Daß auf die Covid19– / Corona-Pandemie eine ökonomische Zäsur folgen wird, nach der die globale Wirtschaftssituation eine andere sein wird, kann nach einigen Monaten Virusberichterstattung als Allgemeinplatz gelten. Daniel Stelter nutzt diesen erwartbaren wirtschafts- und sozialpolitischen Einschnitt, um seine – durchaus bekannten – Analysen zu Europäischer Union, Eurorettung, Schulden- und Investitionspolitik mit aktuellen Geschehnissen zu koppeln.
Der Vorteil des Vorgehens liegt auf der Hand: Der renommierte Makroökonom und Blogger (think:beyondtheobvious.com) kann anhand einer Krise, die alle Menschen treffen oder zumindest berühren wird, seine eigenen Thesen plastisch darlegen und an einigen Stellen mit anschaulichen Beispielen und Zahlen unterfüttern.
Der Nachteil ist ebenso evident: Denn auch Stelter kann nicht in die Zukunft blicken, und so bleibt manches an seiner flott publizierten Studie Coronomics naturgemäß vage und spekulativ, weil man mit dem Buch womöglich die entstehende Marktlücke des Coronakrisenratgebers eilig schließen wollte.
Daß das Buch als Ganzes indes einigermaßen lesenswert ist, liegt daher eher am analytischen Überblickscharakter und weniger an der verheißungsvollen Prognose, die im Untertitel Nach dem Corona-Schock: Neustart aus der Krise anklingt. Stelter legt allgemeinverständlich und mit klugen Praxiserläuterungen dar, weshalb schon 2019 der deutsche Industriesektor – und damit die ganze Bundesrepublik – nur knapp einer Rezession entging, weshalb das Virus also auf eine geschwächte Wirtschaft traf, die sich auf dem Weg in den Abstieg befand. Die Gemengelage aus hohen Schulden, geringem Eigenkapital und zunehmender Spekulation war real, bevor Corona nach Deutschland und Europa kam; das Virus, hebt Stelter mit Daten, Tabellen und Statistiken hervor, legte »die chronische Krankheit einer Wirtschaft offen, die zunehmend auf Spekulation anstelle von Investitionen setzt«.
Es mag auch an diesen derzeit herrschenden Mängeln ökonomischer Akteure und Strukturen liegen, daß sich bereits vor den durch Corona evozierten Unsicherheiten des Arbeitsmarkts und der Lebensführung ein Großteil der Deutschen eine größere, gestaltende Rolle des Staates wünschte. Stelter, der selbst eher marktliberalen Positionen nahesteht, verweist auf entsprechende Erhebungen, nach denen Deutsche besagtes verstärktes Agieren des Staates einforderten – und sieht diesen Umstand als Gegner weiterer staatlicher Interventionen kritisch.
Für den Neuanfang nach der einschneidenden Krise, so viel sei verraten, hat Stelter nicht allzuviel Handfestes parat. Seine Idee beispielsweise, die Schulden der einzelnen europäischen Staaten durch einen radikalen Schnitt auf ein gleiches Level zu bringen, von dem aus dann alle Akteure einen ähnlichen Neubeginn wagen könnten, ruft mannigfaltige Einwände hervor, die den Rahmen einer kurzen Besprechung sprengen würden; man denke allein an die ungleiche Vermögensverteilung der Privathaushalte, die im EU-weiten Vergleich insbesondere zuungunsten der Deutschen ausfällt.
Ausreichend ist es aber, diesen Beispielvorschlag mit Stelters eigener Analyse abzugleichen – und bereits hier wird es bei genanntem Einzelbeispiel widersprüchlich. Denn Stelter führt ja selbst die divergierenden Vermögensverhältnisse als Kritikpunkt am Euroraum ein, wobei ausgerechnet die chronischen Krisenländer Italien und Spanien hohe Vermögenskonzentrationen an der Spitze aufweisen. Eine Entschuldung Italiens und Spaniens – um beim Beispiel zu bleiben – auf dasselbe Niveau wie Deutschland scheint unsinnig, wenn zugleich die private Vermögensspreizung (zulasten Deutschlands) erhalten bleibt, während die Oberschicht Italiens und Spaniens ihre Besitztümer unangetastet sähe. Diese saturierten besitzenden Klassen der Krisennationen aber endlich auch gemeinschaftlich in die Pflicht zu nehmen (anstatt den deutschen, österreichischen oder dänischen Steuerzahler aus der Normalbevölkerung), hält Stelter für irreal. Wieso dies nicht durchsetzbar sein soll, ein gesamteuropäischer Schuldenschnitt und finanzpolitischer Reset des Euroraums aber schon, bleibt ungeklärt.
Merkwürdig ist auch, daß Stelter trotz seiner fundierten Kritik der Merkel-Regierung, der Euro-Rettungspolitik und der fehlenden Vermögensbildung des deutschen Durchschnittsbürgers keine systemischen Probleme wahrhaben möchte. Die »Systemfrage«, räumt der Autor ein, liege zwar im Westen nun auf dem Tisch. Doch beantwortet er sie mit einer Apologie der »offenen Gesellschaft«, die nun endlich »beweisen« müßte, daß sie mit China und Co., ihren autoritären Gegenspielern, bei der Krisenlösung effektiv konkurrieren könnte. Wie ausgerechnet eine offene Gesellschaft Sicherheit und Stabilität nach dem »Corona-Schock« gewähren soll, bleibt derweil Daniel Stelters Geheimnis.
Coronomics von Daniel Stelter kann man hier bestellen.