den­ke nicht, daß die­se Leu­te jemals ihren fun­da­men­ta­len Irr­tum zuge­ben und alles, was sie aus­macht, in Fra­ge stel­len werden.

Die Fra­ge ist, wann der Durch­schnitts­bür­ger, der den nega­ti­ven Begleit­erschei­nun­gen die­ses »immer wei­ter« aus­ge­setzt ist, umschwen­ken wird. Wenn er fern­sieht, sieht er, daß 95 Pro­zent der Leu­te dort das Gegen­teil von dem sagen, was er selbst denkt, gera­de hin­sicht­lich der Immigration.

Er ist also in sei­nem eige­nen Land fast ein Frem­der, aber wann er bereit sein wird, jene Sou­ve­rä­ni­tät, die man ihm genom­men hat, wie­der zurück­zu­er­obern, kann ich nicht sagen.


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